Pobratimy, Verbrüderte, lautet der Titel dieses tausendseitigen Bandes, der die Evakuierung der Leningrader Bevölkerung in das sowjetische Hinterland während des Zweiten Weltkriegs beleuchtet. Ausgangspunkt für diese kollektive Arbeit unter der Leitung der Herausgeberin Julia Kantor aus St. Petersburg war die Feststellung, dass zwar mittlerweile umfangreiche Forschungsliteratur über das Schicksal der Leningrader Bevölkerung während der Blockade zwischen Oktober 1941 und Januar 1944 vorliegt, jedoch eine systematische Untersuchung der Frage fehlt, wie es jenen Bürgerinnen und Bürgern erging, die aus der Stadt evakuiert wurden. Die ganze Dramatik der Leningrader Blockade erschließt sich erst, wenn die Betrachtung nicht auf die Stadt und die Jahre 1941–1944 begrenzt bleibt, sondern räumlich die Evakuierungsorte und zeitlich die unmittelbaren Nachkriegsjahre einbezogen werden. Genau das leistet dieser Band, indem er die beschwerlichen Transporte der Evakuierung, die schwierige Lebenssituation der evakuierten Bevölkerung in den aufnehmenden Regionen sowie die Probleme der Rückführung zwischen 1944 und 1949 thematisiert. Er vereint die Beiträge zu fast dreißig Regionen.
Die Darstellung beginnt mit den nahe an Leningrad gelegenen, nordwestlichen und zentralen Gebieten Russlands, es folgen die Wolgaregion, der Ural, Sibirien und schließlich die Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan. Alle 27 Beiträge arbeiten einen vorgegebenen Fragenkatalog ab, so dass sich trotz der Vielzahl der Artikel eine Geschlossenheit ergibt. Zunächst erklären die Autorinnen und Autoren kurz die Besonderheiten des jeweiligen Gebietes in der konkreten Kriegssituation, dann nennen sie Zahlen der Evakuierungszüge aus Leningrad, schildern den gesundheitlichen Zustand und die Erstversorgung der Evakuierten, es folgt die Beschreibung des Weitertransports nach Osten oder der Unterbringung vor Ort, das Verhältnis der örtlichen Bevölkerung zu den Neuankömmlingen, die Versorgung mit Wohnraum und Lebensmitteln, die Situation der Kinder, die Arbeitsaufnahme und schließlich die Rückevakuierung. Der unschätzbare Wert aller Beiträge liegt in der Masse der sorgfältig ausgewerteten Quellen aus den regionalen Archiven und Museen. Dabei handelt es sich um die Korrespondenzen der zuständigen Behörden, um Anweisungen, Statistiken, Stimmungsberichte, Beschwerdebriefe, aber auch um persönliche Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen. Den Rahmen bilden ein einleitender Text von Julia Kantor zur Vorbereitung, Durchführung und den Zahlen der Evakuierungen sowie ein abschließender Artikel zur Reevakuierung von Irina Karpenko. Ergänzt wird das umfangreiche Werk durch eine Auswahl reproduzierter Dokumente. Entstanden ist diese Gemeinschaftsarbeit als ein Resultat des Museums- und Forschungsprojekts „Erschließung des Nordens“, das der Konzern Norilsk Nikel‘ im Rahmen seines sozialen Programms fördert.
Wer sich auf die Lektüre dieser fakten- und zahlenorientierten Darstellung einlässt, gelangt zu einer Vielzahl neuer Einblicke und begreift einmal mehr, wie dramatisch die Folgen des deutschen Angriffskriegs für die gesamte Sowjetunion und seine Bevölkerung war. Auch die Menschen im sicheren Hinterland hungerten, froren und arbeiteten schwer für die Rüstungsindustrie. Die Millionen von Evakuierten aus den westlichen Landesgebieten wurden zu Flüchtlingen, die für Jahre, manchmal für immer, ihre Heimat und ihre Nächsten verloren. Der Band konzentriert sich zwar auf das Schicksal der evakuierten Leningrader Bevölkerung, aber den Hintergrund bildet die allgemeine Situation an den Evakuierungsorten, so dass ergänzend zu den bereits existierenden Detailuntersuchungen erstmals ein umfassender Überblick über das Thema vorliegt. Bei allen regionalen Unterschieden fällt am stärksten der ungeheure Mangel an allem auf, der in den Beiträgen thematisiert wird. Die Ausnahmesituation des Krieges vervielfachte die bereits in der Vorkriegszeit herrschenden eklatanten Versorgungsengpässe und ließ die fehlende Effektivität der sowjetischen Bürokratie noch deutlicher zu Tage treten. Die Versorgung mit Brennmaterial, Nahrungsmitteln, Kleidung und anderen Konsumgütern wurde durch die Umstellung der Produktion auf kriegswichtige Erzeugnisse, durch die Versorgung der Front und durch den Anstieg der Bevölkerung an den Evakuierungsorten zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Dies traf die Zugezogenen stärker als die Alteingesessenen. Dramatisch sah zudem die Wohnsituation aus. Die Evakuierten hausten oft auf engstem Raum in ungeheizten, baufälligen Gebäuden ohne sanitäre Anlagen, ausreichend Mobiliar, Wäsche und Küchengerät.
