Cover
Titel
A People's History of American Higher Education.


Autor(en)
Hutcheson, Philo A.
Reihe
Core Concepts in Higher Education
Erschienen
London 2019: Routledge
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Nehemia Quiring, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Philo A. Hutchesons Absicht, in seinem Buch den Personen und Gruppen eine Stimme zu geben, die in der bisherigen Hochschulgeschichtsschreibung marginalisiert wurden, wird bereits bei einer genaueren Betrachtung des Titels klar. Mit A People’s History of American Higher Education lehnt sich der Titel bewusst an das Buch von Howard Zinn A People’s History of the United States, der 1980 das gleiche Anliegen mit einem Überblick über die allgemeine Geschichte der USA verfolgte.1 Damit grenzt sich dieses Buch thematisch gegenüber anderen englischsprachigen Werken über die Hochschulgeschichte der USA der letzten 15 Jahren ab, die vor allem die institutionelle Entwicklung der Hochschulen fokussierten.2 Es geht Hutcheson um eine berechtigte Ergänzung der Geschichtsschreibung, wie er in der Einleitung schreibt: “So, this history is a revision of previous works, […] works that start from a point that I choose to contest by naming all sorts of people and institutions from, as best as I can accomplish, their perspectives […].” (S. 11)

In den drei Kapiteln nach der Einleitung wird die Hochschulgeschichte vom 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts chronologisch aufgearbeitet. Danach werden einige Themen, die in den drei Kapiteln angedeutet werden, schwerpunktmäßig behandelt: Kriege, außerschulische Studierendenaktivitäten, die Entstehung der Forschungsuniversitäten und diskriminierende Prozesse im Hochschulsystem. Die Zeitspanne reicht dabei von den ersten Universitäten bis in die heutige Zeit. Wie in anderen Werken über Hochschulgeschichte behandelt dieses Buch zwar auch die Ideengeschichte der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Konzepten der Hochschulbildung (intellectual history), es versucht aber gleichzeitig verschiedene Bevölkerungsgruppen und -schichten in einer Sozialgeschichte zu berücksichtigen (social history).

Der sozial- und strukturgeschichtliche Ansatz zeigt sich darin, dass Personen und Gruppen, die nicht im Zentrum der Macht standen, Beachtung finden. Ganz bewusst startet das Buch nach der Einleitung nicht mit der Gründung von Harvard im Jahre 1636: Nach einer kurzen Beschreibung des europäischen Einflusses und der Aufklärung stehen die menschenverachtenden „Zähmungsversuche“ an der indigenen Bevölkerung in Colonial Colleges im Zentrum. Junge Männer wurden aus ihren Familien und Gemeinschaften herausgerissen und an den Colleges nordeuropäischen Sitten unterworfen – mit fatalen Folgen. Deutlich wird der Ansatz des Buches auch im Zusammenhang mit extracurricularen Studierendenaktivitäten. In diesem Kapitel werden nicht nur die bekannten Vietnamkrieg-Proteste erwähnt. In Bezug auf Proteste um Identität und Anerkennung wird das Beispiel einer Universität für Gehörlose angeführt. 1988 wurde an der Gallaudet University auf kreative und medienwirksame Weise gegen die Ernennung eines hörenden Präsidenten demonstriert. Nationale Medien nahmen dieses Thema auf und schließlich wurde ein gehörloser Präsident ernannt. Obwohl nicht geleugnet wird, dass die Geschichte großer Elite-Bildungsinstitutionen für die Hochschulgeschichte bedeutsam ist, stellt diese Darstellung eine bereichernde Sicht auf Ereignisse fernab der großen Zentren und bekannten Gruppierungen dar; Ereignisse, welche von anderen Werken über die US-Hochschulgeschichte bisher zu wenig in den Blick genommen wurden.

