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Titel
"Humanisierung der Arbeit". Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Kleinöder, Nina; Müller, Stefan; Uhl, Karsten
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Wolf, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main / International Institute of Social History, Amsterdam

Der vorliegende Tagungsband beruht auf der Idee, anhand des von der Bundesregierung in den 1970er- und 1980er-Jahren geförderten „Forschungsprogramms zur Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA-Programm) Aspekte der Sozial-, Wirtschafts- und Unternehmens- sowie Technik- und Wissensgeschichte zu integrieren und eine Geschichte der Arbeitswelten im 20. Jahrhundert zu entwickeln, die den Verbindungen von Akteuren und Institutionen nachgeht.1 In der Einleitung beschreiben Nina Kleinöder, Stefan Müller und Karsten Uhl die Vielfalt der Problembereiche, die dieses Programm berührte. Die 1.600 im HdA-Programm zwischen 1974 und 1989 geförderten Projekte beschäftigten sich mit den Themen Arbeitsschutz, Arbeitsorganisation und Normsetzung und bündelten eine Vielzahl an Institutionen. Es weckte viele Hoffnungen – bei Unternehmern, die sich durch das Humanisierungsprogramm Einsparungen bei den Arbeitskosten versprachen, und bei Fortschrittsgläubigen, die einem Ende des monotonen Fließbandalltags entgegensahen. Während die einzelnen Projekte sehr konkret und auf den Arbeitsalltag ausgerichtet waren, blieb die Definition des Begriffs „Humanisierung“ selbst eher diffus. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes verweisen fast alle auf einen gesellschaftlichen Diskurs, der sich dahinter verbarg. Stefan Müller beschreibt diesen als „Sprechen über eine menschlichere Gestaltung von Arbeit“ (S. 59), Nina Kleinöder versteht Humanisierung zeithistorisch als Sammelbegriff, der „diverse Zielvorstellungen“ implizierte (S. 101), und Jan Kellershohn versteht darunter eine „diskursive Zuschreibung“, in der das „Menschliche […] als Argument im Feld der Arbeit“ herangezogen wurde (S. 139).

Der Band beginnt mit einer Einführung in die Entstehung des HdA-Programms und seiner Fortentwicklung. Karsten Uhl geht bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück, um den Ursprung von Humanisierung zu ergründen, und zeigt überzeugend, dass die Diskurse als eine Art Gegenbewegung von Psychologen, Ärzten, Ingenieuren und Unternehmern zum Taylorismus entstanden. Im Vordergrund stand dabei allerdings immer die Optimierung von Arbeitsabläufen und Produktivitätssteigerung im Allgemeinen, auch wenn man sich mit der „Hebung der Arbeiterseele“ beschäftigen wollte (S. 41). Erst mit der betrieblichen Mitbestimmung von Arbeiterinnen und Arbeitern ging es auch um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen an sich. Stefan Müller stellt anschließend das HdA-Programm in den gesellschaftlichen und politischen Kontext seiner Zeit. Wie in so vielen Diskursen Ende der 1960er-Jahre wurde auch in Unternehmensleitungen, Gewerkschaften und Sozialdemokratie über das Verhältnis von Lebensqualität und Produktivität nachgedacht. Dabei ging es auch um konkrete Verbesserungen von Arbeits- und Unfallschutz, was sich in der Gründung von Regierungsinstitutionen und zahlreichen Gesetzen niederschlug. Die qualitative Verbesserung des Arbeitsablaufes wurde erstmals 1973 im Lohnrahmentarifvertrag II der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) in Nordwürttemberg und Nordbaden festgehalten und durch die Einrichtung von Arbeitsgruppen statt Fließbandarbeit schritt die Flexibilisierung der Produktion voran. Das HdA-Programm griff diese Debatten auf. In diesen Prozess waren, wie Müller zeigt, zahlreiche Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Arbeitsleben eingebunden, die sich auch außerhalb Deutschlands Anregungen holten. Nach einer anfänglichen Fokussierung auf große Unternehmen wie Bosch und Volkswagen kamen auch Projekte in kleinen und mittleren Betrieben sowie Dienstleistungen und Verwaltung hinzu.

