M. Wahl: Medical Memories and Experiences in Postwar East Germany

Cover
Title
Medical Memories and Experiences in Postwar East Germany. Treatments of the Past


Author(s)
Wahl, Markus
Series
Routledge Studies in the History of Science, Technology and Medicine
Published
London 2019: Routledge
Extent
XIV, 224 S.
Price
£ 92.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christian Sammer, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg

Eine unglaubliche Geschichte gibt Markus Wahl in der Buchversion seiner Dissertation wieder. Sie handelt vom 1914 geborenen Walter Korinek, der als SED-Mitglied und ehemaliger Medizinstudent ohne Abschluss eine steile ärztliche Karriere in der SBZ und der DDR durchlief. Nachdem er im Lazarettwesen der Wehrmacht tätig gewesen war, stieg er zunächst zum Facharzt und später zum Chefarzt in einer orthopädischen Klinik in Dresden auf. 1959 war er aufgrund von Verwicklungen in Schlägereien und Schmuggel verhaftet worden, bevor er nur einige Monate später mit dem Gehalt einer Krankenpflegerin als orthopädischer Chefarzt wieder eingestellt wurde. Erst 1964 wurde er von dieser Position entfernt, ihm jegliche ärztliche Tätigkeit untersagt und sein Fall öffentlich gemacht. Waren seine ärztlichen Fertigkeiten weniger der Grund seiner erzwungenen Demission, sondern vielmehr Grundlage, über seine Urkundenfälschung und Täuschung hinwegzusehen und ihm damit seine Karriere erst zu ermöglichen, so hatte der Hochstapler doch gegen die Meldepflicht sexuell übertragbarer Infektionserkrankungen verstoßen und illegale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt.

Die Fragen danach, wie solch eine Biografie möglich war und was die personelle Kontinuität für Patienten und Patientinnen bedeuten konnte, stehen im Mittelpunkt von Markus Wahls Untersuchung. Wahl beleuchtet damit exemplarisch die Spannungslinie zwischen den fortschrittsoptimistischen, ideologischen Ansprüchen eines zukunftszugewandten Regimes und dem Weiterwirken nationalsozialistischer Vergangenheit bis in die frühen 1960er-Jahre. Ein Thema, das Medizin- und Wissenschaftshistoriker/innen intensiv bearbeitet haben, geht es doch hierbei nicht nur um die Frage nach der mitunter rekontextualisiert verschleierten Persistenz nationalsozialistischer Ideologeme und Politiken. Auch lässt sich hieran der Mythos einer vermeintlich apolitischen (Natur-)Wissenschaft und per se humanistischen Medizin plausibel dekonstruieren.1

Diesen Kontinuitäten in der medikalen Kultur der SBZ beziehungsweise der frühen DDR spürt Markus Wahl in vier Kapiteln nach – auf der individuellen Ebene der Ärzte und Patienten sowie größer gefasst in sozialen Gruppen, Organisationen und dem Zentralstaat.2 Das Konzept der „Medical Memories and Experiences“ (S. 4) dient ihm dabei dazu, das Fortdauern von interventionistischen und stigmatisierenden Krankheits- und Behandlungskonzepten zu erklären und dies mit einer medizinischen Erfahrungsgeschichte zu verbinden. Markus Wahl hat mit Fallstudien aus Sachsen eine Medizingeschichte von unten geschrieben, welche die These der Stunde Null (nochmals) hinterfragt und exemplarisch die Reichweite des gesellschaftlichen Neuanfangs der frühen DDR auslotet. Hierzu zieht der Autor reflektiert ein beachtliches Quellenkorpus heran, das aus gesundheits- und personalpolitischen Schriftstücken aus lokalen und zentralstaatlichen Archiven, einigen Ego-Dokumenten, Bildquellen sowie Operativvorgängen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besteht.

Vor allem die Bestände aus dem NS-Archiv des MfS dienen Wahl in seinem ersten Kapitel zur Rekonstruktion der „smooth transition between the systems“ vieler Ärzte (S. 55). Der Mangel an erfahrenen Ärzten, bedingt auch durch die Bestrebungen zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens des SED-Regimes führten, so Wahl, zu einer nicht selten bis in die 1960er-Jahre hinein gezeigten Bereitschaft aufseiten der neuen Machthaber, entgegen der eigenen lautstark formulierten Ansprüche eines konsequenten Bruchs, die (nationalsozialistische) Vergangenheit ruhen zu lassen und Umschreibungen der eigenen Vergangenheit zumindest zu tolerieren. Der SED reichte zumeist eine stillschweigende beziehungsweise Pro-forma-Zustimmung zum neuen Staat, die mithilfe der Blockparteien und anderer gesellschaftlicher Massenorganisationen möglich gemacht werden konnte. Eine nach Alterskohorten unterscheidende quantitative Auswertung der Mitgliedschaft von insgesamt 128 Ärzten (die in den Blick des MfS gerieten) in den politischen Parteien vor und nach 1945 bestätigt hier ältere Befunde Michael Katers und Anna-Sabine Ernsts.3

