Cover
Titel
Widerspruch. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen


Autor(en)
Wächtler, Hartmut
Erschienen
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hubert Seliger, Augsburg

Schon auf den ersten Seiten erlebt der Leser der mit rund 180 Seiten vergleichsweise schlanken Autobiographie des Münchner Strafverteidigers Hartmut Wächtler eine Überraschung, wenn er vom Autor erfährt, dass dieser der jüngste Sohn des Gauleiters der Bayerischen Ostmark Fritz Wächtler ist. Insofern ist das hier zu rezensierende Buch mehr als nur eine weitere Erinnerung eines „Linksanwalts“, auch wenn das selbsterklärte Anliegen seiner Autobiographie darin besteht, Mandanten zu beschreiben, die Widerstand gegen die als unerträglich empfundenen Verhältnisse geleistet hätten und mit der Justiz aneinandergeraten seien.

Das erste Viertel des Buches gibt aber zunächst Einblick in die Nachkriegsgeschichte der Familie eines hochrangigen Nazifunktionärs. Wächtler – der beim Tod seines Vaters gerade einmal sechs Monate alt war – beschreibt die erfolgreichen Versuche seiner Mutter, die Vergangenheit des Vaters gegenüber den Kindern geheim zu halten. Zwar erfuhr er mit zwölf Jahren die Wahrheit über seinen Vater, aber erst viel später seien ihm die Augen über die von Altnazis geprägte Schulzeit und die politischen Zusammenhänge dahinter geöffnet worden. Wächtlers Weg zum „68er“ war dann auch weniger ein Aufbegehren gegen die Vätergeneration als Neugierde für linke Autoren, die ausgerechnet die Mutter mit Kurt Tucholsky entfacht habe. Während des Jura-Studiums schloss sich Wächtler dem SPD-nahen Liberalen Studentenbund in München an und wirkte an politischen Aktionen, wie Werbungsaktionen für das Volksbegehren zur Einführung einer christlichen Einheitsschule, mit. Die harte Reaktion der Leitung der Ludwig-Maximilian-Universität, die auf Forderungen der Studenten meist mit der Macht der Staatsgewalt reagierte, habe ihn dazu animiert, sich in der studentischen Rechtshilfe der Außerparlamentarischen Opposition in München zu engagieren. Auch der Berufswunsch des Strafverteidigers sei darauf zurückzuführen. Wächtler beschreibt lesenswert das Milieu der linken Studentenschaft und die Aktionen der „68er“ in München, denen er als „Insider“ in seinem Buch wohlwollend, aber nicht ohne kritischen Blick gegenübersteht.1

Im Vergleich zu diesem wichtigen Zeitzeugenbericht fällt die zweite Hälfte des Buches, die mit Wächtlers erstem großen Strafverfahren im September 1973 als einer der Verteidiger seines Freundes Rolf Pohle wegen der mutmaßlichen Unterstützung der Roten Armee Fraktion mit Waffen beginnt, etwas ab. Dies liegt weniger am Inhalt selbst, stehen doch die „kleinen“ Verfahren vor den Landgerichten und Amtsgerichten in den 1970er- und 1980er-Jahren gegen mutmaßlich politisch motivierte Gewalt von links immer noch im Schatten der großen RAF-Prozesse. Wächtler gelingt es, einige nicht nur regional bedeutsame Verfahren wieder in Erinnerung zu rufen. Von diesen einzelnen, im Umfang sehr unterschiedlichen Prozessdarstellungen verdienen besonders das anwaltliche Ehrengerichtsverfahren gegen den kommunistischen Augsburger Rechtsanwalt Fritz Gildemeier und die juristische Auseinandersetzung mit der Blockade der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf, deren Ausmaß die Anwälte zu ganz neuen Formen der Zusammenarbeit zwang, besondere Beachtung. Wenn dieser zweite Teil der Autobiographie dennoch nicht das Niveau des ersten Teiles erreicht, so liegt dies in erster Linie daran, dass Wächtler die einzelnen Verfahren in seiner Darstellung nur aneinanderreiht und sich auch nur auf aus seiner Sicht „politische Verfahren“ bezieht. Über den beruflichen Alltag eines Anwalts in München in den 1970er- und 1980er-Jahren oder andere anwaltliche Mitstreiter erfährt man nur wenig.

