Cover
Titel
Nero. Emperor and Court


Autor(en)
Drinkwater, John F.
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 449 S.
Preis
£ 32.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristina Hamacher, Bonn

Auch nach 2000 Jahren geht von den vermeintlich „schlechten“ oder „verrückten“ Principes der römischen Kaiserzeit eine Faszination aus, die sich nicht nur in zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen, sondern auch in der altertumswissenschaftlichen Forschung niederschlägt. Umstrittene Persönlichkeiten wie Caligula, Nero und Domitian sind entsprechend häufig Gegenstand einzelner, vor allem biographischer Abhandlungen – wie nicht zuletzt mit Blick auf die Literatur der letzten Jahre deutlich wird.1 Hier reiht sich nun John F. Drinkwater mit seiner Monographie über den letzten Vertreter der iulisch-claudischen Dynastie ein. In Anlehnung an die Biographien von Aloys Winterling über Caligula, von Josiah Osgood über Claudius sowie von Anthony A. Barrett über Agrippina unternimmt Drinkwater den Versuch, sich der Herrschaft Neros in einer Weise anzunähern, die das negative Bild des Kaisers in den Quellen kritisch hinterfragt und „rational“ einzuordnen sucht. So soll ein „neuer“ Nero präsentiert werden, der weniger an der Herrschaft und vor allem an den ihm zugeschriebenen Gräueltaten beteiligt gewesen sei als in der antiken Überlieferung gemeinhin dargestellt.2

In seinem Anliegen verfolgt Drinkwater dabei nicht den klassisch-chronologischen Weg einer Biographie, sondern nähert sich dem Kaiser und seiner Regierung über bestimmte Themenfelder. Sein Ziel besteht im Wesentlichen darin, zu zeigen, wie der frühe Principat funktionierte, das heißt wer tatsächlich und in welchem Maße an der Herrschaft beteiligt war. Drinkwater möchte, so scheint es, eine Nero-Biographie ohne Nero schreiben: „This book is not a ‚life and reign‘ of the emperor Nero. […] Though my focus is not Nero, it is impossible to keep him out of the picture“ (S. 1). Seine Hauptthese ist dabei, dass Nero, von den antiken Quellen äußerst missgünstig behandelt, nie wirklich an der Regierung beteiligt war, sondern, von seinen künstlerischen Ambitionen abgelenkt, Anderen freiwillig und gerne das Ruder überließ.3 Dementsprechend wird auch die Verantwortung des Princeps an den ihm zugeschriebenen Morden und anderen Vergehen als – wenn überhaupt – gering bewertet, wie im Folgenden noch ausgeführt wird.

Drinkwaters Abhandlung zur neronischen Herrschaft gliedert sich in drei größere Abschnitte, die ihrerseits wiederum in verschiedene thematische Kapitel unterteilt sind: Nach einer eingehenden Aufarbeitung des historischen Kontexts (Part I: Backround, S. 7–168) folgt eine umfassende Analyse der gängigen „Vorurteile“ gegenüber Nero (Part II: Assessment, S. 171–368) und schließlich eine Zusammenfassung der letzten Jahre des Princeps, beginnend mit seiner Griechenlandreise (Part III: End, S. 371–421). Die einzelnen Unterkapitel sind dabei thematisch ausgerichtet, folgen jedoch größtenteils einer chronologischen Vorgehensweise. Infolge des (an sich positiv zu bewertenden) systematischen Zugangs greift Drinkwater allerdings vermehrt auf unübersichtliche Querverweise zurück, auf deren Seitennennung man besser zugunsten von Kapitelnennungen verzichtet hätte.

