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Titel
Maximilians Lieder. Weltliche Musik in deutschen Landen um 1500


Autor(en)
Schwindt, Nicole
Erschienen
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Friedrich Missfelder, Departement Geschichte, Universität Basel

Kaiser Maximilian I. inspiriert zu Großprojekten. Das beweisen schon die gewaltigen Ausmaße der zeitgenössischen Ruhmeswerk-Medien, etwa der maßgeblich von Albrecht Dürer entworfenen gedruckten Ehrenpforte von über zehn Quadratmeter Größe oder des ursprünglich auf 54 Meter Länge ausgelegten gedruckten Triumphzugs. Aber auch die Historiografie macht hier keine Ausnahme. Kein europäischer Herrscher, nicht einmal Napoleon oder Adolf Hitler, ist je mit einer so monumentalen Biografie bedacht worden wie Maximilian durch Hermann Wiesfleckers 3.400 Seiten in fünf Bänden.1 Nicole Schwindts Buch über die weltliche Musikkultur an seinem Hof und in seinem Umfeld reicht an diese Dimensionen zwar nicht ganz heran, stellt aber durchaus ein (auch im entsprechenden Programm der Volkswagen-Stiftung gefördertes) opus magnum dar. Dabei zeugt der Titel Maximilians Lieder von einem gewissen Understatement, geht es doch letztlich um weit mehr als nur um die im Zentrum der Fragestellung stehenden mehrstimmigen deutschsprachigen Lieder der Renaissance. Der Titel selbst enthält nämlich schon Nicole Schwindts These und Methode: Jenes Repertoire wird in seiner Beziehung zur maximilianischen Hofkultur, zum gedechtnus-Konzept des Kaisers und zur Medienrevolution um 1500 untersucht. Dadurch wird das musikwissenschaftliche Buch auch für ein geschichtswissenschaftliches Publikum interessant, dem der Kaiser im Nachgang seines 500. Todesjahrs 2019 durch zahlreiche Ausstellungen, neue Monografien, Sammelbände und Fernsehserien wieder ins Gedächtnis gerufen wurde.2

Der maximilianische Hof war über weite Strecken eine fluide, instabile und letztlich virtuelle Institution. Obwohl der Kaiser gerade in Bezug auf die österreichischen Reichsteile eine verstärkte administrative Herrschaftsdurchdringung anstrebte und Innsbruck in vielfacher Hinsicht eine gewisse Zentralitätsfunktion gewann, blieb Maximilian doch weitgehend ein Reisekaiser, dessen Herrschaftsmodell auf der Inszenierung persönlicher Präsenz beruhte. Die Gravitationszentren des Reiches verschoben sich so immer wieder. Der französische König ätzte nicht umsonst, Maximilian sei wenig mehr als der Bürgermeister von Augsburg. Für die Ausbildung einer maximilianischen Hofkultur hatte dies entscheidende Auswirkungen. Der Hof, so Jan-Dirk Müller, „literally existed on paper“3, als Imagination und mediale Inszenierung in den zahlreichen Projekten, die das gedechtnus des Kaisers sichern sollten. Maximilians Kaisertum erscheint darin als eine gewaltige Marketingmaschinerie4, in deren inhärenter Virtualität und Ephemerität auch die Musik als ephemerste aller Künste ihren Ort fand.

Schwindt synthetisiert im ersten Teil ihres Buches die vielfältige, aber auch sehr disparate Forschung zu den verschiedenen sozialen Räumen zeitgenössischer Musikpraxis ebenso wie zur Funktion von Musik in politischer Repräsentationskultur und kaiserlichem Selbstverständnis. Musik, so macht Schwindt deutlich, war in mehrfacher Hinsicht ein „kostbares Gut“ (S. 97). Sie war nicht ohne Weiteres verfügbar, ihre Praxis erforderte einen erheblichen organisatorischen und infrastrukturellen Aufwand, sie war zugleich aber unverzichtbarer Teil der multimedialen Repräsentations- und gedechtnus-Maschinerie und generierte somit einen sozialen Sinn, der über reine kurtzweyl hinauswies. Schwindt analysiert die Rolle der Musik für zeitgenössische Herrschaftskonzeptionen ebenso wie die biografischen und protomäzenatischen Beziehungen konkreter Musiker/Komponisten – allen voran der Stars Heinrich Isaac, Paul Hofhaimer und Ludwig Senfl – zum Hof und zum Kaiser selbst. In den Analysen der Musikkultur in maximilianischen Gedächtnismedien, vor allem im Weisskunig und im Triumphzug ebenso wie in den weitreichenden politischen und religiösen Kontextualisierungen bietet Nicole Schwindts Buch eine pointierte Synthese der aktuellen Forschung. Dass auch diese jedoch allenfalls eine vorläufige sein kann, dass etwa zur Prosopografie der Canterey, also der Hofkapelle, noch weitere Detailforschungen ausstehen5, dass auch mit dem Fortschreiten der Regesta Imperii-Edition noch Nuancierungen des hier gegebenen Bildes zu erwarten sind, ist der Autorin stets bewusst. Gleichwohl gelingt es ihr, ein kohärentes und zugleich facettenreiches Bild der maximilianischen Hofmusikkultur zu zeichnen, in der Musik „nicht allein für den Hof“ erklingt, sondern „vom Hof ausgeht und die Umgebung in die Musikpraxis einbezieht“ (S. 224). Diese Umgebung des Hofes wird von der Autorin teilweise recht weit gefasst. So gesteht Schwindt zwar ein, dass manche städtische Räume, die eine relativ dichte Überlieferung des von ihr analysierten Liedrepertoires aufweisen (etwa Basel), in allenfalls losem Kontakt mit der kaiserlichen Hofkultur standen. Doch wendet sie einen nicht geringen argumentativen Aufwand an den Nachweis, dass auch in diesen Fällen von einem relativ kohärenten maximilianischen Repertoire zu sprechen sei.

