Cover
Titel
Die Affäre Kießling. Der größte Skandal der Bundeswehr


Autor(en)
Möllers, Heiner
Erschienen
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Kiani, Centre Marc Bloch, Berlin

In Form einer dichten und detaillierten Chronologie zeichnet das Buch „Die Affäre Kießling“ den „größten Skandal der Bundeswehr“ nach. Dabei erweist sich der Historiker Heiner Möllers als ein hervorragender Autor, der Personen und Situationen so lebendig darzustellen weiß, dass mitunter der Eindruck eines Thrillers entsteht. Im Schnittfeld von Politik-, Militär- und Elitengeschichte angesiedelt, hätte dieses Buch von Forschungen über die Geschichte der Männlichkeiten und Sexualitäten noch zusätzlich profitieren können.1

Zwischen Herbst 1983 und Frühlingsbeginn 1984 geriet Günter Kießling, stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber Europa, in den Mittelpunkt einer Affäre, auf die sich die bundesdeutsche Presse wie auf ein gefundenes Fressen stürzte. Kießling wurde der Homosexualität „verdächtigt“ und Ende 1983, nach einem wenig ernstzunehmenden Schnellverfahren und obwohl er seine vermeintliche Homosexualität kategorisch abstritt, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt – ohne Großen Zapfenstreich, auf den er als General seines Ranges eigentlich Anspruch gehabt hätte. Um den Jahreswechsel ließ die Affäre Kießling, die immer mehr zur Affäre Kießling-Wörner wurde, mehrere „Hauptdarsteller“ in Erscheinung treten, darunter Verteidigungsminister Manfred Wörner, US-General und NATO-Oberbefehlshaber Bernard William Rogers, Wolfgang Altenburg, Generalinspekteur der Bundeswehr, Joachim Hiehle, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Hans Kubis, dortiger Personalchef, sowie Kießling selbst. Zu ihnen gesellten sich mehr oder weniger zweitrangige Darsteller, eine Handvoll Journalisten, politische Parteien und Bundeskanzler Helmut Kohl höchstpersönlich.

Möllers untersucht die Fakten, geht zugleich auf die Figurenpsychologie im Handlungsverlauf ein und wendet Mikrogeschichte an: Tag für Tag analysiert er die Affäre in ihrer ganzen Komplexität. Nicht immer kann er Licht ins Dunkel bringen, schlägt jedoch Hypothesen vor. Aus dem Blickwinkel der Affäre lässt sich sehr gut nach dem (Nicht-)Funktionieren von Politik und Militär in Westdeutschland während des Kalten Krieges fragen, aber auch danach, wie es sein kann, dass Homosexualität zwar seit 1969 in der Bundesrepublik nicht mehr generell unter Strafe stand2, aber gleichwohl weiterhin ein gesellschaftliches Stigma bedeuten konnte.

Möllers’ Recherche stützt sich vorwiegend auf Bestände des Bundesarchiv-Militärarchivs, insbesondere das unveröffentlichte Manuskript „Meine Entlassung“ – ein Tagebuch Kießlings, das in Teilen seiner 1993 veröffentlichten Autobiografie „Versäumter Widerspruch“ als Vorlage diente –, auf Interviews, Ego-Dokumente, Presseartikel und Sekundärliteratur, die Möllers als „übersichtlich“ einstuft (S. 326). Manche Leser/innen mögen es bedauern, dass der Autor seine Quellen nicht in einer Einführung näher kommentiert. Insgesamt fehlen Erläuterungen zu Quellen und Methodologie, vermutlich um die Lektüre des Buches einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, was aus wissenschaftlicher Sicht wiederum schade ist.

Der erste Teil führt wie im Zeitraffer – und mit einer „Vorwarnung“ an diejenigen, die nicht mit der Affäre vertraut sind, dass sie mit der Rehabilitierung Kießlings endete – zu ihrem Ausgang mit dem Großen Zapfenstreich am 26. März 1984, „Kießlings Triumph“. Die Journalisten beobachteten das Tun und Treiben der Hauptakteure der Zeremonie und ergötzten sich besonders an den Körperhaltungen, den realen oder vermeintlichen Gefühlen Kießlings und der Kommunikation zwischen Wörner und Kießling.

