J.E. Dunkhase (Hrsg.): Reinhart Koselleck – Carl Schmitt

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Titel
Reinhart Koselleck – Carl Schmitt. Der Briefwechsel 1953–1983


Herausgeber
Dunkhase, Jan Eike
Erschienen
Berlin 2019: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Friedrich Missfelder, Departement Geschichte, Universität Basel

Der Frühsommer 1959 war eine Zeit des intensiven Austauschs zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt. Kosellecks „Kritik und Krise“, die Dissertation des Assistenten am Heidelberger Historischen Seminar, war gerade erschienen. Am 29. Mai fragt Schmitt vorsichtig bei Koselleck an, ob eine Rezension aus seiner Feder im Historisch-Politischen Buch „situationsgerecht“ (S. 156) sei. Eine solche Absprache verstieße „sicherlich gegen die heutigen Compliance-Regeln“1, war Schmitt doch an der Entstehung der Dissertationsschrift intensiv, wenn nicht als Betreuer, so doch als Mentor beteiligt, seit sich beide um 1950 durch Vermittlung von Nicolaus Sombart in Heidelberg kennengelernt hatten.2 Obwohl Schmitt keineswegs die einzige Inspiration für die Argumentation von „Kritik und Krise“ darstellte3, kam ihm doch eine besondere Rolle zu, die Koselleck nicht nur im Vorwort zur Druckausgabe, sondern auch schon in seinem allerersten Brief an Koselleck vom 21. Januar 1953 würdigte.

Dieser Brief ist das Herzstück der vorliegenden Edition, die dieses „piece of intellectual dynamite“4, in dem schon „Forschungskeim und Lebensthema“5 von Reinhart Koselleck angelegt waren, zum ersten Mal veröffentlicht. Niklas Olsen hat in seiner intellektuellen Biographie Kosellecks dessen gesamtes Frühwerk durch ein close reading dieses Briefes erschlossen.6 Weltbürgerkriegshorizont, Utopiekritik und Kritik an der Geschichtsphilosophie, die zentralen Themen von „Kritik und Krise“, werden hier ebenso angesprochen wie jene anthropologischen Kategorien, die Koselleck fast 30 Jahre später als „Bedingungen möglicher Geschichten“7 ausarbeiten sollte. Zugleich wird bei der Lektüre des Briefes auch deutlich, wie stark sich Kosellecks Projekt gegen den zeitgenössischen Historismus eines Friedrich Meinecke profilierte. Dessen „Relativierung der Werte“ (S. 10) setzt Koselleck eine dezidierte „Reduktion aller geistigen Äusserungen auf die Situation“ (S. 11) entgegen. Schmitt ist da ganz einverstanden.

Nicht alle der insgesamt 119 in der Edition abgedruckten Briefe halten das Reflexionsniveau des Eingangsbriefes. Am 8. August 1966 bedankt sich Koselleck im Namen seiner Frau für die „ausgezeichnete Ritter-Schokoladenpackung, die Sie ihr zugedacht haben“ (S. 206), im Juni 1976 sendet Schmitt „ein paar Flaschen eines sehr humanen Moselweins“ (S. 296) nach Bielefeld. Jenseits dieser altbundesrepublikanischen Gabenökonomie und des akademischen Sonderdruckverkehrs bittet Schmitt, der Plettenberger Eremit ohne Bibliothekszugang, Koselleck um begriffshistorische Recherchen, etwa zum Begriff der stasis. Koselleck kommt solchen Bitten stets mit Sorgfalt und einer gewissen Beflissenheit nach, verweist aber auch immer wieder auf andere Quellen im gemeinsamen Netzwerk, in diesem Fall auf den Althistoriker Christian Meier. Schmitts eigene Literaturempfehlungen werden hingegen zusehends selbstreferentiell. Vielfach rät er Koselleck zur Relektüre seiner Schriften aus den 1930er-Jahren im Lichte aktueller politischer und historiographischer Entwicklungen. Koselleck hingegen lässt Schmitt zwar an der Entwicklung des Projekts Begriffsgeschichte und seinen Überlegungen zur Theorie historischer Zeiten teilhaben, ohne dass dieser aber vertieft darauf eingeht. Die gemeinsamen Themen verbleiben größtenteils im Umkreis der in den 1950er-Jahren begonnenen Diskussionen. Auch habituell, ablesbar etwa an den Anrede- und Grußformeln, bleibt das Lehrer/Schüler-Verhältnis über alle Karriereschritte Kosellecks hinweg bestehen.