Diese Liedkultur selbst wird kulturhistorisch in eine Geschenkökonomie eingebettet, die nicht zuletzt als Medium der Partizipation am Hof diente und sich somit einem modernen musikalischen Werkverständnis tendenziell entzog. In diesem Sinne dienen auch die eigentlichen Text- und Musikanalysen, die den umfangreichen zweiten Teil des Buches ausmachen, weniger einer Komponisten-„Attribuzlerei“ (Jacob Burckhardt) als vielmehr der Darlegung einer sozialen Produktionslogik von Musik in kollektiven „Werkstätten“ (S. 481). Diese stand in einem durchaus komplexen Verhältnis zum gerade erst entstehenden Konzept des Komponisten, welches sich am Beispiel Heinrich Isaacs in seiner Genese beobachten lässt. Insgesamt zeichnet sich der zweite Teil durch eine stupende Genauigkeit in der musikalischen, metrischen und gattungstypologischen Analyse des Liedrepertoires aus, die ebenfalls auf eine umfassende Erfassung des Materials zielt. Das ist für eine genuin geschichtswissenschaftliche Perspektive nicht immer gleichermaßen relevant wie der erste Teil des Buches, enthält aber immer wieder überraschende Einsichten wie etwa zum Zusammenhang von Kompositionstechniken und sozialen Interaktionen bei Hof.

Nicole Schwindts opus magnum über Maximilians Lieder erhebt zwar keinen expliziten enzyklopädischen Anspruch, liefert aber eine differenziert argumentierende Gesamtschau all dessen, was man zum gegenwärtigen Zeitpunkt über Maximilian und die Musik weiß und wissen kann. Auf diese Weise trägt das Buch Entscheidendes dazu bei, die soziale, politische und kulturelle Rolle von Musik für vormoderne Gesellschaften zu konturieren und diese für interdisziplinäre historische Perspektiven zu öffnen.

Anmerkungen:
1 Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 5 Bände, Wien 1971–1986.
2 Vgl. etwa Heidrun Lange-Krach (Hrsg.), Maximilian I. (1459–1519). Kaiser, Ritter, Bürger zu Augsburg, Augsburg 2019; Michael Forcher / Christoph Haidacher (Hrsg.), Kaiser Maximilian I. Tirol, Österreich, Europa, Innsbruck 2018; Johannes Helmrath u.a. (Hrsg.), Maximilians Welt. Kaiser Maximilian I. im Spannungsfeld von Innovation und Tradition, Göttingen 2018; Jan-Dirk Müller / Hans-Joachim Ziegeler, Maximilians Ruhmeswerk. Künste und Wissenschaften im Umkreis Kaiser Maximilians I., Berlin 2015.
3 Jan-Dirk Müller, The Court of Emperor Maximilian I, in: Ronald G. Asch / Adolf M. Birke (Hrsg.), Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age (c. 1450–1650), London 1990, S. 295–311, hier S. 308.
4 Larry Silver, Marketing Maximilian. The Visual Ideology of the Holy Roman Emperor, Princeton 2008.
5 Vgl. dazu jüngst Grantley McDonald, The Chapel of Maximilian I: Patronage and Mobility in a European Context, in: Stefan Gasch u.a. (Hrsg.), Henricus Isaac (c. 1450/5–1517). Composition, Reception, Interpretation, Wien 2019, S. 9–23.

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