N. Klein u.a. (Hrsg.): Jesuitenmissionen in Spanisch-Amerika

Cover
Titel
Transfer, Begegnung, Skandalon?. Neue Perspektiven auf die Jesuitenmissionen in Spanisch-Amerika


Herausgeber
Klein, Nikolaus; Oberholzer, Paul; Schmid Heer, Esther
Reihe
Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte
Erschienen
Stuttgart 2019: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip Knäble, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Der 250. Jahrestag der Aufhebung des Jesuitenordens in Spanisch-Amerika (1767/1768) war 2017 Anlass für eine Tagung im schweizerischen Fribourg, deren Ergebnisse zwei Jahre später als Sammelband veröffentlicht wurden. Auch wenn die Jesuiten fast im gesamten spanischen Kolonialreich in Amerika präsent waren, lag und liegt das Interesse der Forschung vor allem auf den Missionssiedlungen, den Reduktionen, in der Ordensprovinz Paraguay (lange als „Jesuitenstaat“ bezeichnet). Die meisten der 16 AutorInnen des Bandes wählen die Paraguaymission ebenfalls als Gegenstand, aber auch das Wirken in Brasilien, Kolumbien und Mittelamerika sowie die Wahrnehmung des Ordens in Europa werden thematisiert. Der Band vereint Aufsätze aus der katholischen Theologie, der Kirchengeschichte, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. Neben 13 deutschsprachigen Beiträgen enthält der Band auch einen englischen (Javier Francisco) und zwei spanische Artikel (Guillermo Wilde, Maximiliano von Thüngen). Alle AutorInnen sind ausgewiesene Kenner der Materie, die bereits zu der Thematik publiziert haben.

Den zeitlichen Schwerpunkt der Beiträge bilden die Aufhebung des Ordens und die Zwangsmigration seiner Mitglieder nach Europa im späten 18. Jahrhundert sowie die Rezeption der Ordensaktivität vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die fast die Hälfte der Beiträge ausmacht. Das späte 16. Jahrhundert bis frühe 18. Jahrhundert wird dagegen nur in den Aufsätzen von Mariano Delgado, Michael Sievernich und Javier Franciso stellenweise behandelt.

In der ersten Sektion „Einführung und Kontext“ wird die alleinige Fokussierung auf die Jesuitenreduktionen in der Forschung kritisiert, und die Missionssiedlungen werden in einen größeren Kontext gestellt. Mariano Delgados Aufsatz zu „Überlegungen zur Singularität der Jesuitenreduktionen“ zeigt beispielhaft, dass das Reduktionsmodell weder ein Spezifikum für Paraguay noch für den Jesuitenorden war. Vielmehr bauten die Jesuiten auf einer Missionsmethode auf, die von den Franziskanern im 16. Jahrhundert in Mexiko entwickelt und von der spanischen Krone als allgemeinverbindlich erklärt worden war. Die Reduktionen in Paraguay waren also eine leichte Adaption eines standardisierten Missions- und Kolonialprojekts. Ein Alleinstellungsmerkmal stellte lediglich die rationale Wirtschaftsorganisation des Ordens dar, so dass Delgado die Jesuiten als „Zisterzienser der Frühen Neuzeit“ (S. 60) bezeichnet.

Den Kontext auszuweiten ist auch das Anliegen von Johannes Meier, der das Verbot des Ordens im portugiesischen Königreich 1759/60 thematisiert. Zahlreiche Argumentationslinien wurden bei der Ausweisung der Jesuiten aus Spanisch-Amerika wenige Jahre später wieder aufgegriffen. Am Beispiel von Bildsatiren aus der Verbotszeit des Ordens stellt Fabian Fechner die häufig vorgenommene eindeutige Unterteilung in pro- und antijesuitische Literatur bzw. Gattungen in Frage. Michael Sievernich wiederum behandelt Übersetzungsprozesse anhand von Spiritualität, Sprache und Kultur in der Paraguaymission, die „einen neuen guaranitisch-jesuitischen Raum“ (S. 106) schafften, in dem wechselseitige Transferprozesse stattfanden.

Die in der zweiten Sektion unter dem Titel „Wissen und Wissenstransfer“ versammelten Aufsätze konstatieren durchgehend, dass der Wissenstransfer im Orden und durch den Orden erst unter Berücksichtigung der Verflechtungen zur indigenen Bevölkerung und zum europäischen Aufklärungsdiskurs sinnvoll beschrieben werden kann. Renate Dürr, Christoph Nebgen und Irina Pawlowsky weiten den Blick über die Konfessionsgrenzen aus, indem sie auf die Übersetzung der jesuitischen Missionszeitschrift im anglikanischen England bzw. die Zusammenarbeit von aus Amerika vertriebenen deutschsprachigen Jesuiten mit dem protestantischen Verleger Christoph Gottlieb von Murr eingehen, der auch die entscheidende Rolle bei der Verbreitung von jesuitischen Karten aus dem Amazonasgebiet spielte. Javier Francisco untersucht anhand der Quellengattungen der Litterae Annuae und Indipetae (Bewerbungsschreiben nach Übersee) den internen Wettbewerb von Provinzen um junge Ordensmitglieder aus Europa. In Werbereisen und Berichtsbriefen pries die Provinz Paraguay die Exotik der Landschaft und die Möglichkeiten in der Mission und der Heidenbekehrung, was die jungen Jesuiten auch in ihren Bewerbungsbriefen aufgriffen. In Paraguay angekommen wurden sie zum Abschluss des Studiums zunächst auf die Universität von Córdoba geschickt, danach folgte häufig aber eine Karriere an der Universität oder in der Ordensverwaltung, kaum dagegen in der Mission.

