L. Haller: Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus

Cover
Titel
Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus


Autor(en)
Haller, Lea
Reihe
edition suhrkamp (2731)
Erschienen
Berlin 2019: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Philipp Müller, Hamburger Institut für Sozialforschung

Historische Darstellungen stricken aus den Spuren der Vergangenheit eine Erzählung – ein „Narrativ“ – und stellen damit Zusammenhänge her, die Quellenmaterial nicht einfach widerspiegeln, sondern deuten und erklären. Eben das Herstellen solcher Zusammenhänge macht die geschichtswissenschaftliche Arbeit aus, wie Lea Haller am Anfang ihrer Untersuchung zu Recht hervorhebt. Liest man ihr Buch über den Transithandel von seinem Ende her, erscheint die Erzählung entweder als eine Tragödie oder eine Komödie.1 Der tragische und der komische Erzählfaden sind dabei ineinander verwoben und machen unterschiedliche Deutungen der Geschichte möglich: Die Gegenwart, in der das Buch endet, lässt dann entweder einen Niedergang jenes Transithandels erkennen, der im Hauptteil des Buchs beschrieben wird, – oder seine Neugeburt unter veränderten Bedingungen.

Diese Mehrdeutigkeit resultiert aus dem Zugriff der Autorin auf ihr Thema: Unter Transithandel ist eine Form von Warenhandel zu verstehen, der weder als Import noch als Export aufgefasst werden kann. Denn die gehandelten Waren passieren nie das Land, in dem das Handel treibende Unternehmen seinen Sitz hat, sondern werden auf fremden Märkten gekauft und auf anderen fremden Märkten verkauft. Zum Transithandel wird diese Form des Warentauschs mithin nur aus einer nationalen Perspektive – in diesem Fall der schweizerischen. Lea Haller untersucht die Frage, warum sich Schweizer Unternehmen seit dem 19. Jahrhundert wirkmächtig im Transithandel – und hier insbesondere im Rohstoffhandel – engagiert haben. Damit geht es zugleich um die Frage, warum Schweizer Kaufleute in diesem Segment des globalen Kapitalismus eine wichtige Rolle spielen wollten und konnten.

Eine erste mögliche Erklärung findet sich in einem im Buch ausführlich referierten Text des britischen Publizisten Norman Angell aus dem Jahr 1910. Angell zufolge war es gerade die offen akzeptierte Trennung von politisch und wirtschaftlich kontrolliertem Raum, die (der Bevölkerungszahl nach) kleine, nicht als Kolonialmächte agierende Staaten wie die Schweiz im internationalen Handel erfolgreicher machte als Großmächte wie Frankreich oder Grossbritannien. Ohne damit politische Machtambitionen zu verfolgen, so führt Lea Haller Angells These weiter, habe die Schweiz vor dem Hintergrund dieser Trennung seit dem 19. Jahrhundert einen Rechtsrahmen geschaffen, der für Transithändler globale Geschäfte besonders leicht und gewinnträchtig machte. Ein zentraler Grund für die Bedeutung des Schweizer Transithandels war demzufolge der„Rückgriff auf den wirtschaftspolitischen Rahmen des Kleinstaats“ (S. 375). Hinter dieser These verbirgt sich der Grundgedanke, dass „Wirtschaft“ nicht von allein, im Sinne eines zu Unrecht Adam Smith zugeschriebenen Bonmots, durch die unsichtbare Hand des Marktes gesteuert wird. Vielmehr ist wirtschaftliches Handeln erst aufgrund der politischen Gestaltung von Rahmenbedingungen – in der Währungspolitik, Zollpolitik, Steuerpolitik etc. – möglich.