Im ersten Teil der Untersuchung werden verschiedene Handlungsträger und Gruppen einzeln vorgestellt (neben Nero selbst sind dies: Agrippina, seine „Berater“, Senatoren, Literaten, Generäle etc.) und in ihrem Verhältnis zum Princeps näher betrachtet. Dabei vertritt Drinkwater die Meinung, dass vor allem Neros Verhältnis zum Senat sowie die Rolle und Persönlichkeit seiner Mutter in der Forschung bislang zu negativ bewertet worden seien. Scheint diese Beobachtung in verschiedenen Punkten durchaus ihre Richtigkeit zu haben, stolpert man zugleich über einige eher ungewöhnliche Deutungsvorschläge: Drinkwater konstatiert etwa ein positives Verhältnis zwischen Princeps und Senat – ausdrücklich auch über die ersten Jahre der Regierung hinaus –, belegt dies aber unter anderem mit der sogenannten Pisonischen Verschwörung: „The very old-fashioned plan [der Verschwörung] […] indicates the continuing availability of access by senators to the princeps. Furthermore, in the course of the first, targeted, round of prosecutions following the failure of the Pisonian conspiracy, accused senators were given the chance to defend themselves“ (S. 29). Auch Agrippinas Beurteilung fällt ungewöhnlich wohlwollend aus. So sieht Drinkwater in der negativen Darstellung der Kaisermutter in den antiken Quellen eine vollkommen falsche Wiedergabe ihrer Persönlichkeit. Agrippina sei demnach eine überaus kluge, strategisch denkende Frau gewesen, die das noch unausgereifte System des Principats mitgestalten und selbst regieren wollte. Dabei hätte sie maßgeblich die Idee eines Herrschafts-„Teams“ geprägt, das Drinkwater für seine These benötigt, wonach Nero nie wirklich an der Regierung beteiligt war, sondern das politische Tagesgeschäft in den Händen Anderer lag (S. 32–55).

Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich dann dem schlechten Ruf des Kaisers. Nach und nach werden hier die gängigen Vorurteile gegenüber Nero relativiert und ein Bild entworfen, das den Eindruck festigt, der Herrscher sei von seinen Beratern und dem „establishment“ – das in seiner Definition bei Drinkwater leider etwas vage bleibt – bestimmt gewesen.4 Nero hätte demzufolge nur selten persönlich in die Regierungsgeschäfte eingegriffen und auch dies nur, um zu demonstrieren, dass er durchaus hätte regieren können – wenn er es denn gewollt hätte. In dieser Lesart erscheint der Princeps als gesetzestreu, gerecht und schuldlos an den Vergehen, die ihm gemeinhin zugeschrieben werden. Die Gelegenheiten, bei denen Nero tatsächlich einmal exzentrisch auftrat oder die traditionellen Gepflogenheiten missachtete – Drinkwater kann immerhin nicht alle Berichte negieren –, wie beispielsweise im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte, werden dabei schlicht als „break-outs“ bezeichnet. Auch wenn dieser Ansatz in einigen Fällen durchaus interessant erscheint, erweisen sich viele dieser „Freisprüche“ als problematisch – etwa wenn Drinkwater den Tod Poppaeas als „normale“ Ehestreitigkeit mit fatalem Ausgang beschreibt (S. 219), Nero nach diesem Vorfall eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert (S. 286–293) oder die musikalische Begleitung des Brandes Roms als künstlerisch nachvollziehbar darstellt (S. 238). Hinzu tritt eine zumeist leider etwas einseitige Diffamierung vor allem Suetons als unglaubwürdig und nerofeindlich5 sowie eine teilweise recht starke Fokussierung auf einzelne Literaturtitel zu bestimmten Themen, die den Eindruck einer reinen Wiedergabe dieser Werke erwecken.6