Die Beiträge des dritten Abschnitts („Rezeption und Weiterentwicklung“) und der vierten Sektion („Tradierungen und Neubildung im 19., 20. und 21. Jahrhundert“) sind thematisch eng verbunden und behandeln die Rezeption der Jesuitenmission in der Geschichtskultur. Beide Sektionen unterscheiden sich vor allem durch den räumlichen Fokus. Während die dritte Sektion die Folgen der Mission bei den Chiquitanos im heutigen östlichen Bolivien behandelt, konzentriert sich die vierte Sektion auf die Guaraní im heutigen Paraguay, Nordostargentinien und Südbrasilien.

Alle Aufsätze der dritten Sektion behandeln mit Architektur, Skulpturen und Musik künstlerische Tradierungen und Weiterentwicklungen. Eckart Kühnes detaillierte Untersuchung der Jesuitenkirchen in den Missionen zeigt, dass ein Großteil der Bauwerke und Kunstwerke erst nach der Vertreibung der Jesuiten im späten 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Auch die von Corinna Gramatke untersuchten Skulpturen führen zwar Bildprogramme fort, die vor allem deutschsprachige Ordensmitglieder mitbrachten. Eine rege Beteiligung der Ordensmitglieder als Handwerker, wie sie in der Forschungsliteratur genannt wird, lässt sich anhand der Quellen dagegen nicht stützen. Die gegenwärtige Situation beleuchten Sieglinde Falkinger und Severin Parzinger anhand der musikalischen und tänzerischen Praxis, für die sie auf Ergebnisse von Feldforschungen aus den letzten Jahren zurückgreifen. Beide machen deutlich, dass die im 18. Jahrhundert an kirchlichen Feiertagen in indigener Sprache gesungenen Sermones, die Musik und die Tänze bis heute eine identitätsstiftende Wirkung für die Chiquitanos besitzen. Stadträte (Cabildos) und insbesondere die Kapellmeister haben dafür gesorgt, dass das musikalische Wissen und die Instrumente an die nachfolgenden Generationen weitergeben werden.

Der vierte Teil des Bandes befasst sich mit der Rezeption der Mission bei den Guaraní in der Geschichtskultur Argentiniens und Paraguays mit Ausnahme des Beitrags von Nikolaus Klein, der den Blick auf Mexiko richtet. Ähnlich wie bereits für die Chiquitanos konstatiert kann Guillermo Wilde auch für die Guaraní demonstrieren, dass eine Bewahrung von den in der Missionszeit entstandenen Kulturtechniken bei gleichzeitiger Verschiebung in neue Kontexte erfolgte. Im Gegensatz zur europäischen Kirchengeschichte wird das Wirken der Jesuiten in der paraguayischen Geschichtsschreibung des späten 19. und 20. Jahrhunderts, wie Ignacio Telesca zeigt, vielfach als etwas Negatives und Außenstehendes gesehen. Die Jesuiten hätten jedoch keinen dauerhaften Einfluss auf die indigene Bevölkerung gehabt, sodass von ihnen keine Beteiligung an der Entwicklung eines paraguayischen Nationalbewusstseins ausgegangen sei. Zumindest in den letzten Jahren gibt es aber laut Maximiliano von Thüngen das Bestreben von offizieller Seite, die zum Weltkulturerbe zählenden ehemaligen Reduktionen und musikalischen Traditionen als Formen eines gelungenen Kulturtransfers touristisch zu vermarkten. Die Bestrebungen stehen dabei häufig in Kontrast zu den lokalen kritischen Deutungsweisen.

Der von Esther Schmid Heer, Nikolaus Klein und Paul Oberholzer herausgegebene Band präsentiert die Geschichte der Jesuitenmission in Südamerika deutlich ausgewogener als das bis heute maßgebliche deutschsprachige Überblickswerk von Peter Hartmann, der das Wirken der Jesuiten im Untertitel noch dezidiert als „christliche Alternative zu Kolonialismus und Marxismus“ bezeichnet hatte.1 Mit der Einbeziehung der Rezeption in Südamerika gelingt es, eine isolierte, eurozentrische Betrachtung der Jesuiten aufzubrechen. So wird etwa auch ein Thema wie der Sklavenbesitz des Ordens, ein in vielen Veröffentlichungen selten angesprochener Aspekt, zwar nicht zentral behandelt, aber zumindest in einigen Aufsätzen andiskutiert. Dennoch schimmert bei einzelnen Beiträgen des von der Jesuitenbibliothek Zürich, dem Archiv der Schweizer Jesuiten und dem Fribourger Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte gemeinsam betreuten Bandes weiterhin eine eher positive Bewertung der Jesuiten durch. Insgesamt stellt das Buch aber eine sehr gelungene Einführung in die Geschichte der Jesuitenmission in Spanisch-Amerika, insbesondere in Paraguay, und ihrer Rezeption dar, welche konsequent die Ergebnisse der kultur- und globalgeschichtlichen Ansätze der letzten Jahre aufnimmt.

Anmerkung:
1 Peter Hertmann, Der Jesuitenstaat in Südamerika. Eine christliche Alternative zu Kolonialismus und Marxismus, Weissenhorn 1994.

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