Immer wieder aber schraubt vor allem Koselleck die gedankliche Flughöhe des Austauschs plötzlich in die Höhe. So auch im Frühsommer 1959: Am 3. Juni zeigt sich Koselleck sehr erfreut über Schmitts Angebot zur Rezension seiner Dissertation, da diese „ein Beitrag wäre, der über den zentralen Themenkreis von ‚Moral und Politik’ (oder von Angst und Liebe, anthropologisch gesehen) hinausführt“ (S. 158). Im selben Brief gesteht er, erst langsam zu begreifen, welche „Einsichten [...] in meinem Buch niedergelegt sind. [...] Die Geschichte ist dialektisch: aber wird sie dialektisch erfasst, so führt sie die Russen nach Ungarn oder die Chinesen nach Tibet. Ebenso ist die Geschichte moralisch, das heisst jede Situation hat eine Moral, die es zu leisten gilt: wird aber die Geschichte moralisch erfasst, so führt sie die Angelsachsen nach Yalta oder Suez.“ (S. 159) Am 18. Juni dann schreibt Koselleck, dass er die Druckfassung von Schmitts Rezension, deren Entwürfe er im Vorfeld nicht nur hatte einsehen, sondern auch zwischen ihnen hatte wählen können (in den Zusatzmaterialien zum Briefwechsel dokumentiert), noch nicht erhalten habe. Unvermittelt fährt er dann fort: „Die wahre Antwort auf die Freund-Feind-Theorie bleibt die christliche, und diese setzt sie voraus.“ (S. 169) Drei Tage später geht Schmitt auf die Bemerkung gar nicht ein und schickt nur ein französisches Selbstzitat: „Le secret de l’église catholique c’est qu’il n’y a pas de pouvoir indirecte.“ (S. 173: „Das Geheimnis der katholischen Kirche liegt darin, dass sie keine indirekte Gewalt kennt.“) Koselleck greift das Stichwort der indirekten Gewalt am 3. Juli auf und setzt zu einer furiosen, gleichwohl recht hermetischen Gedankenkaskade an: „Durch direkte Machtausübung läßt sich offenbar, wenigstens nicht mehr zu unseren Lebzeiten, der Globus [nicht] ordnen. Das von Ihnen genannte arcanum der katholischen Kirche wird dadurch nicht beeinträchtigt, vielmehr bestätigt. Die Geschichte des dreißigjährigen Krieges wird wohl neu entdeckt werden müssen. Auch Innen und Außen werden austauschbar. Man denke nur an das Geheimnis der Marxisten und ihr veräußertes Gewissen. Auf diesem Hintergrund wird die Berufung unserer Bundes-Fremdenführer auf ihr Gewissen doppelt fragwürdig. Denn ihr Gewissen ist weder einer direkten noch einer indirekten Gewalt unterworfen. Der einzige Mann mit ‚Gewissen‘ war Erhard. Deshalb hat er immer zu spät reagiert und deshalb hat er verloren. Sein Gewissen war ihm noch eine objektive Instanz. Er ist nicht zufällig Protestant.“ (S. 177)

Man könnte noch lange so weiterzitieren, aber Tonlage, Stil und Themenhorizont des Briefwechsels werden deutlich. Aus konkreten Anlässen wie dem Rezensionsangebot Schmitts erwachsen komplexe, verdichtete, höchst assoziative Reflexionsräume. Worum es in solchen Passagen geht, ist kaum unmittelbar ersichtlich. Warum führt eine dialektische Geschichtsauffassung die Chinesen nach Tibet? Was war das Geheimnis der Marxisten, warum war ihr Gewissen veräußert? Warum genau muss die Geschichte des 30-jährigen Krieges neu entdeckt werden? Warum bezeichnet Koselleck die (vermutlich gemeinten) bundesrepublikanischen Parlamentarier als Fremdenführer? In welchem Kontext hatte Ludwig Erhard zu spät reagiert? An Briefen wie diesem zeigen sich auch die Grenzen des eigentlich enorm sorgfältigen und hilfreichen Kommentars durch den Herausgeber Jan Eike Dunkhase. Der Briefwechsel verlangt zusätzliche detaillierte Exegese, um seine vielfältigen Resonanzräume auszuhorchen. Diese Arbeit hat gerade erst begonnen.8