Die Evakuierung der Leningrader Bevölkerung fand in zwei großen Wellen statt: von Kriegsbeginn bis zum Anfang der Blockade, also von Juli bis Oktober 1941, und von Januar bis Mai 1942. Relativ geordnet vollzog sich noch der frühe Abtransport wichtiger Fabriken mit ihren Arbeitern und Familien. Ein äußerst tragisches Kapitel ist dagegen die Evakuierung der Kinderheime und Sommerlager. Wie in jedem Jahr waren die Kinder im Frühsommer 1941 aus der Stadt in Pionierlager südwestlich von Leningrad geschickt worden. Dmitrij Astashkin schildert in seinem Artikel zum Leningrader Gebiet, wie bei Kriegsbeginn die Eltern versuchten, ihre Kinder zurück zu holen, was ihnen teilweise untersagt wurde. Viel zu spät kam die Evakuierung der Kinder in Gang, die sich dann angesichts der fehlenden Transportmöglichkeiten für Kinder und Erzieherinnen zu wahren Odysseen auswuchsen. Die Strapazen waren an den Bestimmungsorten oft nicht beendet, weil auf die Schnelle keine ausreichenden Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden konnten. Manche Kinder gerieten aber auch unter deutsche Besatzung, andere fanden den Tod durch Bomben, die deutsche Flugzeuge auf die Züge abwarfen. Astashkin schätzt die Zahl der Kinder, die starben oder deren Schicksal ungeklärt bleibt, auf über 80.000.
Während der ersten Blockademonate wurden per Flugzeug circa 50.000 Menschen aus Leningrad ausgeflogen, darunter hochqualifizierte Spezialisten, Kriegsverletzte und wohl auch Gefängnisinsassen. Im Januar 1942 begann die systematische Evakuierung über den zugefrorenen Ladoga-See, über die sogenannte „Straße des Lebens“. Julia Kantor schildert die Risiken, die der Transport mit sich brachte. Dazu gehörte der Beschuss durch deutsche Flugzeuge, aber auch die Kälte und die fehlende Versorgung. Die ohnehin schon Sterbenskranken mussten viele Stunden an verschiedenen Etappenpunkten in ungeheizten Baracken auf ihren Weitertransport warten. Die Zugreise im endlich erreichten Hinterland erfolgte ebenfalls in unzulänglich geheizten Waggons. Die Autoren der Artikel zum Archangelskaja und zum Vologodskaja oblast‘, wo die Transporte als erstes ankamen, berichten von schrecklichen Szenen. An den Bahnstationen, die zu Aufnahmepunkten umfunktioniert worden waren, mussten zuerst die Leichen aus den Waggons entfernt werden. Die völlig ausgehungerten Überlebenden der Blockade konnten vor Entkräftung oft nicht mehr laufen, hatten häufig Erfrierungen an den Gliedmaßen und wurden in notdürftig eingerichteten Sanitätspunkten erstversorgt. Wenige blieben an den ersten Ankunftsorten, die meisten bekamen andere Zielorte zugewiesen, die sie mit geringer Verpflegung und langen Wartezeiten erreichten.
Die Verfasserinnen und Verfasser der Artikel zu den weiter im Osten gelegenen Gebieten berichten alle, dass die Leningrader durch ihren schlimmen gesundheitlichen Zustand aus der Masse der Evakuierten herausstachen und bevorzugt behandelt wurden. Allerdings reichten die Kapazitäten oft nicht aus, Ihnen eine angemessene Versorgung zukommen zu lassen, zudem gab es auch verschiedene andere Kategorien von Evakuierten, denen ebenfalls eine Vorzugsbehandlung zustand. Das sowjetische Privilegiensystem bestand unter Kriegsbedingungen fort. Menschen mussten Wohnraum räumen, damit andere „wichtigere“ Personen dort unterkommen konnten, zugeteilte Waren kamen oft nicht bei den Leuten an, für die sie gedacht waren. Auf drastische Weise spürten die Evakuierten die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten der Bürokratie bei den Rückkehrbemühungen nach Leningrad, die 1944 einsetzten. Die Menschen wollten in ihre Heimat zurück, aber der Wohnraum hatte sich durch Kriegszerstörungen um 20 Prozent reduziert. Die Leningrader Behörden strebten den geregelten Zuzug und den gezielten Wiederaufbau der Stadt sowie der Produktion an, weshalb Leningrad nur mit einem Spezialausweis betreten werden durfte. Diesen zu bekommen, setzte eine Menge bürokratischer Lauferei sowohl in Leningrad als auch an den Evakuierungsorten voraus. Viele bemühten sich jahrelang, endlich in ihre Heimatstadt zurückkehren zu können. Manchmal fanden sie ihre Wohnung besetzt, ihr zurückgelassenes Eigentum verkauft vor, so dass weitere Mühsal folgte und Existenzen wieder bei null begonnen werden mussten.
Hier nur knapp umrissen, beschreibt der Band quellennah und detailreich ein bisher wenig erforschtes Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Auf weiterführende Interpretationen, Kontextualisierungen und Bewertungen haben alle Beteiligten verzichtet. Vielleicht lässt sich derzeit nur so die in Russland in hohem Maße ideologisch umkämpfte Forschung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ voranbringen, was diesem Band ohne Zweifel in bemerkenswerter Weise gelungen ist.