T. Haigh (Hrsg.): Exploring the Early Digital

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Titel
Exploring the Early Digital.


Herausgeber
Haigh, Thomas
Erschienen
Cham 2019: Springer
Anzahl Seiten
XII, 203 S.
Preis
€ 117,69
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Müggenburg, Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg

„Wir scheinen in einer Welt aufgewachsen zu sein, die wir eher durch die Beschreibungen anderer sehen als durch unsere eigene Wahrnehmung“.1 Bereits Anfang der 1970er-Jahre hat Heinz von Foerster, österreichischer Kybernetiker und Direktor des Biological Computer Laboratory an der University of Illinois, auf die Diskrepanz zwischen etablierten Begriffen und den technischen Gegebenheiten des Computers hingewiesen. Wiederholt beklagte er eine „pathologische Semantik“, die sich zum Beispiel darin äußere, dass man von Information spreche, als handle es sich bei dabei nicht um einen Prozess, sondern um ein kommodifizierbares Gut, welches man einfach verarbeiten, speichern oder austauschen könne, „als ob es Hackfleisch wäre“.2 Noch mehr ärgerte sich Foerster aber über Anthropomorphismen in der Computersprache wie „,Gedächtnis‘ (engl. memory)“, „Lernen“ oder „Problemlöser“.3 Mit der Zeit, so Foerster, fingen die Leute nämlich an, zu glauben, dass die „Funktionen, deren Namen zunächst metaphorisch gewissen Maschinenoperationen zugewiesen wurden, tatsächlich diesen Maschinen eigen sind“.4 Eindringlich warnte er seine Kolleg/innen deshalb, die Sprache nicht als ein Werkzeug hinzunehmen, „das unsere Gedanken und unsere Erfahrungen festlegt“, sondern Sprache so zu verwenden, dass sie der eigenen Wahrnehmung zum Ausdruck verhilft.5

Der von dem Computerhistoriker Thomas Haigh herausgegebene Sammelband Exploring the Early Digital steht Foersters Problembewusstsein für die formativen Eigenschaften von Sprache in nichts nach. Im Zentrum des Buches steht der Begriff der Digitalität, der heute nahezu alles zu bezeichnen scheint, was in irgendeiner Form mit dem Computer zu tun hat, und unsere Wahrnehmung von zeitgenössischer Technik daher nicht weniger prägt als die von Foerster kritisierten Semantiken. Haigh und die Beiträger/innen des Bandes treten nun an, um die Genese des Begriffs zu rekonstruieren und mit zahlreichen Missverständnissen rund um das Thema aufzuräumen (etwa mit der weit verbreiteten Auffassung, „digital“ sei gleichzusetzen mit „immateriell“). Bemerkenswerterweise wählen sie dabei aber nicht den Weg alternativer Begriffe oder Konzepte, sondern schlagen vor, die aktuelle Konjunktur des Begriffs ernst zu nehmen und Computergeschichte – insbesondere, aber nicht nur, den Zeitraum zwischen 1930 und 1950 – in Anspielung auf die Tradition geschichtswissenschaftlicher Periodisierungen als „Early Digital“ neu zu denken. Wie Haigh in der Einleitung des Sammelbandes ausführt, soll das frühdigitale Zeitalter als analytischer Rahmen dabei weder mit einer festgelegten Bedeutung des Begriffs „digital“ verbunden sein noch auf einen eindeutig eingrenzbaren Zeitraum festgelegt werden. Wo andere eine globale Transformation im welthistorischen Ausmaß sähen, präsentiere der Sammelband vielmehr „a set of localized and partial transformations enacted again and again, around the world and through time“ (S. 13). Dabei soll das Early Digital gleich in mehrfacher Hinsicht zu einer Dezentrierung des Computers beitragen, wie sie die History of Computing-Community schon seit längerem anstrebe. So werde erstens ihr Gegenstandsbereich um alle Technologien, Plattformen und Praktiken erweitert, die heute gemeinhin mit Digitalität in Verbindung gebracht werden. Die Abkehr vom Computer als eindeutig eingrenzbarem Untersuchungsgegenstand erlaube es zweitens, die eigenen Erklärungskompetenzen für alles Digitale hervorzuheben: „Historians of Computing are uniquely well placed to bring rigor to discussion of ,the Digital‘ because we are equipped to understand where technologies, platforms, and practices come from […].“ (S. 3) Nicht zuletzt hofft Haigh drittens, dass die Proklamation des Early Digital auch den Austausch zwischen Computerhistoriker/innen und Vertreter/innen anderer Fächer und Forschungsansätze wie den Medien- und Kommunikationswissenschaften, Kulturwissenschaften, Medienarchäologie, Platform Studies oder Web History fördern werde: „The ,history of computing‘ does not resonate in most such communities, whereas study of ,the early digital‘ may be more successful in forging a broader alliance.“ (S. 16)