Dass Koselleck aber davon ausgehen konnte, von Schmitt verstanden zu werden, verdankt sich einem geteilten esoterischen Kommunikationsmodus, in dem sich Riesling-getriebene persönliche Konversation unter vier Augen und sauerländischen Wolken und Briefwechsel zu einem endlosen Gespräch komplementierten. Die Edition dokumentiert nur einen Teil dieser komplexen Konstellation. Im Interview mit dem Siegener Studenten Claus Peppel (abgedruckt im Materialienanhang) bekennt Koselleck, im Gespräch mit Schmitt das Gefühl gehabt zu haben, „über Minen zu laufen“ (S. 374). Schmitt seinerseits weiß sehr genau, wem er was schreiben kann. Offene antisemitische Ausfälle, die etwa seine Tagebücher durchziehen und beispielsweise gegenüber dem in dieser Hinsicht gleichgesinnten Armin Mohler auch brieflich deutlicher artikuliert werden, sucht man in der Korrespondenz mit Koselleck vergeblich. Zugleich setzt Koselleck vereinzelt, aber gezielt begriffliche oder semantische Zeichen einer vermeintlichen Nähe – etwa in der Rede vom „revolutionären Aufbruch von 1933“, der „verspielt wurde“ (S. 191), oder in kulturkritischen Invektiven gegen den „moralischen Zerfall“ (S. 246) an der Universität Heidelberg post-1968 –, übergeht aber allzu heikle Positionierungen Schmitts mit Schweigen. Die Edition führt also nicht wirklich hinaus aus der „Sicherheit des Schweigens“, das Schmitt in den Gesprächen mit seinen Schülern gewahrt wissen wollte.

Die Diskussion darüber, wie viel Schmitt in Koselleck steckt, wird durch den Briefwechsel um zahllose Details und Querverweise bereichert, aber nicht revolutioniert. Die Frage, welche Impulse in die Gegenrichtung, vom Schüler zum Lehrer wirkten, kann auf seiner Grundlage überhaupt erst aufgeworfen werden. Für beide Fragestellungen bietet die Edition eine hervorragende Arbeitsgrundlage.

Anmerkungen:
1 Christof Dipper, Der Gelehrte als Schüler. Der Briefwechsel Reinhart Kosellecks mit Carl Schmitt, in: Manfred Hettling / Wolfgang Schieder (Hrsg.), Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen 2021, S. 87–111, hier S. 105.
2 Hierzu Niklas Olsen, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2021, S. 23–26.
3 Vgl. dazu systematisch jetzt mit der älteren Literatur Sebastian Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks Kritik und Krise, Berlin 2019.
4 Niklas Olsen, On Reinhart Koselleck’s Intellectual Relations to Carl Schmitt, in: Contributions to the History of Concepts 16/1 (2021), S. 141–146, hier S. 143.
5 Reinhard Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 138–168, hier S. 151.
6 Olsen, History in the Plural, S. 58–80.
7 Reinhart Koselleck, Historik und Hermeneutik [1986], in: ders. (Hrsg.), Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 97–118, hier S. 100.
8 Vgl. dazu Dipper, Gelehrte als Schüler; Reinhard Mehring, Philosophischer „Schmittianismus“? Reinhart Kosellecks Korrespondenz mit Carl Schmitt, in: Philosophische Rundschau 67 (2020), S. 34–53, sowie die Beiträge von Christian Meier u.a., Über Minen laufen. Sieben Schneisen durch den Briefwechsel von Reinhart Koselleck mit Carl Schmitt, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 14/1 (2020), S. 105–122.