M. Olsansky: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg

Cover
Titel
Am Rande des Sturms / En marge de la tempête. Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / Les forces armées suissses pendant la Première Guerre mondiale mondiale


Herausgeber
Olsansky, Michael
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
CHF 39.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Pöhlmann, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Es liegt in der Natur des Ersten Weltkrieges, dass dieser Auswirkungen auch auf Staaten, Nationen und Streitkräfte zeitigte, die nicht unmittelbar daran teilnahmen. Das galt aufgrund ihrer Lage im Zentrum Europas in besonderer Weise auch für die neutrale Schweiz. Michael Olsansky, Dozent für Militärgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, trägt mit dem vorliegenden Band die Ergebnisse einer Tagung von 2016 zusammen. Ein Band mit dem Titel „An der Front und hinter der Front“ (2016) war diesem bereits vorangegangen. Was sich also zunächst positiv zu „Am Rande des Sturms“ vermerken lässt, ist die Tatsache, dass das Buch Teil eines größeren, ambitionierten Publikationsprojektes ist, welches das Ziel verfolgt, einen thematisch wie methodisch breiten Überblick zur Militärgeschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg zu liefern.

Die Situation der akademischen Militärgeschichtsschreibung in der Schweiz unterscheidet sich im Prinzip nicht von der nördlich des Rheins, abgesehen davon, dass bei der Dimension der dortigen akademischen Landschaft die kritische Größe für derartige Spezialforschung nicht immer erreicht werden kann. Mit der Emeritierung von Stig Förster, der an der Universität Bern über viele Jahre militärgeschichtliche Forschung auch zu 1914–18 betrieben hatte, ist dort dieser international wahrgenommene Schwerpunkt eingegangen. Die Dozentur an der ETH erscheint nun ein wenig wie ein einsamer militärgeschichtlicher Leuchtturm. Die pointierte Einleitung des Herausgebers deutet an, dass sich ältere akademische Ressentiments gegen die Militärgeschichtsschreibung hier und da durchaus erhalten haben. Der Hinweis ist deshalb von Bedeutung, weil sich die damit verbundenen Kontroversen auch vor der Folie der Weltkriegsgeschichte abgespielt haben.

Die 20 Aufsätze des Bandes können hier nur in einer exemplarischen Auswahl gewürdigt werden. Die großen und bis heute bestimmenden nationalen Narrative werden durch die Gliederung des Bandes schnell ersichtlich. Da ist, erstens, die strategische Verortung der Schweiz in den Jahren 1914–18. Maartje Abbenhuis richtet den Blick aus einer globalen Perspektive auf die schweizerische Neutralität und beschreibt die Neutralen als den dritten Faktor im internationalen Gefüge. Hans-Rudolf Fuhrer untersucht die geheimen Konsultationen des Generalstabschefs Theophil Sprecher von Bernegg mit Persönlichkeiten und militärischen Dienststellen in Wien.

Zweitens behandeln die Beiträge das Verteidigungsdispositiv in Richtung Deutsches Reich und Frankreich sowie – mit Einschränkungen – Italien und Österreich-Ungarn. In diesen Kontext gehören auch die Untersuchungen zu Ulrich Wille. Dessen Leistungen als General – in der Schweiz ist damit kein Dienstgrad, sondern die Dienststellung des Oberbefehlshabers in Kriegszeiten gemeint – sind seit jeher umstritten. Die schriftstellerisch bemerkenswerte, wissenschaftlich aber skandalträchtige Biografie von Niklaus Meienberg von 1987 hat dessen Bild als germanophiler Kommisskopf lange geprägt. Die hier vorgelegten Beiträge zu Wille korrigieren dieses Bild jetzt in Teilen recht überzeugend. Der Beitrag von Michael Olsansky behandelt die Bemühung der Schweizer Armee, militärtechnisch und taktisch Anschluss an die Entwicklung zu halten. Grundlage dieser Bemühungen waren Frontreisen von Schweizer Offizieren, deren laufende Untersuchung durch Olsansky weiterführende Erkenntnisse im Bereich des militärischen Lernens verspricht.

Den dritten Themenschwerpunkt des Bandes bildet die militärische Sozial- und Alltagsgeschichte. Hier fallen vor allem die regionalen Detailstudien ins Auge, so diejenigen von Dieter Wicki und Marco Jorio. Diese lassen weitergehende Rückschlüsse zu, etwa den, dass bei der die Erfordernisse von Armee und Volkswirtschaft ausbalancierenden Einberufungs-, Beurlaubungs- und Rotationspraxis, verbunden mit einer von Gewalterfahrung weitgehend freien Dienstzeit, der Krieg als Referenzpunkt des „Aktivdienstes“ stärker im Hintergrund blieb als bislang angenommen. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied zur Erfahrungsgeschichte der Soldaten der kriegführenden Staaten.

Eine der Stärken des Buches ist es, militärische Devianz und die Militärjustiz zu einem eigenen, vierten Themenschwerpunkt zu machen. Dabei werden – zumindest aus Sicht eines Historikers der deutschen Militärgeschichte – bemerkenswert starke und anhaltende staatsbürgerliche Anspruchshaltungen deutlich, die so ganz der These einer ausnahmslosen Totalisierung des militärischen Denkens und Handelns widersprechen.

Der fünfte Themenblock widmet sich dem Einsatz der Armee im Innern, namentlich während des Landesstreiks vom 12. bis 14. November 1918. Kaum ein Thema der Schweizer Geschichte war in der Vergangenheit derart kontrovers diskutiert wie der „Ordnungsdienst“. Die vorliegenden Beiträge stellen nicht die traumatisierende Wirkung dieses Ereignisses in Frage; sie hinterfragen aber den revolutionären Anspruch der Linken und damit auch die Grundlage der Begründung für die militärischen Repressionsmaßnahmen. Christian Koller arbeitet in seinem anregenden Beitrag die gegenseitigen Perzeptionen von Militär und Arbeiterbewegung vor und im Weltkrieg heraus. Rudolf Jaun qualifiziert den Landesstreik pointiert gar als das längste „Freilichttheater der Schweizer Geschichte“ (S. 273).

Im abschließenden, sechsten Teil geht es um den Blick auf die Schweiz von außen. Am Ende versprach die Anerkennung der schweizerischen Neutralität den Anrainern größeren Nutzen als es ihre Missachtung getan hätte – dies allerdings, wie Peter Mertens, Erwin Schmidl und Dimitry Queloz aufzeigen, in Deutschland, Österreich-Ungarn und Frankreich mit unterschiedlichen zeitlichen Konjunkturen und aus unterschiedlichen Gründen.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die schweizerische militärgeschichtliche Forschung heute auf bewährte Standardwerke aufbaut, deren Thesen sie dann im Detail bestätigt oder relativiert. Aus der Lektüre erschließen sich freilich auch Desiderate: Rüstung als Politikfeld etwa; der internationale militärische Nachrichtendienst, für den die Schweiz über die gesamte Kriegsdauer einen Tummelplatz darstellte; oder eine umfassende historische Netzwerkanalyse des Offizierkorps, dessen Angehörige im Milizsystem ja gleichermaßen Führungspersönlichkeiten im Militär wie auch in der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft waren. Eine Gesamtdarstellung zur Militärgeschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg ist also nicht in Aussicht. Umso wichtiger sind daher Sammelbände wie der vorliegende. Der Band ist sorgfältig lektoriert, die Abbildungen sind ansehnlich reproduziert und mit deutsch- und französischsprachigen Texten ist „Am Rande des Sturms“ Ausweis einer lebendigen Militärgeschichtsschreibung in der Schweiz.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension