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Titel
Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten


Autor(en)
Clark, Christopher
Erschienen
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Behrisch, Universität Utrecht

Wie dachten, sprachen und schrieben deutsche Herrscher während der vergangenen vier Jahrhunderte über Zeit und Geschichte und über ihre eigene Rolle darin? Sich dieser Frage anzunehmen, könnte kaum jemand berufener sein als Christopher Clark, der international renommierte Kenner der Geschichte Preußens. Auf Grundlage profunder Quellen- und Literaturkenntnis, mit größter Sorgfalt und mit hoher darstellerischer Klarheit analysiert er vier sehr unterschiedliche Arten der Zeit- und Geschichtsauffassung in Preußen bzw. Deutschland zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert. Spezifisch an seinem Ansatz gegenüber bisherigen Arbeiten zur Zeitwahrnehmung, so betont Clark, ist dabei seine akteurszentrierte Herangehensweise – es geht ihm um jeweils konkrete „Machtregime“ und deren hauptsächliche Träger, nicht um zeit- oder epochenspezifische Diskurse – und in Verbindung damit um konkrete Momente oder Episoden der preußisch-deutschen Geschichte, die nicht in direkter Kontinuität zueinander standen, deren herrscherliche Zeitaneignungen und -interpretationen sich aber auf die jeweils vorausgehende zumindest implizit bezogen und sich dabei meist von ihr absetzten.

Am überzeugendsten und zugleich am wenigsten überraschend ist die Darstellung des nationalsozialistischen Zeit- und Geschichtsbildes: Die NS-Ideologie postulierte einen klaren Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit der Weimarer Republik wie auch mit den vorausgegangenen Jahrhunderten und verknüpfte eine ferne, mythische Vergangenheit mit einer anbrechenden „tausendjährigen“ Zukunft. Das nationalsozialistische Zeit- und Geschichtsbild war damit geradezu anti-historisch, eine Flucht aus der Zeit in die überzeitlich-essentialistischen Kategorien von Volk und Rasse. Dies stand, wie Clark darlegt, im Gegensatz zum italienischen Faschismus, dessen Zeitvorstellung eine historische und „moderne“, auf zukünftiges materielles Wachstum gerichtete blieb, auch wenn man sich zugleich als direkten Erbe des Alten Rom ansah; und auch im Gegensatz zur sowjetischen Propaganda, die ebenfalls den gesellschaftlich-staatlichen Fortschritt erst hin zum eigenen und anschließend durch das eigene System betonte.

Die anderen drei Episoden erscheinen in sich komplexer und widersprüchlicher – abgesehen davon, dass sie sich erklärtermaßen untereinander nicht in ein logisches Entwicklungsschema bringen lassen. Friedrich Wilhelm, der „Große Kurfürst“ (reg. 1640–1688), bezog sich in Auseinandersetzungen mit den Ständen seiner Territorien wiederholt auf die Notwendigkeit, vorausblickend künftige Gefahren von diesen abwehren zu müssen: Das Argument der necessitas rechtfertigte es hier wie andernorts, von den Ständen geltend gemachte Rechte und Privilegien zu beschneiden, die den Zugriff auf die Ressourcen des Landes erschwerten. Die Stände beriefen sich demgegenüber auf Rechte und Traditionen aus uralter Vergangenheit, die sie ihrerseits für zukünftige Generationen zu bewahren hätten. Im Kontrast zu ihnen wirkt der Kurfürst somit als ein innovativer, auf die Zukunft gerichteter Planer; doch auch wenn ihm eine „antizipatorische Haltung“ eignete (S. 53), war seine Perspektive doch eher auf die unmittelbare Zukunft gerichtet und überdies nicht zuletzt der zurückliegenden „traumatischen Erfahrung“ (S. 78) des Dreißigjährigen Krieges und damit tatsächlichen Ängsten vor der erneuten Verwüstung des Landes geschuldet. Erst in den Narrativen der Hofhistoriker zum Ende seiner Herrschaft wurde er rückblickend zu dem determinierten und vorausschauenden Begründer brandenburgisch-preußischer Machtpolitik stilisiert, als der er bis heute vielfach gilt.