Eine etwas anders gelagerte Erklärung bietet der Blick auf die als Transithändler aktiven Schweizer Unternehmer. In Anlehnung an Christof Dejung – der eines der großen von Haller als Beispiel herangezogenen Handelshäuser ausführlich untersucht hat – stellt die Autorin dar, dass Schweizer Transithändler als Familienverbünde agierten, die durch eine Vielzahl verwandtschaftlicher Beziehungen miteinander verknüpft waren und damit auf das Vertrauenskapital innerhalb einer kleinen bürgerlichen Elite zählen konnten. Dieser Vorzug half bei der allgemeinen Senkung von Transaktionskosten und der Sicherung des Kapitalbedarfs.2 Vor allem aber, so ist verschiedenen Passagen des Buchs zu entnehmen, erlaubte es die Struktur der Familienfirma, auf die äußerst wechselhaften internationalen Bedingungen des Rohstoffhandels mit der notwendigen Mischung aus Stabilität und Flexibilität zu reagieren. So begegneten die Schweizer Transithändler der Aufhebung der britischen Beschränkungen des Handels zwischen englischen Kolonien und Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der Wirtschaftsblockade gegen die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg oder der neuen wirtschaftlichen Dominanz der USA nach 1918 mit neuen Verkaufs-und Absatzstrategien oder Firmenumstrukturierungen und erhielten sich damit ihre Position im internationalen Geschäft oder bauten diese sogar weiter aus.

In welchem Verhältnis diese beiden Erklärungsansätze zueinander stehen, bleibt in dem Buch in guten Teilen offen und dies ist offenbar auch durch eine Schwierigkeit in der Sache begründet. Denn die wirtschaftliche Bedeutung des Transithandels – etwa für den Ausgleich der nationalen Zahlungsbilanz – war zeitgenössischen Politikern, Ökonomen und Statistikern im 19. und Teilen des 20. Jahrhunderts schlichtweg unbekannt. Ökonomische Daten wurden zunächst nur mit unmittelbarem Bezug zur territorialen Wirtschaftseinheit der Nation erhoben. Entscheidend schienen hier die eingeführten und ausgeführten Güter, nicht die Waren, die von heimischen Firmen in anderen Teilen der Welt gehandelt wurden. Dementsprechend fand der Transithandel in der schweizerischen Wirtschaftspolitik kaum Beachtung. Im Zuge der staatlich verordneten Devisenregulierung während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre führte dies etwa dazu, dass die Schweiz in einem bilateralen Clearing-Abkommen mit Deutschland die heimischen Transithändler weitgehend unberücksichtigt ließ. Während für den direkten Export von Schweizer Industrieprodukten nach Deutschland Devisenreserven vorgesehen waren, fanden sich Schweizer Händler, die auswärtige Waren nach Deutschland vermittelten, weit hinten auf der Liste von Zahlungsansprüchen an belieferte deutsche Firmen. Der in diesem Kontext gegründete Verband der Schweizerischen Transit- und Welthandelsfirmen sah 1935 deshalb etwa ein Drittel der Geschäfte der Branche gefährdet.

Dass der Schweizer Transithandel so quasi „inkognito“ wuchs, wie Lea Haller festhält, erlaubt weitere Überlegungen zu der spezifischen Form der nationalen Politischen Ökonomie, in deren Rahmen er sich entwickelte. Offenbar wurde dieser Rahmen über einen Großteil des untersuchten Zeitraums nicht zur Förderung von Geschäften der Schweizer Transithändler geschaffen. Vielmehr bedienten sich diese des nationalen Reglements, um es bei passender Gelegenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Ob eine wirtschaftspolitische Steuerung von konkreten Zoll-, Rechts- und Steuerfragen dabei bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt eine zentrale Rolle gespielt hat, ist nicht sicher. Jedenfalls scheinen der mehr oder weniger undefinierte, eher propagandistisch aufgeladene Begriff der Neutralität und das allgemeine auswärtige Unwissen über die Schweizer Verhältnisse zumindest ähnlich relevant gewesen zu sein. Während etwa im Ersten Weltkrieg Firmen mit deutschen Anteilseignern trotz eines Sitzes in Großbritannien Opfer der alliierten Wirtschaftsblockade werden konnten, machten Schweizer Firmen ihre national-neutrale Identität geltend und erhielten sich damit profitable Geschäftsbeziehungen. Verfolgt man diesen Befund gedanklich weiter, könnte es also weniger der nationale wirtschaftspolitische Rahmen gewesen sein, der die Bedingungen für den Schweizer Transithandel definierte. Vielmehr hätten die Geschäftspraktiken der Händler dann ihrerseits zur Ausformung der Schweizer Politischen Ökonomie beigetragen. In diesem Sinne wäre also der Wirtschaftsstandort Schweiz tatsächlich als „ein Produkt der transnationalen Austausch- und Anpassungsprozesse“ zu verstehen (S. 377). Leider erfährt man über die damit aufgeworfenen interessanten Fragen im Buch zu wenig. Wiederholt wird angeführt, dass in der Schweiz zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten von jeher eine enge Verbindung bestand und diese für den Erfolg des Transithandels wichtig war. Wie aber hat man sich diese Beziehung konkret vorzustellen? In Anlehnung an Nicos Poulantzas als temporäre Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zwischen bürgerlichen Klassenfraktionen? Im Sinne von Peter Hall als ideell gestütztes Paradigma historischer Institutionen?3