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Drinkwater trotz einer an sich vielversprechenden Grundthese leider nicht gelingt, sich einer moralisch-wertenden Haltung zu entziehen, was am Ende zu einer (fast) vollständigen Rehabilitierung Neros führt. Zwar werden grundlegende Strukturen des frühen Principats behandelt und diskutiert, doch verhindern gerade die Voreingenommenheit gegenüber der zweifellos tendenziösen, aber dennoch nicht einfach wegzudiskutierenden antiken Quellenüberlieferung und der daraus resultierende Versuch, Nero freizusprechen, einen differenzierten Blick auf die Rolle des Princeps und die politischen wie gesellschaftlichen Gegebenheiten der neronischen Zeit. Dieser Haltung entsprechend kommt Drinkwater zu dem Schluss, dass Neros Fall durch seine anhaltende Passivität – vor allem in Bezug auf militärische Aktivitäten – selbst verschuldet war, diese jedoch erst nach seiner Rückkehr aus Griechenland, das heißt im letzten Halbjahr seiner Herrschaft, verursacht durch einen „burn-out“ nach dem Tod Poppaeas und den Anstrengungen der Griechenlandreise (S. 421), zum Tragen kam.

Anmerkungen:
1 Es seien an dieser Stelle nur wenige Titel genannt: Aloys Winterling, Caligula. Eine Biographie, Beck’sche Reihe, München 2012; Jens Gering, Domitian, dominus et deus? Herrschafts- und Machtstrukturen im Römischen Reich zur Zeit des letzten Flaviers, Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 15, Rahden 2012; Sophia Bönisch-Meyer / Lisa Cordes / Verena Schulz u.a. (Hrsg.), Nero und Domitian. Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich, Classica Monacensia 46, Tübingen 2014; Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann. Begleitband zur Ausstellung. Rheinisches Landesmuseum Trier. Museum am Dom Trier. Stadtmuseum Simeonsstift Trier, 14. Mai bis 16. Oktober 2016, Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 40, Darmstadt 2016; Holger Sonnabend, Nero. Inszenierung der Macht. Darmstadt 2016; Lisa Cordes, Kaiser und Tyrann. Die Kodierung und Umkodierung der Herrscherrepräsentation Neros und Domitians, Philologus Suppl. 8), Berlin u.a. 2017; Florian Sittig, Psychopathen in Purpur. Julisch-claudischer Caesarenwahnsinn und die Konstruktion historischer Realität, Historia ES 249, Stuttgart 2018. Aus dieser Reihe rezipiert Drinkwater jedoch nur Winterling.
2 „Though I began with no intention to whitewash Nero’s historical reputation, in the end, consonant with a contemporary current research in which, for example, Winterling has presented a ‚new‘ Gaius and Osgood and Barrett have offered a ‚new‘ Agrippina and Claudius, I propose a ‚new‘ Nero: more innocent but much less engaged in affairs than he of the source tradition“ (S. 2). Drinkwater bezieht sich hier vor allem auf Winterling, Caligula, Josiah Osgood, Claudius Caesar. Image and Power in the Early Roman Empire, Cambridge 2011, und Anthony A. Barrett, Agrippina. Sex, Power and Politics in the Early Empire, London 1996; als Referenzwerke für Nero selbst nennt er an vielen Stellen die grundlegenden Biographien von Edward Champlin, Nero, Cambridge 2003; Miriam Griffin, Nero. The End of a Dynasty, London 1984, und Eugen Cizek, Néron, Paris 1982.
3 Diese These wird immer wieder aufgegriffen, findet sich aber am deutlichsten formuliert in der Einleitung des Werkes: „I propose that Nero was never fully in control of affairs and that, increasingly diverted by sport and art, he allowed others to act in his name“ (S. 2).
4 So versteht Drinkwaters unter „establishment“ einen mehr oder weniger festen Personenkreis, der sich aus dem kaiserlichen „Team“ und dem Consilium des Princeps zusammensetzte, wobei es nicht selten zu personellen Überschneidungen kommen konnte, vgl. S. 56–80.
5 Zu Sueton vgl. S. 95, 99–100, 118 u.ö.; Drinkwater spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von einer „hostile tradition“ (u.a. mehrfach S. 393).
6 Am deutlichsten wird dies etwa in Kapitel 13.3.4 zur Münzreform unter Nero (S. 355–364), wo Drinkwater nahezu ausschließlich auf Kevin Butcher / Matthew Ponting, The Metallurgy of Roman Silver Coinage. From the Reform of Nero to the Reform of Trajan, Cambridge 2014, zurückgreift.

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