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Titel
Bildungstheorien zur Einführung.


Autor(en)
Rieger-Ladich, Markus
Erschienen
Hamburg 2019: Junius Verlag
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Balthasar Eugster, Hochschuldidaktik, Universität Zürich

Bildung ist flüchtig. Ein Hundertemillionenbegriff in den Suchmaschinen des Internets – überall und zuweilen vorschnell in Gebrauch genommen. Zugleich ist „Bildung“ eigentümlich unterbestimmt und entwindet sich dem definitorischen Zugriff. Und so mag es über die überschaubare Community der Bildungstheoretikerinnen und Bildungstheoretiker hinaus erfreuen, dass der Junius Verlag in seiner Reihe „Zur Einführung“ einen Band zu Bildungstheorien herausgegeben hat. Markus Rieger-Ladich, Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, hat ihn verfasst. Die Vielfalt seiner Forschungs- und Publikationsthemen prädestiniert ihn für eine umfassende und kritische Reflexion über Bildung.

Der Autor ist sich der möglichen Verminungen im unübersichtlichen Gelände der Bildungstheorien bewusst und fragt ganz grundsätzlich: „Wie beginnen?“ (S. 12) Das systematische Sprechen über Bildung muss gegen begriffliche Unschärfen und nicht selten gegen Zustände der Erregung und gegen Wechselstimmungen zwischen Krisenbeschwörungen und Zukunftshoffnungen andenken, denn mit ihr sind große Versprechungen verknüpft: Bildung steht für gesellschaftliche Emanzipationsprozesse ebenso wie für das individuelle Freimachen von den Einschränkungen oder den „Zumutungen“ (S. 14) der Gesellschaft. Unübersichtlichkeit ist Ausgangspunkt und Dauerbefindlichkeit der Bildungstheorie.

Als Jürgen-Eckhardt Pleines 1978 unter dem Titel „Bildungstheorien. Probleme und Positionen“ eine Sammlung von 19 Texten aus dem Kontext der deutschsprachigen Pädagogik, Bildungsphilosophie und Bildungssoziologie veröffentlichte, präsentierte er dieses Ensemble von Darlegungen, Einwürfen und Einlassungen in einer zumindest vordergründigen Homogenität: In allen Texten findet sich der Begriff „Bildung“ explizit und meist prominent wieder, womit die Beiträge bereits in ihrer äußeren Erscheinung bildungs-theoretisch argumentieren.1 Das kann und soll nach Rieger-Ladich so nicht mehr sein. In den sieben Hauptkapiteln des Buches bietet er einen stupenden Durchgang – und das von Platon bis Judith Butler. Ungehetzt, wenn auch dicht, entwickelt er einen gelehrten, aber in keinem Moment belehrenden Blick darauf, was Bildung ausmachen kann. Die Reihung wichtiger Autorinnen und Autoren aus mehr als zwei Jahrtausenden erfolgt chronologisch. Das erste dieser sieben Hauptkapitel umfasst neben der Antike auch Repräsentanten aus dem Mittelalter, der Renaissance und der Frühen Neuzeit: Platon, Meister Eckhart, Giovanni Pico della Mirandola und Michel de Montaigne. Während das zweite Hauptkapitel Positionen von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht, diskutiert ein drittes Hauptkapitel mit John Dewey einen Vertreter aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die weiteren vier Kapitel präsentieren Theoretikerinnen und Theoretiker ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Heinz-Joachim Heydorn, Pierre Bourdieu, Vertreter der Cultural Studies (insbesondere Stuart Hall), Jacques Rancière, Gayatri Chakravorty Spivak, Michel Foucault und Judith Butler stehen hier im Mittelpunkt.

Rieger-Ladich beleuchtet die Ansprüche der Bildungstheorie zwischen dem ganz großen Ganzen und den feinen Nuancierungen. Programmatisch besonders deutlich zeigt sich dies etwa im Kapitel zu Friedrich Schleiermacher. Nachdem Rieger-Ladich bereits in seiner Darstellung Wilhelm von Humboldts auf dessen sprachphilosophische und linguistische Studien eingegangen ist und dabei das dialogische Moment der Bildung herausgearbeitet hat, liest er Schleiermacher vor dem Hintergrund der neuen Formen der Geselligkeit, wie sie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gepflegt wurden. Das ist keine Repositionierung des Neuhumanismus, sondern eine Freilegung seines Kerns, der in der Überbetonung der Bildung als Individuierungsprozess überblendet zu werden droht. Es nimmt sich dabei äußerst anregend aus, wie der Autor Schleiermachers nur wenig bekanntes Fragment „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ von 1798/99 als frühe bildungstheoretische Programmschrift interpretiert und seine Reflexion auf die Teilhabe an der regen Berliner Salonkultur2 als ein – ideengeschichtlich sich als bedeutsam erweisendes – neues Interaktionsmuster zwischen Privatheit und Öffentlichkeit versteht, um deren Relevanz für den Bildungdiskurs sorgsam heraus zu präparieren.

