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Titel
Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit


Autor(en)
Greve, Anna
Reihe
Edition Museum 42
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Helber, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Die Stadt Bremen ist als Herkunftsort des Tabakhändlers und ersten deutschen Kolonisators in Namibia, Adolf Lüderitz (1834–1886), auf das Engste mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden. Nach dem Verlust der deutschen Kolonien durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Versailles war Bremen darüber hinaus Schauplatz kolonialrevisionistischer Diskussionen und Phantasien. Diese materialisierten sich im „Reichskolonialehrendenkmal“ von Fritz Behn in Form eines zehn Meter hohen Elefanten aus Klinker. Seit 1987 ist dieser Elefant zum „Anti-Kolonial-Denkmal“ umgewidmet und seit 2009 mit Steinen aus der Omaheke-Wüste in Namibia um einen Erinnerungsort an den von Deutschen verübten Genozid an den Herero und Nama ergänzt.

Anna Greve, Kunsthistorikerin und Leiterin des Referats „Museen, Staatsarchiv, Landesarchäologie, Landesamt für Denkmalpflege“ beim Senator in Bremen, nimmt in ihrer Aufsatzsammlung die post-koloniale Geschichte der Hansestadt zum Anlass, das koloniale Erbe innerhalb der Bremer Museen durch die Brille der Kritischen Weißseinsforschung zu betrachten. Dabei liefert sie praktische Ratschläge für Ausstellungsmacher/innen und untersucht unterschiedliche Museumstypen, größtenteils im Raum Bremen, auf transkulturelle, multiperspektivische und mehrdimensionale Narrative. Ihr Ziel ist es, weiße Ausstellungsmacher/innen, Museumsmitarbeiter/innen und Besucher/innen darin zu unterstützen, rassistische Stereotype zu überwinden und zu motivieren, sich selbst zu reflektieren. Für Greve dient „Weißsein als Analysekategorie für Gesellschaftsverhältnisse“ (S. 23). Ihrer Meinung nach „[…] leistet die Kritische Weißseinsforschung als Theorie die Kritik der reinen weißen Perspektive und damit eine Dekonstruktion traditioneller (weißer) Sichtweisen.“ Damit verbunden ist das Sichtbarmachen von Schwarzen Perspektiven, die der „Illusion der eigenen weißen als universellen Perspektive“ widersprechen (S. 38). „Im Gegensatz zu Schwarzen Personen sind weiße Personen Subjekte rassistischer Strukturen und Handlungen, sich dessen aber selten bewusst.“ (S. 29) Greve plädiert für ein „transkulturelles Vergangenheitsverständnis“ und beruft sich dabei auf Wolfgang Welsch (S. 81). „Das Ergebnis ist ein Plädoyer für ein postkoloniales Erinnerungskonzept, das als multiperspektivisches, sich permanent weiterentwickelndes Mosaik zu verstehen ist: kein Minimalkonsens, sondern ein lebendiger, generationsübergreifender Gesellschaftsprozess, in dem unterschiedliche Positionen nebeneinanderstehen, argumentativ in Dialog miteinander treten.“ (S. 41)

Ein Schritt in diese Richtung sei es, den „globalen Objektivitätsanspruch des europäischen Museums aufzugeben“ (S. 69). Dazu könnte die Abschaffung von „autoritären Textsorten Objektbeschriftung und Raumtext“ (S. 69) und deren Ersatz durch multiperspektivische Darstellungen von Objekten beitragen, bei denen die Sicht des Museums nur eine unter vielen darstellt. Greve thematisiert strukturellen Rassismus im Kulturbereich und bemängelt, dass „Programm, Personal, Publikum einer Kultureinrichtung nicht die Zusammensetzung der Gesellschaft“ (S. 177) widerspiegeln. Sie betont dabei auch, dass es Museen weniger schwer fällt, mit Eliten der Herkunftsgesellschaften von Kunst- oder Kulturobjekten zu kooperieren, als mit „in Deutschland lebenden afrikanischen Communitys und einzelnen Schwarzen Menschen“ (S. 181). Letztere sollten „Teammitglieder im Museum werden und ihre Perspektiven als integrale Bestandteile der deutschen Gesellschaft anerkannt und berücksichtigt werden“ (S. 181).

In ihrer Analyse nimmt Greve sich fünf verschiedene Museumstypen vor: 1. die Kunstkammer, 2. das Heimatmuseum, 3. das Landesmuseum, 4. das Weltmuseum und 5. das Kunstmuseum. Anhand der Kunstkammer veranschaulicht Greve das Potential von transkulturellen Objektgeschichten hinter syrischen Gläsern und italienischen Olifanten, das lange von Kunsthistoriker/innen unbeachtet blieb. Olifanten sind „ein aus der Ferne stammendes – ,exotisches‘ – Werk, das allerdings nach früheren europäischen Vorbildern für europäische Auftraggeber geschaffen und benannt wurde“ (S. 64).