Der zweite und dritte Teil bilden den Kern des Werks. Das Kapitel „Vom Werden einer Affäre“ liefert den Kontext zu den personellen Zusammenhängen, in denen sich Kießlings Karriere entwickelte. Im belgischen Mons, im Hauptquartier aller NATO-Truppen in Europa, hatte Kießling von Beginn an einen schweren Stand. Er „macht sich [...] keine Freunde in der Spitze des Bündnisses“ (S. 47), insbesondere weil er Sir Nigel Bagnalls Auffassung von der Vorneverteidigung „und damit einen der treuesten Verbündeten der USA und künftigen Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Britischen Empire auf dem Kontinent“ (ebd.) kritisierte und Zweifel an der NATO-Strategie äußerte. Inwieweit diese isolierte Stellung Kießlings einen Einfluss darauf hatte, was folgte, wird nicht klar dargelegt. Eine weitere, diesmal deutlichere Hypothese ist die schwierige Beziehung zwischen Kießling und Rogers. Auf Seite 61 kommen dann die ersten Elemente ins Spiel, mit denen sich das Verständnis von Homosexualität „nach den Sicherheitsvorschriften der Bundeswehr“ nachvollziehen lässt. Als „abnorme Veranlagung, die infolge der daraus abgeleiteten Erpressbarkeit gleichzeitig ein Sicherheitsrisiko darstellte“ (S. 61), wurde Homosexualität in der Armee nämlich auf eine Weise betrachtet, die das liberale Verständnis des Rechtsstaats ausschließt. Es mag schwierig sein, die Gründe für den Skandal darzustellen, ohne nach den Konstruktionsräumen von Männlichkeiten innerhalb der Armee3 sowie den sich darauf beziehenden Arbeiten zu fragen – eine wesentliche Dimension des Themas, die Möllers nicht weiter erforscht hat.

Dem Gerücht folgte eine Untersuchung, angeordnet vom Militärischen Abschirmdienst und durchgeführt von der Kriminalpolizei Köln. Ausgangspunkt war ein Foto, Zeugen „erkannten“ Kießling als regelmäßigen Gast zweier Schwulenkneipen in Köln. Wörner wurde informiert, ebenso Altenburg. Sie machten Kießling am 15. September 1983 einen Vorschlag, der zunächst als „elegante Lösung“ erschien: Kießling sollte krankgemeldet und dann vorzeitig pensioniert werden; für seine ehrenhafte Entlassung aus der Armee mit einem Großen Zapfenstreich wurde der 31. März 1984 vorgesehen. Die Gegner dieser Option traten im Dezember 1983 in Gestalt des Chefs des Amts für Sicherheit der Bundeswehr, Helmut Behrendt, und des Staatssekretärs Hiehle in Erscheinung. Sie betrachteten Kießling als ein Sicherheitsrisiko und setzten sich erfolgreich für seine schnellstmögliche Entlassung ein. Die Abkehr von der „eleganten Lösung“ und die anschließende Vorladung Kießlings am 23. Dezember, um seinen Dienst diskret und mehrere Monate vor dem ursprünglich vorgesehenen Datum zu beenden, sowie Kießlings Entscheidung, den Anwalt Konrad Redeker um Rechtsbeistand zu ersuchen und einen Artikel über die Gründe seines Ausscheidens in der „Welt am Sonntag“ zu veröffentlichen, bildeten den Anfang der eigentlichen Affäre.

Im dritten Teil („Von der Kießling-Wörner-Affäre zum handfesten Skandal 1984“) wird das Geschehen Tag für Tag vom 5. Januar bis zum 3. Februar 1984 in einer logbuchähnlichen Form nacherzählt. Mehrere Stimmen kommen zu Wort, darunter diejenige Kießlings unter Rückgriff auf sein Manuskript „Meine Entlassung“. Die Schilderung eines knappen Monats auf 132 Seiten belegt die beeindruckende Recherchearbeit, die dieses Buch ausmacht. Die Journalisten wollten die Gründe für Kießlings Entlassung erfahren, erhielten von Wörner aber nur Ausflüchte. Wäre nämlich ein Grund für die Pensionierung genannt worden, hätte dieser angezweifelt werden können. Wörner war wichtig, dass Kießlings Pensionierung nach außen hin scheinbar nichts mit seiner vermeintlichen Homosexualität zu tun hatte. Kießling organisierte indes seinen Gegenschlag: Am 7. Januar wurde ein Interview mit ihm im Kölner „Express“ und darauf in der „Welt am Sonntag“ veröffentlicht. Zwei größere Ereignisse setzten Wörner unter Zugzwang und führten zu Kießlings Rehabilitierung: die Entdeckung eines „Doppelgängers“, der die Kölner Schwulenbars frequentierte und mit Kießling verwechselt worden sein könnte, sowie das Eingreifen des Schweizer Schauspielers und Autors Alexander Ziegler, der über die – allerdings wenig glaubwürdige – Zeugenaussage eines Mannes verfügte, der bezahlten sexuellen Verkehr mit dem General gehabt haben sollte. Dass sich Wörner mit Ziegler zu einem Gespräch traf, schadete nicht Kießling, sondern dem Minister.