Der nächste Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit dem Arbeitsschutz als zentralem Thema des HdA-Programms. Nina Kleinöder argumentiert, dass Arbeitsschutz zwar schon seit den 1950er-Jahren im Kontext des Wandels der Arbeitsgesellschaft diskutiert wurde, das HdA-Programm jedoch erstmals die gesundheitlich schädigende Situation an vielen Arbeitsplätzen quantitativ sichtbar machte. Um diese Problematik auch in die Öffentlichkeit zu tragen, konzipierte die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung eine „Ständige Ausstellung für Arbeitsschutz“. Doch fehlendes Personal und wenig konkrete Vorstellungen über Zielgruppe und Inhalt standen einer Eröffnung bis Mitte der 1980er-Jahre im Wege. Unter dem Namen „Deutsche Arbeitsschutzausstellung“ (DASA) wurde die Ausstellung in den 1990er-Jahren neu konzipiert und schließlich realisiert, wie Bernd Holtwick, der heutige stellvertretende Leiter der DASA, in seinem Beitrag darstellt.

Bis hierhin ist das Buch eine Geschichte von Experten, Wissenschaftlern, Forschungsförderern und ihren Institutionen, die sich über die Welt der Arbeit und der Arbeitenden Gedanken machten. Im Abschnitt zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im Kontext der Humanisierung folgen die Perspektiven der „Betroffenen“. Hannah Ahlheim beschreibt eine Untersuchung über die Folgen von Schichtarbeit, die in den frühen 1980er-Jahren mit Arbeitern in Duisburg-Rheinhausen durchgeführt wurde. In dieser Studie, die vor allem von „Erfahrungswissen der Betroffenen“ ausging, wurden kollektive Lebensgeschichten rekonstruiert und individuelle Erfahrungen am Arbeitsplatz, aber auch Belastungsfolgen im privaten Leben dokumentiert (S. 166). Am Beispiel von Volkswagen an den Standorten Salzgitter und Wolfsburg fragt Gina Fuhrich nach den unmittelbaren Reaktionen der Arbeiter auf die Einführung von Gruppenarbeit und Industrierobotern. Hier wird deutlich, wie der Anspruch des Programms und die Umsetzung im Betrieb auseinanderklafften: Die Arbeiter waren nur in geringem Maße gewillt, die Qualifizierungsangebote anzunehmen.

Ebenfalls ein Beispiel aus der Praxis ist der Beitrag von Bernhard Dietz über die Flexibilisierungspolitik bei den Bayerischen Motoren Werken, die zu den Vorreitern neuer Personalführungskonzepte gehörten. Mithilfe von Analysen der Bedürfnisse in der Gesellschaft und Gesprächen mit Mitarbeitern wurden Konzepte zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, zum System der Zielvereinbarung oder der Erfolgsbeteiligung entwickelt. Was Dietz als „Arbeitszeitrevolution“ im neugebauten Werk in Regensburg beschreibt, klingt wie ein Projekt der jüngsten Tage: Durch die Besetzung von zwei Arbeitsplätzen mit drei Beschäftigten konnte eine individuelle Wochenarbeitszeit von 36 Stunden bei gleichzeitiger Auslastungssteigerung der Maschinen um 35 Prozent erreicht werden (S. 200). Die damit notwendige Einführung eines weiteren Arbeitstages am Samstag stieß allerdings auf scharfe Kritik bei den Gewerkschaften. Wie sie sich insgesamt zum HdA-Programm positionierten, untersucht Moritz Müller anhand der Diskussionen in der IG Metall. Eine „menschengerechtere Arbeitswelt“ könne nur von den Arbeitenden selbst erkämpft werden, so Karl-Heinz Janzen, geschäftsführendes Vorstandsmitglied und verantwortlich für die Themen Automation und Technologie (S. 260). Es ist wohl eine Frage der Interpretation, ob man Rudolf Kuda, dem Leiter der Wirtschaftsabteilung der IG Metall, Recht darin gibt, dass es dem Staat vornehmlich um eine soziale Befriedung ging, in der das grundsätzliche Gestaltungsrecht den Unternehmern zugesprochen wurde, weshalb das Programm die Gewerkschaften verpflichtete, ihre opponierende Haltung beizubehalten, – oder ob der Staat damit dem „Imperativ der Menschenwürde“ folgte (S. 266).