Noch weniger lässt sich das Zeit- und Geschichtsverständnis von Friedrich Wilhelms Urenkel, Friedrich II. (1740–1786), auf einen einfachen Nenner bringen: Im Gegensatz zu seinem durchaus auch von ihm selbst gepflegten Image als „Macher“ war ihm eine überaus fatalistische Sichtweise auf die Geschichte eigen, die er als von durch Menschen nicht beeinflussbaren, „unumstößlichen Naturgesetzen“ (S. 111) geformt sah – vor allem in Gestalt menschlicher Leidenschaften, die immer wieder weitgehend gleiche Verhaltensmuster und Abläufe erzeugten. Diese nach heutigem Verständnis ahistorische Sichtweise hatte Friedrich wiederum auf der Grundlage seiner eigenen lebenslangen und intensiven schriftstellerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte gewonnen. Sein politisches Handeln war – oder erschien zumindest ihm – folglich eher defensiv als zukunftsweisend, richtete sich mehr auf Bewahren des Bestehenden als auf Verändern; vor allem ging es ihm (neben der Festigung seiner territorialen Machtgrundlage) um die Sicherung der Stellung des heimischen Adels gegen die diesen bedrohenden, übergreifenden ökonomischen und sozialen Veränderungen. Friedrichs Verhältnis zu Zeit und Geschichte, das Clark auch als „ästhetisierte Stasis“ (S. 234) bezeichnet, besaß allerdings im Streben nach Ruhm ein Telos, das der Substanz nach transhistorisch war, sich in Friedrichs Zukunftsvorstellung aber doch historisch als Nachruhm manifestieren sollte (S. 124f.).

Bismarcks Zeit- und Geschichtsverständnis schließlich erscheint vollends zu komplex, um es schlüssig auf den Punkt zu bringen. Es war nach Clarks Darstellung jedenfalls auch nicht weit vorausblickend auf eine in konkreter Weise vorgestellte Zukunft gerichtet, sondern eher ad hoc reagierend und improvisierend, sich stets der Unvorhersehbarkeit kontingenter Ereignisse und komplexer Entwicklungen bewusst; es war grundsätzlich „entwicklungsorientiert, aber nicht fortschrittlich“, was wiederum auch mit der starken christlichen Prägung des Kanzlers zusammenhing (S. 176). Vielleicht war er dank seiner überaus vorsichtigen Zukunftseinschätzung auch ein so meisterhafter Politiker; eine Vision für die Zukunft hatte er jedenfalls nicht.

Wie Clark wiederholt betont – und anhand seiner vier Temporalbiographien auch durchaus eindrücklich vor Augen führt –, gab es an der Spitze des preußischen bzw. deutschen Staates offenbar keine nachvollziehbare langfristige Entwicklung von vormodernen, zyklischen oder (nach Koselleck) „rekursiven“ Vorstellungen von Zeit und Geschichte hin zu modernen, linearen und auf Fortschritt abzielenden, sondern eher eine zwischen diesen Polen „oszillierende Entwicklung“ (S. 233). So lässt sich gerade das Geschichtsdenken Friedrichs II., dessen Jahrhundert im Allgemeinen und dessen eigene Herrschaft im Besonderen vielfach mit dem Aufkommen eines neuartigen Fortschritts- und Machbarkeitsoptimismus assoziiert wird, viel eher als zyklisch, rekursiv oder statisch beschreiben als das der brandenburgischen Hofhistoriker des späten 17. Jahrhunderts. Letztlich allerdings kennzeichnet keinen der vier beschriebenen Typen der Zeitreflexion eine dezidierte Zukunftsaffirmation. Da Clark damit ein historisches Entwicklungs- oder Modernisierungsszenario nicht in Abrede stellen möchte, kommt er zu dem Schluss, „dass das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Modernisierung und Geschichtlichkeitsregimen möglicherweise nicht so direkt ist“, wie bisher angenommen (S. 233).