Aufgrund der hohen Rate personeller Kontinuitäten unter den Ärzten bestand auch bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten ein hohes Maß an Persistenz überkommener Konzepte, wie Wahl in seinem zweiten Kapitel ausführt. Weniger am Bakterium (mit Penicillin), sondern vielmehr am Menschen als Überträger von Syphilis, Gonorrhöe oder Tripper setzten die Interventionen an. Mit Instrumenten des Seuchenschutzes – einer auch polizeilich durchgeführten und auf Denunziationen zurückgreifenden Identifikation, Beobachtung und Isolation – zielten die Mediziner des Öffentlichen Gesundheitswesens und ihre Kollegen in den Praxen vor allem auf weibliche Promiskuität. Sie nutzten und verstärkten damit die Stigmatisierung ebensolchen Sexualverhaltens. Dies hätten auch die flankierenden und moralisierenden Plakate und Ausstellungen des Dresdner Hygiene-Museums bewirkt, so Wahl. Auf Basis von Angst und Abschreckung hätten diese Promiskuität (vor allem von Frauen) und den Alkohol als „Kuppler“ (S. 99) gebrandmarkt, mit Strafe gedroht und die Frühehe sowie das bewusst kontrollierte Geschlechtsleben der „sozialistischen Persönlichkeit“ propagiert.

Für die Kriegskinder führte die Kontinuität im Stil der „Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ nicht nur zur Erfahrung einer interventionistischen Sozial- und Gesundheitspolitik, die in das private Sozialumfeld der Familie reichte, sexuelle und soziale Abweichung von der Norm der Erwachsenen vermischte und die Wirklichkeit der Jugendlichen ignorierte.4 Fortdauernde medizinische Konzepte verunmöglichten auch, die gewaltigen Auswirkungen schrecklicher Erlebnisse im Krieg auf die Psyche anzuerkennen. Kriegstraumatisierung zu denken war den Zeitgenossen nicht möglich. Psychiater und Staatsmediziner favorisierten hingegen entweder die Deutungen der individuell unterschiedlichen Konstitution und Disposition oder der schädlichen Einflüsse von Sozial- und Umweltfaktoren, die in Rückgriff auf Konzepte des Neo-Lamarckismus mitunter auch als vererbbar galten.5 Eugenisches Denken setzte sich auf diese Weise fort. Und in Arbeits- und Erziehungshäusern wurden Kinder und Jugendliche, die ein deviantes Verhalten an den Tag legten, zu „guinea pigs for the influencing and engineering of a new personality, society, socialist country“ (S. 135).

Auf ein solches Erziehungshaus richtet Wahl exemplarisch in seinem letzten inhaltlichen Kapitel sein Augenmerk. Auch im Fürsorgeheim Leuben prallten die hochfliegenden Träume eines sozialistischen Aufbruchs auf die Beharrungskraft der Vergangenheit. Wahl arbeitet hier den Konflikt zwischen „alten Eliten“ und den „wahren Sozialisten“ (S. 161) heraus. Während Erstere in dem mehrfach umbenannten Fürsorgeheim vorrangig eine in der Tradition der Arbeitshäuser stehende, abschreckende Institution der Inhaftierung sahen, betonten Letztere die Organisationen als Ort der Resozialisierung von devianten Jugendlichen. Während eine allgemeine Abteilung vor allem letztere Funktion übernahm, diente eine Spezialabteilung zur Verwahrung und Zwangsbehandlung von Jugendlichen, die als geschlechtskrank identifiziert worden waren. In der Praxis der Nachkriegszeit scheiterte jedoch der Versuch, aus dem Arbeitshaus eine Fürsorgeeinrichtung zu machen, die über die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft im Kleinen und der Implementierung einer auf die Förderung von Selbstständigkeit gerichteten Arbeitspädagogik (re)sozialisierende Effekte zeitigen sollte. Weder Polizei, Gesundheits- und Sozialamt noch die Justizverwaltung wollten die Verantwortung für die Organisation übernehmen. Die Trennung der als geschlechtskrank Diagnostizierten von den Jugendlichen der Fürsorgeeinrichtung und dieser beiden Gruppen vom Arbeitspersonal konnte nicht aufrechterhalten werden. Die Rate der „Dauer- oder Stammgäste“ (S. 183) blieb hoch. Leuben als Arbeitshaus blieb ein Stigma, das die Reintegration seiner Bewohner/innen in die vermeintlich neue sozialistische Gesellschaft verhinderte.6