Der Beitrag von Dietmar Lange ist nicht nur wichtig, weil er einen europäischen Vergleich in das Buch einführt, sondern auch weil er die Perspektive der Initiativen aus dem Betrieb aufzeigt. Am Beispiel von Fabbrica Italiana Automobili Torino (FIAT) in Italien beschreibt er, wie mithilfe von Streiks auf die gesundheitsschädliche Arbeit in der Lackiererei des Automobilwerks aufmerksam gemacht wurde. Die Gewerkschaft griff diese Proteste insofern auf, als sie eine Umweltkommission bildete, deren Ergebnisse in einen Firmentarifvertrag einflossen. Da es im Band keine Beispiele zu Initiativen von deutschen Arbeiterinnen und Arbeitern gibt, entsteht der Eindruck, als habe es hier keine Forderungen nach Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz gegeben. Dabei gab es solche Debatten und Proteste auch in Deutschland, wie der Kampf gegen Asbest beweist, den zahlreiche Werftarbeiter in den 1970er- und 1980er-Jahren führten, um sich vor der tödlichen Krankheit Asbestose zu schützen.2 Der Band verweist damit indirekt auf Leerstellen, die in aktuellen Projekten aufgegriffen wurden.3

Auch wenn es sich beim HdA-Programm um ein westdeutsches Projekt handelte, scheint in vielen Artikeln der europäische Diskurs der 1970er-und 1980er-Jahre durch. Nina Kleinöder verweist beispielsweise auf eine erstarkende internationale Debatte über Ergonomie im Kontext der Unfallverhütung, Jan Kellershohn berichtet von Diskussionen der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) über die Rationalisierung der Ausbildung in der Schwerindustrie und Bernhard Dietz spricht von Einflüssen skandinavischer Betriebsorganisation in Form von selbststeuernden Arbeitsgruppen. Um aber einen wirklich internationalen Vergleich anzustellen, bedarf es mehr als dem am Ende stehenden Artikel über die Humanisierung der Arbeit in Skandinavien. Im Parforceritt durch mehr als ein halbes Jahrhundert und drei Länder beschreibt Maths Isacson die industrielle Entwicklung Norwegens, Schwedens und Dänemarks. Dabei ist es ihm nicht möglich, eine solche Tiefenschärfe zu entwickeln, wie es die anderen Artikel zum HdA-Programm tun. Es lässt sich deshalb schwer beurteilen, ob sich die Debatten und Konflikte ähnlich entwickelten wie in Deutschland und ob die Initiativen zur Verbesserung der Arbeitssituation eher von den Gewerkschaften als von den Regierungen ausgingen, wie es die Darstellung vermuten lässt.

Offen bleibt, welche gesellschaftliche Relevanz das Programm hatte. Welche mediale und damit auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit erreichte es? Gab es andere Sektoren, beispielsweise kulturelle oder soziale, die das Thema „Humanisierung“ aufgriffen? Viele der in diesem Buch vorgestellten Projekte des HdA-Programms griffen Debatten auf, die von großer gesellschaftlicher Relevanz waren: Wertewandel, Strukturwandel, Flexibilisierung der Arbeit, aber auch Arbeitslosigkeit. Durch das Brennglas eines Bundesprogramms behandeln die Beiträge diese Themen und deuten auf eine wissenschaftliche wie soziale Breitenwirkung, die es noch zu erforschen gilt.

Anmerkungen:
1 Vgl. als Ausgangspunkt Nina Kleinöder, „Humanisierung der Arbeit“. Literaturbericht „Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens“ (Hans Böckler Stiftung, Working Paper Forschungsförderung, Nummer 008, Februar 2016), Düsseldorf 2016, https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_008_2016.pdf (13.01.2021).
2 Wolfgang Hien, Die Asbestkatastrophe. Geschichte und Gegenwart einer Berufskrankheit, in: Sozial.Geschichte Online 16 (2015), S. 89–128, https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00039056 (13.01.2021).
3 Gina Fuhrich, Humanisierung oder Rationalisierung? Arbeiter als Akteure im Bundesprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“ bei der VW AG, Stuttgart 2020. Vgl. die Beiträge auf dem Blog des Heidelberger Projektes „Aushandlung und Teilhabe im Programm Humanisierung des Arbeitslebens“, https://hdainhd.hypotheses.org/ (13.01.2021).