Gold und Gulag – im Nordosten Russlands ging die Ausbeutung des Edelmetalls und von Häftlingen eine schier untrennbare Verbindung ein. „Die Kolyma“, wie das Gebiet nach seinem größten Fluss gemeinhin bezeichnet wird, wurde von Warlam Schalamow, der selbst dort Zwangsarbeit verrichten musste, als „Kältepol der Grausamkeit“ beschrieben. Das meinte sowohl die extrem harten klimatischen Bedingungen mit Temperaturen bis zu 60 Grad minus als auch das dort herrschende Gewaltregime, das – so der Schriftsteller – die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates betrieb. Bis zu Stalins Tod 1953 waren die Lager an der Kolyma keine Ausnahme, sondern dominierten die gesamte Region. Der gigantische Herrschafts- und Wirtschaftskomplex war geographisch abgeschieden, aber auch politisch und strukturell abgeschottet vom Rest des Landes, dem „Festland“. Er unterstand unmittelbar einer Hauptverwaltung des Ministeriums des Innern (MVD), dem Kombinat Dal’stroj, und war damit dem militärisch-geheimen Sektor der UdSSR zugeordnet.
„Entstalinisierung“ wird oft mit Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 assoziiert, doch setzten fundamentale Veränderungen bereits unmittelbar nach Stalins Tod ein. In dem lagergeprägten Gebiet an der Kolyma wirkte sich die Entstalinisierung, wie Mirjam Sprau in ihrer Dissertation überzeugend darlegt, als Vorgang der EntGULAGisierung und der Sowjetisierung aus, in dessen Verlauf die Umbildung der „Region der stalinistischen Extreme“ in „ein Gebiet der entstalinisierten Normalität“ erfolgte (S. 350). Wie diese Überführung in den „zivilen“ Bereich der Sowjetunion im Einzelnen vonstattenging, zeigt die Historikerin, konzentriert auf den Zeitraum 1953 bis 1960, an drei Bereichen.
Unter der Überschrift „Erobern und Verwalten“ zeichnet sie die administrativen und machtpolitischen Umbrüche nach, die bereits im März 1953 einsetzten: Der damalige Geheimdienstchef Lawrentij Berija ordnete eine Amnestie für mehrere Häftlingsgruppen an, zudem die Herauslösung von Dal’stroj aus dem MVD und seine Unterstellung unter das Ministerium für Metallindustrie. Auch wenn beiden Maßnahmen keine humanitären, sondern pragmatische Gesichtspunkte zugrunde lagen, war damit eine Entwicklung angestoßen, die sich auch nach Berijas Ausschaltung im Juli 1953 intensiv fortsetzte – auf politischer, institutioneller und personeller Ebene, wie Sprau sorgfältig rekonstruiert. Wichtige Eckpunkte der Transformation waren die Gründung des Magadaner Gebiets im Dezember 1953 sowie die Liquidierung des Staatsunternehmens Dal’stroj und die Einführung des Magadaner Volkswirtschaftsrats 1957. Die Umstrukturierungen ging mit erheblichen regionalen Machtkämpfen einher und waren begleitet vom Aufstieg der Partei zum „neuen Herrn“ der Region. Die KPdSU, die vorher in der „Parallelwelt“ des Dal’stroj-Universums kaum etwas zu sagen hatte, setzte nun ihren Führungs- und Kontrollanspruch auf dem bis dahin vom MVD beherrschten Territorium durch: „Der bisher von einem Lager-Industriellen Komplex besetzte Raum wurde von Grund auf neu vermessen, neu erschlossen, neu verwaltet und regiert.“ (S. 69)
Bedeutete dies die Entwicklung von einer inneren Kolonie zu einer gewöhnlichen sowjetischen Provinz (vgl. Kap. 1.4)? Zahlreiche Verordnungen zum institutionellen und infrastrukturellen Aufbau zielten jedenfalls auf eine Angleichung „an den allgemeinen unionsweiten Standard“ (S. 126), doch behielt die Region aufgrund der territorialen Gegebenheiten, aber auch wegen ihrer Bodenschätze einen Sonderstatus (vgl. S. 348). Insgesamt war die Aneignung oder Erschließung des bislang gleichsam fremden Gebiets und dessen strukturelle Anbindung an das Moskauer Zentrum ein zäher, keineswegs glanzvoller Prozess mit vielen Verwerfungen. Und doch bedeutete der „Schritt von der militärischen Kommandowirtschaft der MVD-Hauptabteilung zu einer autoritären bürokratischen Verwaltungsherrschaft unter Führung der Partei“ (S. 133) längerfristig einen großen Gewinn für die Region und ihre Menschen. Wie sich die Transformation in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht auswirkte, untersucht Sprau in den Kapiteln „Ausbeuten und Erschließen“ und „Beherrschen und Versorgen“.