Kießling wurde am 1. Februar rehabilitiert und im März in den Ruhestand verabschiedet, diesmal mit einem Großen Zapfenstreich. Der Untersuchungsausschuss, der am 8. Februar zusammentrat, ist ein Beleg dafür, welche Bedeutung die Affäre auf höchster staatlicher Ebene erlangt hatte. Die Beteiligung politischer Parteien, insbesondere der Grünen, zeigt, dass diese Affäre über den ansonsten relativ geschlossenen Kosmos der Bundeswehr hinausging. Leider verweist das Buch wenig auf die außerhalb der Armee stattfindenden Debatten über Homosexualitäten.

Die vier folgenden, deutlich kürzeren Abschnitte können als Schlussfolgerungen und Interpretationen aufgefasst werden. Besonders interessant ist die – zwischen den Seiten 268 und 272 entwickelte, vom Autor allerdings verworfene – These, die Affäre sei eventuell das Ergebnis einer Intrige der ostdeutschen Staatssicherheit und ihres eingeschleusten Agenten Joachim Krase gewesen. Damit würde die Affäre aus der Perspektive deutsch-deutscher Geschichte gesehen, die hier ansonsten außen vor bleibt.

Eine der Schlussfolgerungen des Buches stimmt nachdenklich: „Was Kießling zum Glück fehlte, war die Frau an seiner Seite; vielleicht gar eine Familie“ (S. 321). Heißt das, Kießlings Rehabilitierung hätte mit der Bestätigung seiner Heterosexualität einhergehen müssen, die der Autor wiederholt vorzunehmen scheint? Hieße das nicht, den überholten heteronormativen Auffassungen zu verfallen, die der Affäre zugrunde lagen? Muss die heutige Geschichtswissenschaft wirklich wissen, ob Kießling heterosexuell oder homosexuell war, ob er glücklich war oder nicht, oder geht es nicht vielmehr darum, die Mechanismen zu verstehen, die die Affäre generierten, und darum, wie dieser Teil der Militärgeschichte in eine allgemeinere deutsche Geschichte eingebettet werden kann, die die Konstruktion von Männlichkeiten innerhalb der Armee und ihre Bedeutung für eine Geschichte des Staates, der Institutionen, der Staatsbürgerschaft berücksichtigt? Es ist also zu bedauern, dass diese Studie, so extrem detailliert und gut geschrieben sie auch ist, keine weiteren Brücken in ihrer Disziplin – oder darüber hinaus – geschlagen hat, die dem Verständnis des „größten Skandals der Bundeswehr“ neue Elemente hätten hinzufügen können.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu jetzt Michael Schwartz, Homosexuelle, Seilschaften, Verrat. Ein transnationales Stereotyp im 20. Jahrhundert, Berlin 2019, darin Kap. VIII: „Sicherheitsrisiko“ oder „Schmierenkomödie“? Der Wörner-Kießling-Skandal 1984 als Wendepunkt.
2 In der Bundesrepublik stellte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches weiterhin männliche Prostitution sowie homosexuelle Beziehungen mit Minderjährigen unter Strafe, wobei die Schutzaltersgrenze für homosexuellen Verkehr zunächst 21 Jahre betrug und 1973 auf 18 Jahre gesenkt wurde, während sie für heterosexuellen Verkehr bei 14 Jahren lag. Der Paragraph 175 wurde erst 1994 gestrichen.
3 Unter den zahlreichen Studien zu diesem Thema seien hier nur zwei Beiträge genannt: Ute Frevert, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 145–173; und Paul R. Higate (Hrsg.), Military Masculinities. Identity and the State, Westport 2003.