Das Überindividuelle ist mehr als das Individuum in seiner Sozialisation an und in der Welt. Rieger-Ladich entfaltet diese bildungstheoretische Leitlinie und radikalisiert sie zu einer originären Bildungstheorie, die weit über eine allgemeine Einführung hinausreicht: Über das Individuum hinaus muss Bildung begründet werden, nicht weil Menschen soziale Wesen sind, sondern weil – so ließe sich Rieger-Ladichs Interpretation zuspitzen – menschliche Gemeinschaften mehr und anderes sind als die bloße Summierung der Individuen. Schleiermacher nahm diese Erkenntnis, als er die Reziprozität der freien Geselligkeit beschrieb, vorweg, ohne sie in ihrer heutigen Bedeutung theoretisch erfassen und benennen zu können. Bei Dewey deutet sie sich an, wenn er die Verknüpfung von Demokratie und Erziehung als eine Kritik der überkommenen Traditionen der Pädagogik entwickelt. Auch bei der bildungstheoretischen Einordnung von Jacques Rancières Arbeiten fokussiert Rieger-Ladich auf dessen Gespür für Bildungsprozesse jenseits formalisierter Bildung, die dieser dank eines neuen Typs philosophischer Reflexion bildungstheoretisch fruchtbar macht: „Rancière sucht also nicht allein das Proletariat zu rehabilitieren, sondern auch die Fallstricke der Ideologiekritik zu vermeiden und auf diese Weise einen neuen Einsatzpunkt postmarxistischer Theoriebildung zu finden“ (S. 139). Bei Michel Foucault und Judith Butler kann Rieger-Ladich seine Perspektivierung von Bildung anhand des Dreiecks von Subjektivierung, Sozialisation und kultureller Kognition noch einmal besonders hervorheben: Die Bildung „wird [...] als ein komplexes und hybrides Geschehen konzipiert, in das vielfältige Akteure involviert sind: Dazu zählen durchaus Personen und Individuen, aber eben auch Organisationen und Institutionen, Dinge und Artefakte sowie technische Arrangements und symbolische Ordnungen“ (S. 177).

Bildung ist, so der Autor im Schlusskapitel, eingebunden in Spannungsverhältnisse, die sich mit den Begriffspaaren „Aktivität/Passivität“, „Ereignis/Struktur“ und „Individualität/Kollektivität“ benennen lassen. Bildungstheorie kann sich für die Zukunft nur empfehlen, wenn sie die Pole dieser Begriffspaare verschränkt und das „Zugleich widerstreitender Kräfte zu denken“ (S. 186) erlaubt. Dafür seien „neue Forschungsstile zu entwickeln, bislang übersehene Quellen zu erschließen und Bildungsprozesse nun auch empirisch zu erforschen“ (S. 187).

Rieger-Ladich skizziert die Unhintergehbarkeit, aber eben auch die Uneinholbarkeit von Bildung. Dass sich ein solches vertracktes Phänomen ohne Referenzen auf Autoritäten der Ideengeschichte nicht beschreiben lässt, ist unvermeidlich und kommt der gängigen Strukturierung eines Einführungsbandes entgegen. Rieger-Ladichs neugierige Weitsicht bei der Kombination der verschiedenen Theorien irritiert dabei in wohltuender Weise festgefahrene Denkmuster. Sein Ansatz, die Bildung von Subjektivität, also gebildete Subjektivität, über die Subjektivität hinaus zu denken, regt zur weiteren Theorieentfaltung an. Und so ist es etwas schade – Rieger-Ladich bedauert es selbst –, dass Hegel nicht eingehend diskutiert werden konnte. Gerade dessen Reflexion auf Bildung im Kontext der Theorie des objektiven beziehungsweise des absoluten Geistes bietet aufschlussreiche Perspektiven auf die Bedeutung der Bildung als einer überindividuellen Relationalität.3

Dass das Buch, das Einführung sein will, Einsteigerinnen und Einsteiger zuweilen fordert, kann nicht ausgeschlossen werden. Es wäre auch kritisch nachzufragen, wie viel Theorie die Bildungstheorie verlangt. Wenn verschiedene der diskutierten Autorinnen und Autoren Bildung nicht explizit, sondern nur implizit zum Thema machen, setzt sich deren Aufnahme in den Kanon einem erhöhten Begründungsanspruch aus. Es ist zudem genau zu erklären, was Bildung eigentlich zu Bildung macht, weil die Lesenden einer Einführung Leitplanken benötigen. Rieger-Ladich kommt diesem Anspruch in der Einleitung nicht ganz nach und überstrapaziert womöglich die Komplexität der wissenschaftstheoretischen Ausgangslage. Er hätte sich auf Niklas Luhmann berufen können, der in vielsagender Knappheit konstatiert: „Mit dem Begriff der Bildung reagiert das Erziehungssystem auf den Verlust externer (gesellschaftlicher, rollenförmiger) Anhaltspunkte für das, was der Mensch sein bzw. werden soll.“4 Rieger-Ladich müsste in diesem Sinne wohl eher von Kultur statt vom Erziehungssystem sprechen, die mit Hilfe des Bildungsbegriffs intergenerationell und in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung auf das Entschwinden der klaren Zielvorgaben für das Mensch-Sein reagieren kann. Aber vielleicht ist es ja gerade der Verzicht auf einen einführenden Definitionsvorschlag des Konstrukts „Bildung“, der die Lektüre dieses Buch mit so viel Inspiration belohnt.

Anmerkungen:
1 Jürgen-Eckhardt Pleines (Hrsg.), Bildungstheorien. Probleme und Positionen, Freiburg u.a. 1978.
2 Siehe dazu den Kommentar von Jens Bachmann in Friedrich Schleiermacher, Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 2000, S. 388.
3 Siehe etwa bei Andrea Kern, Selbstbewusstsein und die Idee der Bildung als „immanentes Moment des Absoluten“. Über einige Unterschiede zwischen Kant, Hegel und McDowell, in: Thomas Oehl / Arthur Kok (Hrsg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden u.a. 2018, S. 872–893.
4 Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 186.