Bücher über den Gulag konfrontieren ihre Leser mit der finstersten Zeit der Sowjetunion. Zwischen dem Ende der 1920er- und der Mitte der 1950er-Jahre waren ca. 18 Millionen Frauen und Männer im unionsweiten System der Lager und Gefängnisse inhaftiert. Nachdem der Gulag lange Zeit terra incognita war, brachten erst die autobiographisch fundierten Werke von Aleksandr Solschenizyn, Jewgenia Ginsburg, Warlam Schalamow und anderen die verbotene Zone ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Inzwischen ist das vormals unbekannte Terrain auch wissenschaftlich gründlich und thematisch vielseitig erschlossen, von der Historie des Gulag und der Geschichte einzelner Lager über das dort herrschende Regime und die (Über-)Lebensbedingungen bis zur Entlassung und dem schwierigen Nach-Leben. Die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, Mitbegründerin der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, und der Historiker Meinhard Stark hatten an dieser Erschließung mit ihren Publikationen großen und überaus gewichtigen Anteil.
Wer indes meint, dass mittlerweile alles zum Thema gesagt sei, wird durch die nun vorgelegten Bände eines Besseren belehrt. Die Briefe aus dem Gulag stoßen eine Tür zu einer besonderen Erfahrungswelt auf, erweitern die Kenntnis über den Lageralltag und gewähren vor allem Einblick in die Wahrnehmungen und Empfindungen der dort Eingekerkerten. Denn anders als Memoiren und lebensgeschichtliche Interviews mit ihrer Perspektive der Rückschau haben diese Zeugnisse den Vorzug des Unmittelbaren. Der oft strapazierte Begriff des Authentischen kommt hier zu seinem Recht.
Die Korrespondenz fügt sich zu einem Kompendium der Repression, einer alternativen Geschichte der Stalinzeit aus erster Hand, wobei das Verschwiegene mit zu entziffern ist. Vor allem zu Beginn der 1930er-Jahre begegnet uns in den Briefen noch häufiger die Klage über „Leid, Unglück, Ungerechtigkeit“ (Scherbakowa, S. 155), doch sind explizit politische, gar oppositionelle Aussagen in den Briefen rar. Unter all den Briefschreibern ist mit Michail Bodrow nur ein erklärter Trotzkist, der sich zu „unbändige[m] Hass“ auf das Regime bekannte (ebd., S. 50). Selbst ironische Kommentare wie die Bemerkung der Litauerin Stefanija Ladigienė, dass man ihr „einfach eine gute Säge“ zusenden möge, um in die Freiheit zu gelangen, weil sonst „unser Glück von den netten Wachposten ab[hängt], die unsere Handgelenke schonen und die Tür auf- und zuschließen“ (Stark, S. 257), sind ausgesprochen selten. Generell wird über Prügel, Drangsalierung und Schikanen so gut wie nichts berichtet – denn dass die Zensur stets mitlas, war allen bewusst. Weder wollte man Strafen riskieren, noch dass der Brief beschlagnahmt, den Adressaten vorenthalten würde; auch wollte man die Verwandten nicht mit Schilderungen des eigenen Leids belasten, da man wusste oder ahnte, dass sie es als Angehörige eines „Volksfeinds“ selber schwer hatten.
Von den Qualen, denen die Häftlinge auch jenseits physischer Folter ausgesetzt waren, verraten die Briefe – teils auch unwillkürlich – umso mehr. War die Verhaftung den meisten schon unerklärlich, fühlten sie sich doch unschuldig und als Opfer einer Verleumdung, so sank die Hoffnung mit jeder vergeblichen Eingabe, mit jedem gescheiterten Versuch, eine Revision des Urteils zu erlangen. Nicht nur der Hydrologe Alexej Wangenheim, ein international anerkannter Wissenschaftler, empfand „Wut und Schmerz“ darüber, dass alles, was er „zum Stolz der UdSSR“ (Scherbakowa, S. 29) aufgebaut und geleistet hatte, mit seiner Verhaftung 1934 entwertet wurde. 1937 wurde er erschossen, wie so viele. Im Lager machte den meisten die Sinnlosigkeit der Tätigkeiten zu schaffen, bei oft hoher beruflicher Qualifikation, und die Erschöpfung, wenn man zu den gefürchteten „allgemeinen Arbeiten“ – Bäume fällen, Kanäle ausheben, Gestein abbauen etc. – eingeteilt wurde. Auch das extreme Klima, der monotone Tagesablauf, das Zusammengepferchtsein und die unzulängliche Ernährung belasteten Physis und Psyche. Wie schlimm die Entbehrungen waren, zeigen die insistierenden Bitten um Fett, Zucker, Seife, Wäsche, Strümpfe, ein paar Rubel, obwohl man fürchtete, die Familie daheim mit solchen Aufträgen finanziell zu überfordern. Alle Strapazen akkumulierten sich durch die schier endlose Dauer der verhängten Strafen. „Ein Jahr ist schon seit dem 22. September 1937 vergangen“, schrieb der Botaniker und Heimatforscher Aleksandr Jaworski an seine Familie: „Verbleiben noch neun Jahre. Man muss sich das einmal vorstellen: Neun Jahre.“ Wie sollte man da „nicht die Flinte ins Korn“ werfen (Stark, S. 59)?
In dieser Situation kam dem Briefwechsel mit der Familie existentielle, lebenserhaltende Bedeutung zu. Doch auch in dieser Hinsicht herrschten Willkür und perfide Grausamkeit: Es gab zwar amtliche Instruktionen, in denen die Zahl der erlaubten Briefe festgelegt war, doch durften etliche Häftlingsgruppen weder Briefe schreiben noch empfangen. Überhaupt wurde das Recht auf Korrespondenz von den Lagerleitungen vielfach als Druckmittel eingesetzt und Unbotmäßigkeit mit Schreibverboten geahndet. Manche Häftlinge blieben Jahre ohne Nachricht von den Angehörigen oder warteten monatelang auf ein Paket, das schließlich halbleer ausgehändigt wurde. Andere mussten erleben, dass Fotos und Briefe bei Durchsuchungen in den Baracken konfisziert oder zerrissen wurden. Die Briefe, die sich erhalten haben, sind berührende Dokumente: Sie zeugen von der heroischen Anstrengung, sich nicht aufzugeben, weder körperlich noch moralisch zum „Lagermenschen“ zu verkommen, und dem immer wieder erneuerten Versuch, die Verbindung mit den Angehörigen aufrechtzuerhalten, auch emotional.
Die beiden nun vorgelegten Bände bieten eindrucksvolle Sammlungen dieser Botschaften aus dem Gulag. Dabei haben sie – bei allen Gemeinsamkeiten – ein je eigenes Profil. Irina Scherbakowas Band konzentriert sich auf Briefe von Vätern an ihre Kinder, wobei durch kurze Kommentare und Auszüge aus amtlichen Schriftstücken, weiteren Briefen, Erinnerungen und Gesprächen mit den Nachfahren die biographischen Konturen von 14 Familien, auch die Schicksale der Frauen und Kinder, erkennbar werden. Die Häftlinge, die hier zu Wort kommen, waren durchweg Intellektuelle – Lehrer, Ingenieure, Architekten, Wissenschaftler, Ärzte. Geprägt durch den eigenen Beruf, ist ihnen ein starker pädagogischer Impetus eigen: Die Kinder werden ermahnt, gut zu lernen, viel zu lesen, an sich zu arbeiten, um sich für die Schule und das Leben vorzubereiten. Sie sollten an die Unschuld der Väter glauben und doch ihren Platz in der sowjetischen Gesellschaft finden – ein Widerspruch, der bei Vätern wie Kindern zu „quälende[r] Zerrissenheit“ führte, wie es im Vorwort heißt (S. 14). Man spürt die Sorge, dass den Kindern eine adäquate Ausbildung verwehrt bleibe, und auch die Verzweiflung, dass man ihnen nicht weiter beistehen und helfen könne.