Jenseits dieser wesentlichen Einsicht sowie zahlreicher Einzelerkenntnisse innerhalb der vier empirischen Kontexte bleiben allerdings auch gewisse Fragen offen, deren Diskussion man gewünscht und letztlich auch erwartet hätte. Zunächst findet sich kein Hinweis darauf, dass sich die Zeit- oder Geschichtswahrnehmung der Hauptakteure während und vor dem Hintergrund ihrer (mit Ausnahme des „Tausendjährigen Reiches“) überdurchschnittlich langen Lebens- und Regierungszeiten in irgendeiner Weise verändert haben könnte: Während Differenzen und Widersprüche innerhalb der jeweiligen Geschichtsauffassungen säuberlich herausgearbeitet werden, sind die Darstellungen in zeitlicher Hinsicht erstaunlich flächig, ja es herrscht ein mitunter verwirrendes Vor- und Zurückspringen innerhalb der jeweiligen Biographie. Modifikationen des jeweiligen Zeitverständnisses, wie sie doch sicher bestanden, würden aber zweifellos weitergehende Aufschlüsse über deren innere Logik wie auch über ihren Bezug zu sich verändernden lebensweltlichen und politischen Situationen bieten.

Damit zusammenhängend vermisst man auch eine eingehendere Diskussion des gezielten Einsatzes des jeweiligen Zeit- und Geschichtsverständnisses zur Legitimation der eigenen Herrschaft oder konkreter Herrschaftsakte. Der Zusammenhang zwischen beiden Aspekten wird wiederholt herausgestellt (und schlägt sich ja auch im Titel des Buches nieder). Doch es bleibt grundsätzlich offen, inwieweit es sich jeweils um den taktischen, instrumentellen Einsatz einer bestimmten Zeit- oder Geschichtsvorstellung handelte – um „chronopolitische Manipulationen“, wie für den italienischen Faschismus formuliert (S. 229) –, die damit die tatsächliche zeitliche Imagination des jeweiligen Regimes gar nicht wiedergeben musste, und inwieweit es um eben solche chronologischen Selbstwahrnehmungen ging, als Ausfluss und Korrelat des Selbstverständnisses, der Selbstbeschreibung und der Selbstinszenierung eines Regimes und der von seinen Trägern absorbierten und reproduzierten Diskurse.

Schließlich: Wofür genau stehen die vier beschriebenen Arten der Zeit- und Geschichtsauffassung? Momente innerhalb einer bestimmten Entwicklung sind sie dezidiert nicht, für das jeweilige Jahrhundert stehen sie auch nicht – sondern eigentlich nur für die konkreten Personen bzw. das kollektiv verstandene NS-Regime (sowie im Falle Friedrich Wilhelms latent auch noch für einen weiteren höfischen Personenkreis). Stehen die Analysen insgesamt vielleicht für eine spezifisch (preußisch-)deutsche Ausprägung des Zeit-Bewusstseins? Clark betont, dass der Staat hier durchgehend einen zentralen Fokus abgab. Wie auch anderweitig argumentiert, stellte der Staat in der preußisch-deutschen Geschichte zweifellos einen besonders eminenten intellektuellen Bezugspunkt dar; dieser Befund aber ist hier, angesichts der durchgängig gewählten Perspektive der Machthabenden, etwas weniger bedeutsam.

Es bleibt also in letzter Instanz beim Vignettenhaften – bei in sich einigermaßen schlüssigen Rekonstruktionen wesentlicher Charakteristika der Zeit- und Geschichtsauffassungen zweier Fürsten, eines Kanzlers und eines Regimes. Vielleicht sind sie jeweils emblematisch für die vier letzten Jahrhunderte preußisch-deutscher Herrschaftsgeschichte; doch ihre innere Entwicklung, ihr gezielter Einsatz zur Herrschaftslegitimation, ihr konkreter Nexus untereinander wie auch zu ihrem jeweiligen Jahrhundert bleiben weitgehend offen. Dies ist bedauerlich, ja enttäuschend angesichts der Erwartungen an ein epochenübergreifendes Werk aus der Feder eines dazu so berufenen Historikers.

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