L. Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl

Cover
Titel
Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom


Autor(en)
Raphael, Lutz
Erschienen
Berlin 2019: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
526 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Berghoff, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Bei „Jenseits von Kohle und Stahl“ handelt es sich um ein überaus wichtiges und anregendes Buch, dessen Untertitel jedoch weit über den tatsächlichen Inhalt hinausschießt. So wird keineswegs ganz Westeuropa behandelt. Vielmehr konzentriert sich das Werk auf Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland, mithin auf die drei größten Industriestaaten Westeuropas. Der Rest des Kontinents wird ausgespart. Auch haben wir es nicht mit einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte zu tun, sondern vielmehr mit einer Geschichte der Arbeiterschaft bzw. der „classes populaires“. Die Eliten und das mittlere bis gehobene Bürgertum, Handwerker und andere Kleingewerbetreibende sind nicht Thema des Buches. „Nach dem Boom“ meint den Zeitraum 1970 bis 2000, sodass der Bogen bis zur Gegenwart nicht geschlagen wird. Zudem ist die inzwischen als Epochenbegriff fest etablierte Chiffre „nach dem Boom“ auch insgesamt irreführend, da Boomphasen nicht auf die Nachkriegszeit begrenzt blieben. Selbst in den krisengeschüttelten 1970er-Jahren wuchs etwa die bundesdeutsche Wirtschaft im Durchschnitt um 2,9 Prozent, in sieben von zehn Jahren sogar um mehr als drei Prozent. Auch die späten 1980er-Jahre waren ausgesprochene Boomjahre.1 Der Begriff „Nach dem Boom“ suggeriert entsprechend Wachstumsschwäche und gesamtwirtschaftliche Stagnation, die es eben nicht gegeben hat. Umso spannender ist daher jedoch das in Lutz Raphaels Buch thematisierte Nebeneinander von De-Industrialisierung und Re-Industrialisierung bzw. dem Vorrücken des Dienstleistungssektors und dem Boom der „New Economy“.

Die Komplexität des Themas ist auch in der gut nachvollziehbaren Konzentration auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der schrumpfenden traditionellen Industriearbeiterschicht im Zeitraum 1970 bis 2000 hoch, was an der Multiperspektivität des Vorgehens liegt. Es werden – jeweils für drei Länder – der industrielle Strukturwandel, die Veränderung der Arbeitswelt, Arbeitskämpfe und Arbeitsbeziehungen, Gewerkschaften und Arbeiterparteien, betriebliche Sozialordnungen, biographische und regionale Erfahrungswelten sowie sich verschiebende Deutungsmuster analysiert. Das Ergebnis ist ein ebenso anspruchsvolles wie ungemein anregendes und vielschichtiges Werk.

Raphael arbeitet heraus, wie dramatisch die Umbrüche seit den 1970er-Jahren waren. Der Industriesektor verlor relativ gesehen an Bedeutung. Die Produktivität nahm dramatisch zu, was ebenso wie die von Raphael kaum thematisierte globale Vernetzung zu Lasten industrieller Arbeitsplätze in Westeuropa ging. Ganze Traditionsbranchen wie der Bergbau, die Stahlproduktion, die Textilindustrie oder die Werften verschwanden oder schrumpften auf einen Bruchteil früherer Größe. Damit zerfiel die Welt des „Malochers“, jener milieuprägenden Sozialfigur des körperlich geforderten Mannes, der lange die Basis der Arbeiterbewegung gewesen war. Dieser Abschied verlief dank wohlfahrtsstaatlicher Abfederungen überwiegend konfliktarm, besaß aber auch konfliktträchtige und gewaltsame Episoden, insbesondere in Großbritannien, wo der Wandel besonders massiv war und die Politik des Thatcherismus besonders harsch ausfiel. Für die Bundesrepublik ist zu betonen, dass sich dieser Übergang ohne große Eruptionen geradezu still vollzog.