Hanno Balz kam vor einigen Jahren in seiner Rezension eines Zeitzeugenbandes von Anwälten aus dem „Stammheim-Prozess“ zu dem Ergebnis, dass zwischen Staatsmacht und Verteidigern „unversöhnliche Erinnerungen“ bestünden.2 Man kann von einem Zeitzeugen wie Wächtler selbstverständlich nicht die Objektivität eines von den Ereignissen distanzierten Historikers verlangen. Dennoch ist zu kritisieren, dass auch Wächtler bisweilen in ein gewisses Schwarz-Weiß-Denken verfällt. Wenn er etwa in seiner Kritik an der „staatsfrommen Justiz in München“ über die Mehrzahl der Richter an den Amtsgerichten schreibt, dass diese in politischen Verfahren geurteilt hätten, „wie es im Kommentar stand, der unter anderem von Eduard Dreher verfasst worden war, einem exponierten Juristen der NS-Zeit“ (S. 167), schießt er doch etwas über das Ziel hinaus.3 Differenzierungen, wie die von Wächtler betonte objektive Haltung des Vorsitzenden der Staatsschutzkammer am Landgericht München I, Mayer, gehen dabei leider unter.4

Trotz dieser Kritik regt Wächtlers Buch zu einer kritischen Reflexion über die Geschichte (nicht nur) der bayerischen Polizei und Justiz in den 1970er- und 1980er-Jahren an. So weist Wächtler ebenso auf die fragwürdige Linie der Münchner Gerichte in Beleidigungsdelikten gegen Ministerpräsident Franz Josef Strauß hin, wie er am Beispiel des Einsatzes von Zivilfahndern im Oktober 1974 eine kritische Perspektive auf die eigentlich als Erfolgsgeschichte der Polizei gesehene sogenannte "Münchner Linie" wirft.5 Während insbesondere durch ein Projekt des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin die transnationale Seite des Vorgehens von Polizei und Justiz gegen politische Gewalt in den 1970er- und 1980er-Jahren nun verstärkt im Fokus steht, besteht auf regionaler und Landesebene, wie Wächters Buch belegt, durchaus noch Forschungsbedarf.6

Anmerkungen:
1 Zu „1968“ und die Folgen in München vgl. Karl Stankiewitz, München ‘68. Traumstadt in Bewegung, München 2008; Oliver Braun, Sponti-Spaß und Straßenkampf – München 1968, in: ders. u. a. (Hrsg.), Revolution in München, Regensburg 2014, S. 126–152. Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns (Hrsg.), Protest oder „Störung“? Studenten und Staatsmacht in München um 1968. Eine Ausstellung des Staatsarchivs München, München 1999.
2 Hanno Balz, Rezension zu: Gisela Diewald-Kerkmann / Ingrid Holtey (Hrsg.), Zwischen den Fronten. Verteidiger, Richter und Bundesanwälte im Spannungsfeld von Justiz, Politik, APO und RAF. Gespräche, Berlin 2013, in: H-Soz-Kult, 05.03.2014, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21621 (16.05.2019).
3 Zu Dreher siehe auch Hubert Seliger, Rezension zu: Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26310 (16.05.2019).
4 Zu Mayer vgl. auch Hubert Seliger, Art. „Münchner Trikont-Prozess“, in: Lexikon der Politischen Strafprozesse, Oktober 2018, http://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/muenchner-trikont-prozess/ (13.04.2019).
5 Zur Entwicklung der Polizei in München am Beispiel der sogenannten „Schwabinger Krawalle“ vgl. Michael Baum, Die „Schwabinger Krawalle“ von 1962. Vom Ereignis zum Forschungsgegenstand, in: Gerhard Fürmetz (Hrsg.), „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006, S. 59–106.
6 Vgl. die Publikationsliste des Projekts auf den Seiten des Instituts für Zeitgeschichte, https://www.ifz-muenchen.de/fileadmin/user_upload/Forschung/Terror/Terrorismusprojekt-Publikationsverzeichnis_2017.pdf (13.04.2019).

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