Markus Wahl gelingt mit „Medical Memories“ eine sprachlich und Dank der Indizes und Anhänge zumeist leicht zugängliche Arbeit, die durch die Anbindung der einzelnen Kapitel an die jeweiligen Forschungsstände und seine intensive Arbeit mit gedruckten Quellen besticht. Anhand mehrerer interessanter Fallstudien beleuchtet er die Rolle medizinischer Akteur/innen und ihrer Konzepte bei der Identifizierung und Bearbeitung von Norm(abweichungen) im Kontext des Social Engineering des Sozialismus.

Wünschenswert wäre eine genauere Analyse und Kontextualisierung des Bildmaterials gewesen, welche die Vielschichtigkeit und Polyvalenz dieses Quellenmaterials beachten müsste. Konzeptionell kann auch die etwas dichotom geratene Gegenüberstellung von dunkler Vergangenheit und heller Zukunft einerseits sowie von staatlichem Geschichtsnarrativ und individueller Adaption andererseits nicht immer überzeugen. Denn dies verdeckt ein Stück weit drei Phänomene: die Zirkularität der Sinnstiftung von Erfahrung in Rückgriff auf Geschichts- und Zukunftsvisionen bei der Erinnerungsarbeit; historisch zurückliegende Alternativkonzepte, wie die deutschen Traditionen der Arbeitspädagogik oder das emanzipativ-befähigende Potenzial einer auch moralisierenden Gesundheitsaufklärung; sowie die damalige Flüssigkeit der sozialistischen Meistererzählung. Für das Argument der individuellen Agency bei der Aushandlung der eigenen Biografie wäre eine breiter auf Ego-Dokumenten basierende typisierende Systematisierung entlang der Strategien anstatt entlang der Altersgruppenzugehörigkeit darüber hinaus gewinnbringend gewesen. Manche zu lang geratenen Fazits mitsamt einer sich nicht immer in Balance befindenden Mischung aus Ankündigung, Durchführung und Zusammenfassung der Quellenanalyse behindern bisweilen den Lesefluss. In diesem Zusammenhang überraschen auch die Quellen- und Literaturverzeichnisse am Ende eines jeden Kapitels, was auf den Wunsch des Verlages zurückgeht, die einzelnen Kapitel Artikeln gleich online publizierbar zu machen. Das mag vielleicht der Praxis und den Vorlieben vieler akademischer Leser/innen entsprechen und die Verdopplungen im bibliografischen Apparat sind zu verschmerzen. Problematischer ist jedoch das sichtbare Bemühen des Verfassers, an einem roten Faden entlang eine kohärente Narration zu entwickeln, die einen Verlauf nachzeichnet und nicht in ihre Einzelteile zerfällt. Das gelingt Markus Wahl – unter anderem durch das verteilte Referieren und Referenzieren von Walter Korineks Biografie auf mehrere Kapitel – nicht durchgehend. Überzeugend entfaltet er jedoch die einzelnen Facetten seines Themas und gibt den Leser/innen einen eindrücklichen Einblick in die gesundheitspolitische Praxis einer diskriminierenden Medikalisierung von Devianz als Folge einer historischen Kontinuität des medizinischen Personals und seiner Konzepte.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch: Wolfgang Woelk / Jörg Vögele (Hrsg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland. Von der Weimarer Republik bis in die Frühgeschichte der „doppelten Staatsgründung“, Berlin 2002; Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Aleksandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006; Sigrid Oehler-Klein (Hrsg.), Die medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007; Jessica Reinisch, The Perils of Peace. The Public Health Crisis in Occupied Germany, Oxford 2013, vor allem S. 95–147.
2 Volker Roelcke, Medikale Kultur. Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung eines kulturwissenschaftlichen Konzepts in der Medizingeschichte, in: Norbert Paul / Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1998, S. 45–63.
3 Michael H. Kater, Doctors under Hitler, Chapel Hill 1989; Anna-Sabine Ernst, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ/DDR 1945–1961, Münster 1997.
4 Lutz Sauerteig, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 89.
5 Vgl. weiterführend: Igor J. Polianski, Von der Lockerung der Erbanlagen. Die Mitschurin-Biologie in der DDR, in: Constantin Goschler / Till Kössler (Hrsg.), Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945, Göttingen 2016, S. 203–228.
6 Vgl. weiterführend und deutsch-deutsch vergleichend: Greg Eghigian, The Corrigible and the Incorrigible. Science, Medicine, and the Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015.

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