Schon seit den späten 1940er-Jahren ,rechnete‘ sich das System der bisher praktizierten doppelten Ausbeutung nicht mehr, wenn Zwangsarbeit denn je rentabel war (vgl. Kap. 4.4): Viele der neu ankommenden Häftlinge waren gar nicht arbeitsfähig, Berufskriminelle verweigerten oft die Arbeit und bekämpften „die Politischen“, ja führten zeitweise einen „faktischen Krieg“ mit der Obrigkeit, so dass die Region als kaum noch beherrschbar galt (vgl. S. 176ff.). Zudem war das Gold in den gut zugänglichen Erdschichten erschöpft, dessen extensiver „räuberischer“ Abbau stieß an seine Grenzen, die Kosten lagen weit über dem Nutzen. Nach „depressiven“ Jahren zwischen 1953 bis 1957, die im Zeichen des wirtschaftlichen Niedergangs und der Auflösung des Lagersystems standen, waren Ende der 1950er-Jahre wieder Erfolge zu verzeichnen: Neue Goldfelder wurden entdeckt, die wissenschaftliche Erforschung sowie die Mechanisierung wurden massiv vorangetrieben, Infrastruktur, Wohnverhältnisse, Gesundheitsfürsorge und Versorgung verbesserten sich, wenn auch sehr langsam und abhängig von der geographischen Lage der Siedlungen.
Propaganda, Anwerbe- und Mobilisierungskampagnen für Magadan (nun das Schlüsselwort anstelle von Kolyma) verdrängten die „schwierige Vergangenheit“ und beschworen stattdessen die angebliche Geschichtslosigkeit des „jungen Gebiets“ oder dessen „zweite Geburt“ sowie den Pioniergeist und Enthusiasmus seiner Eroberer (vgl. S. 260ff.). Zur neuen Symbolpolitik gehörte auch, dass unter Chruschtschow die Führungslegitimation von Stalin auf die Partei übertragen wurde. Dieser wurden nun sämtliche Errungenschaften und Fortschritte zugeschrieben, während die unpersönliche Rede von „Missständen“ oder „Defiziten“ die frühere Schädlingsrhetorik ersetzte und sie damit entschärfte. Die Behauptung, dass der neue Magadaner Diskurs „elementare Voraussetzung für sich verändernde Herrschaftsverhältnisse“ (S. 335) war, mag in der Gewichtung von Ursache und Wirkung überzogen sein, doch hatten die jetzt etablierten Mythen, Zuschreibungen und Überhöhungen zweifellos wesentlichen Anteil an der „neue[n] Kultur der Beherrschung“ (S. 274) und einer positiven „mentalen Besetzung“ (S. 76) des vorher ausschließlich mit Zwangsarbeit und Unwirtlichkeit assoziierten Raums.
Die These von der Entstalinisierung als Sowjetisierung wird von Mirjam Sprau nicht nur schlüssig begründet, sondern auch materialreich belegt. Die Arbeit beruht auf gründlichen Recherchen vor Ort und in zahlreichen russischen Archiven. Die Fülle an herangezogenen Quellen – von Verwaltungsakten, Sitzungsprotokollen und Petitionen über Briefe und die „Magadanskaja Pravda“ bis zu Erinnerungen entlassener Häftlinge – und auch an Illustrationen (Karten, Fotos, Zeitungsartikel) ist bestechend. Dem entspricht eine ebenso umfassende Auswertung der Forschungsliteratur russischer und westlicher Provenienz. Entstanden ist eine profunde Studie, die sich programmatisch „zwischen einer Struktur-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte“ bewegt, um der „Mehrschichtigkeit der Transformation“ gerecht zu werden (S. 16). Gerade angesichts der Detaildichte hätte das Buch jedoch durch eine Straffung gewonnen. Der dreiteilige Ansatz, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (und ihre Repräsentationen) im Kolymaer Gebiet jeweils in ihrer Entwicklung vom Spätstalinismus bis in die 1960er-Jahre zu verfolgen, bringt eine gewisse Redundanz mit sich, sodass es häufiger zur Wiederholung von einzelnen Sachverhalten, Forschungspositionen, Zahlen und Zitaten kommt. Das erschwert etwas die Lesbarkeit der ansonsten gut geschriebenen Arbeit, ändert aber nichts an der großen Forschungsleistung und dem hohen Erkenntniswert der Studie.