Die Beschreibung der institutionell verankerten Prozesse der Exklusion und sozialen Schichtung an Hochschulen bilden einen Schwerpunkt des Buches. Ein gesamtes Kapitel („From the Colonial Colleges to the Colleges and Universities of Today: Process of Exclusion and Stratification“; Kapitel 8) wird diskriminierenden Prozessen gewidmet, aber auch in anderen thematischen Bereichen gibt es immer wieder Bezüge dazu. In Bezug auf Exklusion schreibt Hutcheson pointiert: “[…] by its very design, most types of institutions are meant to keep some people out.” (S. 20) Diese Form der Diskriminierung wird zum Beispiel bei der Zulassungspraxis zum Medizinstudium deutlich: Frauen, Afroamerikanern aber auch Juden wurde je nach Gruppe bis in die 1960er-Jahre der Zutritt verweigert. Da wird der Gewinn dieses Buches deutlich: Es wird klar, dass die aktuelle Situation der Hochschulen in den USA nicht ohne ihre dunkle, von Diskriminierung und Benachteiligung gegenüber Minderheiten geprägte Geschichte verstanden werden kann. Die soziale Schichtung wird in Bezug auf die Armee im Ersten Weltkrieg aufgegriffen: Sie begann in dieser Zeit, standardisierte Tests zu entwickeln, welche die Soldaten verschiedenen Funktionen und Aufgaben zuteilte. So wurde einer Testindustrie Tür und Tor geöffnet, welche später die Wahrscheinlichkeit für Studierendenerfolg zu ermitteln versuchte und so all jene Gruppen bevorzugte, welche besseren Zugang zu Bildung hatten. Hutcheson untersucht dabei auch als Lichtblicke angesehene Ereignisse der Bildungspolitik und ordnet ihre Bedeutung in Bezug auf die soziale Durchmischung neu ein. So die bekannte und vielgelobte G.I. Bill von 1944, welche allen Veteranen des Zweiten Weltkriegs den Zugang zur Universität ermöglichte: Der größte Teil der Veteranen, welche vom Gesetz profitierten, hätte auch ohne diese bevorzugte Behandlung eine Hochschule besucht. Das Gesetz hat also wenig dazu beigetragen, die soziale Schichtung aufzubrechen. Schade ist in diesem Zusammenhang einzig, dass es der Autor verpasst, die Begriffe Exklusion und soziale Schichtung genau zu definieren.

In diesem Zusammenhang stellt der Autor folgende These auf: Es existierte und existiert immer noch ein unausgesprochener sozioökonomischer Vertrag, der darauf abzielt, dass Hochschulinstitutionen mithelfen, die Interessen des Mittelstandes und der Oberschicht zu vertreten und zu verteidigen. Im Gegenzug erhalten sie finanzielle Unterstützung und die ideelle Existenzberechtigung. In diesem Licht muss das Aufkommen der zweijährigen Junior Colleges zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet werden und hier zeigt sich das historische Out-of-the-box-Denken des Autors: Diese zweijährigen Schulen, auch auf Tertiärstufe angesiedelt, stellten im Zuge der zunehmenden Nachfrage nach Hochschulbildung eine Alternative zu den vierjährigen Programmen dar. Die bisherige Geschichtsschreibung hat das Aufkommen dieser Schulen dem Progressivismus und der damit verbundenen Effizienzsteigerung in der Hochschulorganisation zugeschrieben. Hutcheson aber macht deutlich, dass die Gründung dieser Schulen stark mit dem Streben des Mittelstandes nach Anerkennung zusammenhing. Oder mit der These des sozioökonomischen Vertrags ausgedrückt: Der Mittelstand setzt sich für Gründung und Erhalt von Junior Colleges ein und erhält im Gegenzug eine starke Interessenvertreterin für seine Anliegen.

Im Schlusskapitel setzt Hutcheson die Probleme der Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung und legt den Finger auf wunde Punkte. In Bezug auf den sozioökonomischen Vertrag meint er zum Beispiel, dass das Schlagwort Diversität den Institutionen heute als Tarnung diene und sie weiterhin ein in ihrem Sinne meritokratisches System entgegen jeglichen aufklärerischen Prinzipien erhalten und ausbauen würden. Auch in diesem Kapitel hält sich Hutcheson konsequent daran, Minderheiten in den Fokus zu nehmen, eine Elite-Perspektive zu vermeiden und soziale Gräben in der Hochschulgeschichte aufzuzeigen. Interessant und glaubwürdig ist dabei, wie der Autor, Professor für Hochschulgeschichte an der Universität Alabama, seine Rolle als weißer, männlicher Historiker, der selbst Teil der Elite ist, reflektiert. Trotz des gehaltvollen Inhalts kommt das Lesevergnügen nicht zu kurz. Das Buch liest sich leicht und immer wieder sind unterhaltsame Klammerbemerkungen eingeschoben. Geopfert wird dabei leider das genaue Ausweisen der Quellen. Angegeben ist nur die Sekundärliteratur. Das grundsätzliche Anliegen des Buches, “to write this work as a means for seeing the meanings of higher education across multiple and, in fact, shifting populations” (S. 210), ist Hutcheson aber sicherlich gelungen.

Anmerkungen:
1 Howard Zinn, A People’s History of the United States, London 1980.
2 David F. Labaree beispielsweise fokussiert die institutionelle Enwicklung des amerikanischen Hochschulwesens, während John R. Thelin einen detailreichen historischen Überblick desselben bietet. Gesellschaftspolitische Themen wie auch Minderheiten und ihre von Exklusion und Diskriminierung geprägte Geschichte werden in beiden Werken eher am Rande erwähnt. David F. Labaree, A Perfect Mess. The Unlikely Ascendancy of American Higher Education, Chicago 2017; John R. Thelin, A History of American Higher Education, Baltimore 2004.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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