Heimatmuseen charakterisiert Greve als „weiße Orte“ (S. 77). Mittels Schloss Schönebeck in Bremen-Vegesack führt sie an, wie wichtig neben dem akademischen Wissen Erfahrungswissen sein kann, um Mehrdimensionalität und Multiperspektivität beispielsweise durch Oral History zu ermöglichen. Auch wenn in Schönebeck als Exotica markierte Objekte aus ihrem Kontext herausgenommen und mit archäologischen Objekten der Region „eine neue Nachbarschaft“ (S. 79) eingehen, könne ein „neuartiger Dialog der Dinge mit dem Publikum“ aufkommen und eine neue „erkenntnistheoretische Dimension“ (S. 79) in Form einer „transkulturellen Heimat und neuen Heimatmuseen“ (S. 85) entstehen.

Greve thematisiert auch den „Legitimationsdruck“ (S. 91), der 2019 auf Weltmuseen lastet. Ihre Vergangenheit als „Völkerkundemuseen“ steht für den rassistischen und kolonialen Blick auf außereuropäische Sammlungen. Deren Präsentation war lange auf das Engste verbunden mit der Demonstration einer vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit weißer Europäer/innen. Um „Weißsein als Norm zu dekonstruieren“ (S. 95), führt Greve die Einbeziehung von zeitgenössischer Kunst im Übersee-Museum in Bremen an, in dem gegenwärtig durch die künstlerische Skulptur Looking for Grace von Sokari Douglas Camp (2013) oder aber auch diverse Videoinstallationen „individuelle Schwarze Positionen“ zu Wort kommen (S. 97).

Am Beispiel des Focke-Museums geht Greve auf die Rolle von Landesmuseen ein, „unterschiedlichen Perspektiven einen Diskursraum“ (S. 119) zu bieten. Damit dieser entstehen kann, müssen Deutungshoheit abgegeben und Räume für Kooperationen geschaffen werden. Wie Kooperationen und Dialog in transkulturellen Stadtgesellschaften gemeinsam mit einer „rassismuskritischen Kulturpolitik“ (S. 167) erfolgen können, veranschaulicht die Autorin anhand einer ausführlichen Darstellung des Bürgerdialogs in Bremen zu den Folgen des Kolonialismus (2016–2019). Dessen Ergebnisse, eine transkribierte Podiumsdiskussion mit Expert/innen, thematisch angeordnete Literaturhinweise sowie ein Glossar bilden den über 40-seitigen Anhang, der Interessierten Tipps und Erfahrungswerte für die Umsetzung eigener Projekte bietet.

Greves Aufsatzsammlung bietet nützliche Ratschläge und kritische Denkanstöße für eine rassismuskritische und multiperspektivische Museumsarbeit und demonstriert anhand der Praxis, dass für diese unabhängig von Größe oder Ausrichtung eines Museums Notwendigkeit besteht und genug Chancen zur Umsetzung existieren. Mit Kritik zu betrachten sind Greves nicht weiter erläuterte Äußerungen über eine „kulturelle und politische Radikalisierung von links und rechts“ (S. 14), die sie in die Nähe der Extremismus-Theorie rücken. Letztere wird von migrantischen Gruppen insbesondere dafür kritisiert, dass sie strukturellen Rassismus verstärke, menschenfeindliche Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft unsichtbar mache und „migrantisch situiertes Wissen“1 außer Acht lasse. Bei der Auseinandersetzung mit dem Heimatmuseum wäre eine kritischere Reflexion des Heimat-Begriffs unter Einbeziehung des von Greve für unabdingbar erklärten Erfahrungswissens von Schwarzen Deutschen und People of Color wünschenswert gewesen. Das Buch Eure Heimat ist unser Albtraum von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah artikuliert gerade aus postmigrantischer Perspektive eine deutliche Kritik an der Renaissance des Heimat-Begriffs: „,Heimat‘ hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen.“2 Letztendlich kann sich auch das Ablegen des Heimat-Begriffs, wie beim Museum Neukölln bereits 2004 geschehen, positiv auf die Wahrnehmung einer Institution auswirken.3

Anmerkungen:
1 Massimo Perinelli, Situiertes Wissen vs. Korrumpiertes Wissen, in: Barbara Dunkel / Christoph Gollasch / Kai Padberg (Hrsg.), Nicht zu fassen. Das Extremismuskonzept und neue rechte Konstellationen, Berlin 2019, S. 121.
2 Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019, S. 9.
3 „Die Jahresausstellungen des Museums Neukölln haben mit konventioneller Ausstellungsmethodik eines Heimatmuseums nichts mehr zu tun. Sie behandeln Zeitgeistthemen, verbinden Geschichte mit Gegenwart und werfen Fragen für die Zukunft auf.“ Drucksachen der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln von Berlin, XVII. Wahlperiode, Juni 2004, Archiv Museum Neukölln.