In Großbritannien kam es – politisch gewollt – zu einer forcierten Liquidierung alter Industriebranchen und zum Niedergang der teils absurd mächtigen Gewerkschaften, während es in Deutschland und Frankreich zu einem Politikmix aus Bestandssubventionen, schrittweisem Rückbau und sozialstaatlicher Abfederung kam. Auch hier verloren die Gewerkschaften stark an Mitgliedern, blieben aber als stabilisierende und überwiegend konstruktive Sozialpartner Säulen der nationalen Wirtschaftskulturen. Niemand stellte sie grundsätzlich in Frage.

Raphael führt den nützlichen Begriff der „Sozialbürgerschaft“ ein, der Sicherungsmechanismen wie Tarifautonomie, Mitbestimmung, Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Diskriminierungsverbote und Ansprüche auf Sozialleistungen beinhaltet. Zwar ist die Erosion des kollektiven Tarifrechts ein Kennzeichen der Epoche, aber nicht für alle Gruppen und für alle Branchen und Länder. Anders als in Großbritannien blieb in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland das Tarifvertragssystem im Kern intakt. Allerdings ist eine „Krise der politischen Repräsentation“ festzustellen, eine gefährliche politische Heimatlosigkeit der (ehemaligen) Arbeiterschicht, die laut Raphael den gegenwärtigen Aufstieg des Populismus vorbereitete.

Die Umbrüche trafen die Generationen auf ganz unterschiedliche Weise. Der Vorruhestand der Älteren erlaubte einen materiell verlustarmen Übergang in die Welt jenseits der Berufsarbeit, während die junge Generation zu einem erheblichen Teil von der Schule in die Perspektivlosigkeit entlassen wurde. Für sie war es nicht mehr selbstverständlich, den sozialen Status ihrer Eltern zu halten bzw. zu verbessern, was die Grunderfahrung der Rekonstruktionsjahre gewesen war. Die Jugendarbeitslosigkeit wurde zu einem Dauerproblem, betraf aber stets nur einen Teil der Jugend. Die Mehrheit fand entweder unattraktive Jobs im Dienstleistungsbereich oder schaffte es, sich dank verbesserter Bildungsqualifikationen als Facharbeiter, Handwerker oder Akademiker zu etablieren und den Lebensstandard weiter zu erhöhen. Es kam nicht zu einem kollektiven sozialen Abstieg, aber zu einem Nebeneinander von sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Klassenmonogamie und die Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt bestanden trotz aller Umbrüche fort, während steile soziale Aufstiege trotz aller Bildungsexpansion eher selten blieben.

Was trat an die Stelle der alten Industriegesellschaft? Es gehört zu den Verdiensten dieses Buches, allen plakativen Etiketten von der Wissens- und Erlebnisgesellschaft bis zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zu widersprechen und ihnen ein vielschichtiges, überaus nuanciertes Bild entgegenzustellen. Alle drei Länder blieben Industrienationen. In ihnen bildete sich aber im unteren Drittel der Gesellschaft eine neue Prekarität aus. Zugleich entstanden vermehrt kleinere, in ländlichen Regionen angesiedelte Industrieunternehmen, die ihren Belegschaften planbare und langfristige Berufsperspektiven sowie soziale Aufstiege ermöglichten. Damit ergab sich eine Kontinuität zur alten Industrie, wenngleich die Arbeit eine völlig andere und der Stellenwert dieses Sektors insgesamt geringer war. Jenseits der Industrie entstand ein großer und rasch wachsender Dienstleistungssektor mit häufig schlecht bezahlten, instabilen Jobs. Aber auch hier gab es Gewinner, etwa in technikaffinen Dienstleistungsbranchen. Der Grad an Diversität und entgegenlaufenden Trends nahm zu. Im Industriesektor lassen sich einerseits Tendenzen des Sozialabbaus beobachten. Nicht wenige Betriebe mutierten in „seelenlose Arbeitshäuser“. Zugleich wuchsen andern Ortes Mitbestimmungsrechte und kooperativ-konsensorientierte Managementpraktiken, die sich für alle Betroffenen als willkommene Anpassungshilfen erwiesen. In kleinen und mittelgroßen Unternehmen lebten auch oft paternalistische Kulturen fort. Der Globalisierungsdruck führte also zu ganz unterschiedlichen Resultaten.