Während die ersten Punkte als recht leicht zu durschauender (aber deshalb nicht weniger gut begründeter!) Versuch erscheinen, die Position von Computerhistoriker/innen innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie rund um das Thema Digitalität zu verbessern, darf man den letzten Punkt mit Fug und Recht als Bemühung um eine selbsterfüllende Prophezeiung verstehen: Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis zweier Workshops an der Universität Siegen und wurde mit Mitteln des DFG-Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ finanziert. Wie Erhard Schüttpelz im Vorwort des Sammelbandes betont, habe das Early Digital das Potenzial „to close the gap between media studies and the history of computing“ (S. vii). Während es einerseits aber fraglich ist, ob diese Kluft in der Vergangenheit wirklich immer so groß gewesen ist6, gelingt es den Beiträger/innen des Sammelbandes nur punktuell, das Potenzial an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Computergeschichte auszuschöpfen. So analysiert Tristan Thielmann in seinem exzellenten Beitrag die Displays des ersten programmierbaren elektronischen Computers ENIAC. Mit Rückgriff auf praxeologische und phänomenologische Methoden beschreibt der Medienwissenschaftler die ursprüngliche doppelte mediale Funktion dieser aus je 102 Glühbirnen zusammengesetzten Leuchttafeln, die sowohl zur Anzeige der Rechenoperationen als auch zur Lokalisierung fehlerhafter Vakuumröhren dienten: „This structural coupling forms part of the practical materiality of ENIAC’s data visualization.“ (S. 111) Erst im Zuge öffentlicher Vorführungen seien die von den blinken Glühlampen dargestellten Muster dann als grafische Visualisierung diskreter Datenverarbeitung präsentiert worden. Gemeinsam mit Mark Priestley befasst sich Haigh in seinem eigenen Beitrag mit den Medien der Programmierung. Die beiden Autoren stellen unterschiedliche Ansätze und Technologien zur Programmspeicherung in den 1940er-Jahren vor und erörtern deren Effekte auf Coding und Code-Design. Während Thielmanns Beitrag aber sowohl durch historiographische Präzision als auch medientheoretische Tiefe überzeugt, bleibt der Medienbegriff bei Haigh und Priestley bemerkenswert unreflektiert.

Mit Ausnahme dieser beiden Beiträge schlägt sich die angekündigte Verbrüderung zwischen Computerhistorikern und Medienwissenschaftlern (Autorinnen sind in dem Sammelband leider deutlich unterrepräsentiert) kaum auf den Inhalt des Sammelbandes nieder. Es bleibt daher zu hoffen, dass zukünftige Tagungen und Publikationen diese Kooperation im Zeichen des Early Digital auch auf methodischer und inhaltlicher Ebene mehr ausleben. Deutlich wird aber bereits jetzt, dass die historische Aufarbeitung des Digitalen eine wichtige Orientierungsfunktion für die aufgeregten Debatten unserer Zeit leisten kann. In seinem sehr lesenswerten Aufsatz skizziert Ronald Kline Ursprung und Verbreitung der Analog/Digital-Unterscheidung in den Jahren zwischen 1940 und 1970. Seine zentrale These lautet, dass der innerhalb der Ingenieurwissenschaften stets offen und kontrovers diskutierte Begriff „digital“ erst durch populäre Zeitschriften wie Scientific American mit der uns heute wohlbekannten Fortschrittserzählung verknüpft wurde. Leider räumt Kline seiner Beschreibung der Abwesenheit des „digital utopianism“ (S. 35), etwa auf den Kybernetik-Konferenzen oder in den Texten John von Neumanns, deutlich mehr Raum ein als der Analyse ihrer anschließenden Etablierung in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist sowohl mit Blick auf die dem Sammelband zugrundeliegende Thematik bedauerlich als auch in Bezug auf andere Diagnosen, wie die Behauptung, die digitale Epoche sei schlicht ein „Geschäftsmodell“ im „Wettlauf[s] der Systeme“.7 Auch Maarten Bullyncks Rekonstruktion der eher zögerlichen Übernahme von Claude Shannons boolescher Schaltalgebra als Theorie für den logischen Aufbau von Computern und Martin Campbell-Kellys Untersuchung der Programmierpraktiken rund um den EDSAC Ende der 1940er-Jahre an der University of Cambridge widersprechen dem populären Bild einer plötzlich einsetzenden digitalen Revolution. Ergänzend beleuchten William Aspray und Christopher Loughnane in ihrem Beitrag die komplexen volkswirtschaftlichen, politischen und sozialen Einflussfaktoren, durch welche sich die Computer-Industrie zwischen den Jahren 1945 und 1960 in den USA entfaltet hat.