In jedem Fall brachte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Veränderung der Situation. Nun boten der Schweizer Bundesstaat und die Kantone neben den Vorteilen einer stabilen Währung und dem Bankgeheimnis handfeste Steuervorteile. Allerdings provozierte die aktive politische Förderung der Standortvorzüge zunehmend auch den Zuzug ausländischer, besonders amerikanischer, später auch russischer Firmen. Die Etablierung einer dem Transithandel gewogenen aktiven Wirtschaftspolitik führte einerseits dazu, dass Firmen mit Sitz in der Schweiz beeindruckende Bedeutung im weltweiten Rohstoffhandel erlangten. Für die Gegenwart zeigen die Daten, die inzwischen auch zum Transithandel erhoben werden, dass Schweizer Firmen zwischen einem Fünftel und einem Viertel des internationalen Rohstoffhandels betreiben. In dieser Perspektive ist es dem Schweizer Transithandel gelungen, gegen mannigfache Widerstände und Konkurrenten bis heute zu bestehen und die heimische Geschäftspraxis mit den Entwicklungen des globalen Kapitalismus zu versöhnen. Der erste der beiden oben erwähnten Erzähl- und Erklärungsfäden wäre damit der dominante – und die Plotstruktur wäre die einer Komödie.

Gleichzeitig hat diese Entwicklung jedoch auch dazu geführt, dass die alteingesessenen Schweizer Familienfirmen gegenüber den zugewanderten Unternehmen bis in die frühen 2000er-Jahre ihre alte Dominanz verloren, vielfach Konkurs anmelden mussten oder in Beteiligungsgesellschaften umgewandelt wurden. Aus dieser Perspektive haben die Schweizer Unternehmer sich in ihrem Bemühen um eine die Unwägbarkeiten des globalen Kapitalismus ausgleichende nationale Wirtschaftsstruktur selbst einen übermächtigen Gegner geschaffen und sind an ihm unweigerlich zugrunde gegangen. Dies würde eher an die Plotstruktur einer Tragödie erinnern – dem zweiten auszumachenden Erklärungsansatz im Buch.

Je nachdem, ob man in der Politischen Ökonomie der Handelsnation Schweiz oder in den handelnden Akteuren die Protagonisten der von Lea Haller erzählten Geschichte erkennt, erhält das von ihr entworfene „Narrativ“ eine andere Färbung. Neben der Fülle an Informationen und Erklärungen gewinnt das Buch auch durch die Fragen, die das Verhältnis zwischen diesen beiden Deutungsvarianten aufwirft.

Anmerkungen:
1 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1994. „Komödie“ und „Tragödie“ werden hier nicht in einem wertenden oder polemischen, sondern in einem analytischen Sinn verwendet. Angesichts der Tatsache, dass die Begriffe „Narrativ“, „Narration“, „Erzählung“ in der Geschichtswissenschaft mittlerweile weithin anerkannte Instrumente der Beschreibung sind, scheint es eine amüsante Inkonsequenz, dass die von White in Anlehnung an Northrop Frye eingeführte Unterscheidung verschiedener Erzählmuster weiterhin auf Skepsis stößt.
2 Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln u.a. 2013, hier bes. S. 175ff.
3 Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, Hamburg 2002; Peter A. Hall, Policy Paradigms, Social Learning and the State, in: Comparative Politics 25 (1993), S. 275–296.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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