Die relativ stabilen und sozial privilegierten Arbeitsplätze in den Großkonzernen der Automobilindustrie hingen eng zusammen mit weniger günstigen Arbeitsverhältnissen bei den Zulieferern. Dass deutsche Unternehmen zunehmend transnational restrukturiert wurden und globale Produktionsketten entstanden, in denen Sozial- und Umweltstandards zum Teil unglaubliche Tiefpunkte erreichten, wird nicht thematisiert. In den untersuchten Ländern fand zwar ein dramatischer Strukturwandel statt, aber kein Abschied von der Industrie. Vielmehr blieb diese zumindest partiell ein „Stabilitätsanker“, der sich der im Dienstleistungssektor voranschreitenden „Erosion der Sozialbürgerschaft“ entzog und oftmals „pluralistisch-kooperative Betriebsordnungen“ als Realität oder zumindest als Ziel anbot.

Auch bei den räumlichen Konsequenzen des Strukturwandels ergibt sich ein buntscheckiges Bild: von trostlosen Armutsregionen und heruntergekommenen Stadtvierteln hin zu revitalisierten ehemaligen Industrievierteln und properen Reihenhaussiedlungen in ländlichen Industrieregionen. Die Divergenzen, etwa zwischen Süd- und Nordengland, vergrößerten sich enorm.

Die Darstellung springt beständig zwischen der Mikro- und Makroebene hin und her sowie zwischen Ländern, Regionen, Betrieben, Orten und Individuen. Gleichwohl bleibt das Buch gut lesbar und spannend. Trotz der Vielzahl der Perspektiven und Informationen bleiben aber große Lücken. Nicht nur die Krisen der Schwerindustrie prägten den behandelten Zeitraum, sondern auch die Modernisierung der verarbeitenden Industrie. Dort war der Übergang von mechanischen zu elektronischen und dann zu digitalen Techniken ein großes Thema, das die dortige Industriearbeit grundlegend veränderte und traditionelle Qualifikationen binnen weniger Jahre entwertete. Immer mehr Menschen durchliefen Umschulungen und Weiterbildungsmaßnahmen. Über die Fragmentierungs- und Internationalisierungsstrategien der Unternehmen wäre viel zu sagen, ebenso über Globalisierung und die Öffnung Osteuropas, über die Finanzialisierung und die Digitalisierung sowie über die Ausdifferenzierung und Expansion der Konsumgesellschaft. Diese Lücken sind aber nicht dem Autor anzukreiden, sondern dem Forschungsstand. Es zeigt sich durchgehend, wie groß die Defizite der historischen Forschung über die Zeit nach 1970 noch sind. Auch Raphael stützt sich über weite Strecken vor allem auf arbeits- und industriesoziologische Studien, da die geschichtswissenschaftliche Forschung, zumal unter sozial- und unternehmenshistorischen Fragestellungen, erst ganz am Anfang steht.

Umso verdienstvoller ist dieses Buch, das die Tür zu diesen Jahrzehnten gleichsam aufstößt. Es stellt die Arbeiterschaft in das Zentrum, die von der Geschichtswissenschaft nach einer Phase intensiver Forschung vor allem zu der Zeit vor 1918 lange praktisch ausgeklammert worden ist. Über die Arbeitergeschichte des späten 20. Jahrhunderts ist bislang noch kaum gearbeitet worden. Diese Pionierstudie greift aber nicht nur die klassischen Fragen der Sozialgeschichte auf, sondern verbindet diese mit politischen und kulturellen Kernthemen. Es handelt sich sicher nicht um eine abschließende Behandlung dieses Teils der jüngeren Zeitgeschichte, sondern um einen ersten Aufschlag, der hoffentlich eine Vielzahl künftiger Arbeiten über das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts anregen wird. Ohne Rückbezug auf diese Pionierstudie werden sie nicht geschrieben werden können.

Anmerkung:
1 Das Bemerkenswerte ist vor diesem Hintergrund vor allem das Andauern des substantiellen, über dem langfristigen historischen Durchschnitt liegenden Wachstums, das sich trotz massiver Strukturkrisen der alten Industrien einstellte, auch wenn es unter demjenigen der Rekonstruktionsperiode der 1950er- und 1960er-Jahre lag.