Neben solchen Aufsätzen, die zu einer besseren Einordnung gegenwärtiger Digitalisierungs-Rhetoriken beitragen, kann der vorliegende Sammelband vor allem in Bezug auf die von Haigh angekündigte Dezentrierung des Computers überzeugen. Hier sind die Beiträge von Doron Swade, Paul Ceruzzi und Ksenia Tatarchenko hervorzuheben. Vor dem Hintergrund früher Golfsimulatoren und Anlagen zur Berechnung von Wettquoten bei Hunde- und Pferderennen in Großbritannien spricht sich Swade für die Überwindung herkömmlicher Metanarrative aus, die sich auf den Computer als Rechen- und Informationsmaschinen für (ingenieur)wissenschaftliche und militärische Zwecke konzentrieren. Auch Ceruzzi befasst sich mit einer heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Technologie. Im Mittelpunkt seines Aufsatzes steht das Zatacoding, ein von dem Informatiker Calvin Mooers in den 1950er-Jahren am Naval Ordnance Laboratory entwickeltes Verfahren zur computergestützten Datenverarbeitung mittels Randlochkarten. Während Swade und Cerruzi das Early Digital also jenseits etablierter Untersuchungsgegenstände aufsuchen, verlässt Tatarchenko auch die bekannten euroamerikanischen Schauplätze der Computergeschichte. In ihrem aufschlussreichen Aufsatz über die Nutzung von Taschenrechnern in der Sowjetunion argumentiert sie, dass das Early Digital dort in den 1980er-Jahren zwar verspätet einsetzte, sich in Bezug auf die umfassende Mobilisierung der Elektronikindustrie und die Vielfältigkeit der privaten Aneignung programmierbarer, elektronischer Geräte deutliche Parallelen zur Personal-Computer-Revolution im Westen erkennen lassen.

Unter dem Strich gelingt es den Beiträger/innen des Sammelbandes also tatsächlich, mit gewohnten Erzählungen zu brechen und somit – ganz im Sinne Foersters – zu eigenen Beschreibungen frühdigitaler Phänomene zu kommen. Auch der von Haigh in seiner Einleitung formulierten Forderung „to bring rigor and historical perspective to interdiscplinary investigation of ‚the digital‘“ (S. 16) wird damit Genüge getan. Zu hoffen bleibt jedoch, dass künftige Untersuchungen im Zeichen des Early Digital diesen begrüßenswerten Willen zu historiographischer Präzision und Nüchternheit stärker mit kultur- bzw. medienwissenschaftlichen Ansätzen und Forschungsfragen verbinden – und dabei auch Aspekte wie Race, Class, Gender und Disability berücksichtigen, wie andere Computerhistoriker/innen dies ja bereits tun.8

Anmerkungen:
1 Heinz von Foerster, Zukunft der Wahrnehmung. Wahrnehmung der Zukunft, in: ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, hrsg. von Siegfried J. Schmidt, Frankfurt am Main 1993, S. 194–210, hier S. 198.
2 Heinz von Foerster, Gedanken und Bemerkungen über Kognition, in: ders., Wissen und Gewissen, S. 77–102, hier S. 83.
3 Foerster, Kognition, S. 81–82.
4 Ebd., S. 80, Hervorhebung im Original.
5 Foerster, Zukunft, S. 198.
6 Die innerhalb der deutschsprachigen Medienwissenschaft und Kulturinformatik bereits geleistete Forschung zur Geschichte und Epistemologie der Analog/Digital-Unterscheidungen wird von dem Herausgeber und den Beiträger/innen leider nur am Rande zur Kenntnis genommen, vgl. Jens Schröter / Alexander Böhnke (Hrsg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum. Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004; Martin Warnke / Wolfgang Coy / Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Bielefeld 2005.
7 Claus Pias, Schätzen, Rechnen und die Medien des medialen Apriori, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 21 (2019), S. 155–160, hier S. 157, DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/12622 (04.03.2020).
8 Vgl. Elizabeth Petrick, Making Computers Accessible. Disability Rights & Digital Technology, Baltimore 2015; Marie Hicks, Programmed Inequality. How Britain Discarded Women Technologists and Lost its Edge in Computing, Cambridge, Mass. 2017.

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