Umso höher sind die vielfältigen und erfindungsreichen Versuche einzuschätzen, den Kindern dennoch Werte zu vermitteln und zu ihrer Entwicklung beizutragen, und ihnen zugleich die eigene Liebe und Fürsorge zu zeigen. Gawriil Gordon, vor der Verhaftung Professor an zwei Moskauer Universitäten, hinterließ seinen Töchtern sogar eine „Kleine Einführung in die große Philosophie“ und eine „Kurze Einführung in die Geschichte“. Für die Kleineren wurden Märchen und Gedichte geschrieben und illustriert, Herbarien angelegt, Postkarten und Briefmarken gemalt, Zeichnungen von den Baracken, von „Papas Zimmerecke“, der Schlange vor der Lagerküche angefertigt, ja sogar Botschaften mit einer Fischgräte in ein Stück Stoff gestickt. Zusammen mit Familienfotos sind farbige Reproduktionen dieser Artefakte im Bildteil des Bandes enthalten. Zwar können die Abbildungen nur einen unzulänglichen Eindruck von der Beschaffenheit dieser Exponate vermitteln – sie stammen aus der Museumssammlung von Memorial und wurden 2013 bei einer Ausstellung gezeigt –, machen aber doch deren Ausstrahlungskraft deutlich: inneren Reichtum bei extremer materieller Kargheit.
Der von Meinhard Stark edierte Band ist auf andere Art ebenso bewegend. Der Umfang ist hier größer und das Spektrum an Stimmen und Stimmungen heterogener. Stellvertretend für ihre Mitgefangenen kommen 18 Frauen und Männer mit ihren Briefen an Ehepartner, Eltern und Kinder – oft ausführlich – zu Wort, wobei die Chronologie von den 1930er- über die 1940er- zu den 1950er-Jahren die Auswahl gliedert. Entsprechend den Verhaftungswellen sind nicht nur Russinnen und Russen vertreten und werden mit ihren Biographien vorgestellt, sondern auch Angehörige anderer Nationalitäten: Häftlinge aus Litauen, Polen, Georgien, der Ukraine und Deutschland. Nicht nur nach der Herkunft, auch nach ihrem Alter und Bildungsgrad sind die Absender gemischt. Während Jewgenia Ginsburg sich – auch stilistisch – am Kosmos literarischer Werke orientiert, vermag sich etwa der Soldat Iwan Solowew, der aus deutscher Kriegsgefangenschaft in sowjetische Haft geriet, nur unbeholfen auszudrücken. Ausgewertet wurden für die Edition weit mehr als die abgedruckten Schriftstücke: „Ca. 900 Briefe von annähernd hundert Gulag-Häftlingen“ (S. 8) liegen ihr zugrunde, erweitert um Interviews mit Überlebenden. Die aus diesen Zeugnissen und der wissenschaftlichen Recherche gewonnenen Erkenntnisse sind in Erläuterungen zur Lagerkorrespondenz eingegangen, die den Briefen zwischengeschaltet sind. Umfassend und ungemein informativ werden die Bedingungen rekonstruiert, denen die Kommunikation mit der Außenwelt unterlag.
Versand und Empfang von Post und Paketen blieben bis in die 1950er-Jahre weiterhin allen nur erdenklichen Restriktionen und Schikanen ausgesetzt. Wie man den Briefen entnehmen kann, änderte sich auch an den katastrophalen Haftbedingungen wenig. Doch wie ebenfalls nachvollziehbar wird, schwanden mit Dauer der Internierung oftmals die Hoffnungen. „Welch riesige, schreckliche und finstere Kluft uns trennt“ (S. 114), schrieb Iwan Moisseenko nach 16 Jahren Haft 1953 an seine Frau und meinte damit sowohl die geographische als auch die emotionale Entfernung. Die innige Verbundenheit mit Frau und Kindern, die die „Briefe von Vätern aus dem Gulag“ grundiert, ist auch hier spürbar, doch ebenso Entfremdung zwischen den Ehepartnern und die Furcht der Briefschreiber, nie mehr Kontakt zu den Kindern zu finden, die ohne sie groß geworden sind.
Es sind Dokumente einer „tiefen Menschlichkeit“ (Stark, S. 15), die in den beiden Bänden präsentiert werden; zugleich bieten sie historische Aufklärung über ein Kapitel der sowjetischen Geschichte, das inzwischen mehr und mehr in ein „kaltes Gedächtnis“ entschwindet. Gerade heute, wo in Russland ein neuer Patriotismus sogar Stalin wieder salonfähig macht, aber auch hierzulande Geschichtsvergessenheit und Empathieverlust zunehmen, sind diese Bücher wichtiger denn je.