Russland debattiert gegenwärtig über die von Wladimir Putin angekündigten Verfassungsreformen. Passend dazu liefert William Pomeranz eine historische Gesamtschau des Verhältnisses von Staat und Recht im Russland der Neuzeit. Im Fokus stehen die Art und Weise, mit der Herrscher und Herrscherinnen die Gesetzgebung und die Organe der Rechtspflege für staatliche bzw. eigene Interessen einsetzten und entwickelten. Die Auseinandersetzung um das Recht und seine Bindekraft sei in Russland für den größten Teil seiner Geschichte geführt worden, um staatliche Autorität absichern zu können. Das Recht müsse somit als „sekundärer Akteur“ gegenüber dem Oberhaupt betrachtet werden. Dieser Top-Down-Fokus wirkt holzschnittartig, Pomeranz bezieht dennoch Akteure der Rechtspflege und Impulse aus der Jurisprudenz mit ein, um den staatlichen Gestaltungsanspruch über die Justiz auch Kontext „von unten“ zu geben. Entscheidend sei die Erwartungshaltung russischer Regierungsoberhäupter, nach der der Stellenwert von Gesetzen an dem Grad ihrer Befolgung betrachtet wurde. Dieser Zustand von „Gesetzlichkeit“ (zakonnost‘) habe wenig mit der Bindung von Herrschaft an Normen zu tun, sondern das Maß an Effizienz reflektiert, mit der regiert werden konnte.
Dieses instrumentale Rechtsverständnis habe seine Wurzeln in der Regierungszeit Peters I. Über Anleihen aus Ostmitteleuropa und der moskowitischen Tradition gelang im 18. Jahrhundert die schrittweise Vereinheitlichung der Rechtsquellen in kirchlichen und ständischen Fragen und der Ausbau eines Gerichtswesens. In vielen Bereichen blieb diese Rechtsgrundlage eher loses Stückwerk. Lokales Gewohnheitsrecht strukturierte den Alltag in allen Winkeln des Imperiums. Zugleich blieb der Souverän die einzige legislative Kraft, die jedoch die Rechtspflege als technisches Instrument in die Hände von Bürokraten legte, die die „Aufsicht“ über das Verwaltungshandeln und damit die Staatswerdung führten. Dieser Kontrast vom technischen Fortschritt bei der Kodifizierung und Rechtspflege und den funktionalen Grenzen der Justiz als verlängerter Arm einer sich entwickelnden Staatsgewalt habe auch nachfolgende Epochen geprägt.
Katharina habe den Kodifizierungsprozess dazu genutzt, die Machtvertikale und die Adelsprivilegien zu stärken. Recht sei ein Modernisierungsinstrument für effektives Regierungshandeln geblieben. Alexander I. und Nikolaus I. trieben Innovationen voran – wie die einheitliche Kompilierung aller Rechtsquellen im Imperium. Zugleich blieb die Justiz eng mit der staatlichen Bürokratie verwoben, die weder den politischen Willen noch die technischen Voraussetzungen für eine unabhängig arbeitende Justiz gebracht habe. Erst mit den Justizreformen unter Alexander II. sei der entscheidende Schritt zur Entflechtung von Justiz- und Staatsbürokratie gelungen. Neue Generationen von Richtern und Verteidigern sahen sich in Frontstellung zu einer Autokratie, die ihre Interessen mit Polizeigewalt und Sondergesetzen zu wahren suchte. Diese Reform der Institutionen habe das Rechtssystem für alle Bevölkerungsschichten geöffnet und stabilisierende Foren der Aushandlung geschaffen, ohne jedoch die Rechtsgrundlagen zu reformieren. Spielräume für ständische Privilegien und politische Einflussnahme blieben bestehen, um die Interessen von Autokratie und Staatsapparat zu schützen. Die politischen Folgen dieses Gegensatzes veranschaulicht Pomeranz an den ambivalenten Errungenschaften der „Grundgesetze“ von 1906.
Rechtliche Prozedere hätten die bis dato unangetastete Autorität Nikolaus‘ II. eingeschränkt, der jedoch weiterhin legislative und exekutive Kompetenzen in sich vereinigt habe. Der Verfassungstext gewährte erstmals Menschen- und Bürgerrechte, sei aber eben nicht konsequent implementierbar gewesen, gerade weil Nikolaus II. die Verfassung insgesamt nicht anerkannt habe. Pomeranz schließt auch die überschaubare Bilanz der Provisorischen Regierung in die Auseinandersetzung um die liberalen Ideale des „Rechtsstaats“ (pravovoe gosudarstvo) mit ein und würdigt damit ein spannendes rechtshistorisches Intermezzo.
Nach einer kurzen nihilistischen Phase setzte sich auch unter den Bolschewiki die Überzeugung durch, ihre politischen und sozialen Visionen nur auf einer eigenen, „sozialistischen“ Rechtsgrundlage verwirklichen zu können. Pomeranz veranschaulicht die Evolution dieser neuen Ordnung anhand ihrer konstitutionellen Phasen, wobei er zwei entscheidende Aspekte festhält. Zum einen habe erst die Partei als übergesetzliche Klammer Moskaus Macht über das Imperium zementieren können. Zum anderen seien, allen legalistischen Experimenten zum Trotz, Recht und Terror komplementär eingesetzt worden, um die Partei und den Staatsausbau zu sichern. Stalin habe dieses Prinzip auf die Spitze getrieben, indem ganze Gesellschaftsgruppen vom Geltungsbereich der Verfassung ausgeschlossen und individuelle Rechte, wie auch das Straf- und Zivilrecht insgesamt, den Interessen des Staates untergeordnet worden seien.
Nikita Chruschtschow habe den Reformstau in der Justiz teilweise aufgelöst, um mit der Rückkehr zur „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ die Bevölkerung bei der Auseinandersetzung sozialer Konflikte stärker einzubeziehen. Das Fundament der sowjetischen Rechtsordnung sei indes intakt geblieben. Schauprozesse wie in den 1960er-Jahren und retroaktive Rechtsprechung hätten weiterhin zum Instrumentarium der Einparteiendiktatur gehört. Die Verfassung von 1977 habe die Pluralität an Gesetzen und Dekreten eben nicht aufgelöst und individuelle Rechte nur als Gegenwert für soziale und politische Konformität garantiert. Die sowjetische Ordnung sei „fragmentiert“ in staatliche und private Sphären geblieben, wobei Letztere ohne institutionalisierte juristische Interessenvertretung informelle Wirtschafts- und Alltagspraktiken besonders begünstigt habe. Diese Anfälligkeit sei die kalkulierte Kehrseite einer Rechtsordnung gewesen, die primär auf die Wahrung staatlicher Autorität ausgerichtet gewesen sei.
Die Schlusskapitel für den Zeitraum nach 1985 nehmen über ein Drittel des Buches ein. Zusammenbruch und Transformation bilden dabei den Kern einer Verfassungskrise, die Michail Gorbatschow initiiert und Boris Jelzin mit der gewaltsamen Durchsetzung der Verfassung 1993 beendet habe. Gorbatschows Versuche, die gesamte Sowjetunion in eine Art „sozialistischen Rechtsstaat“ zu transformieren, hätten einerseits in eine Sezessionskrise geführt, die zunächst juristisch und dann militärisch und politisch ausgefochten worden sei. Anderseits habe er die Entfaltung einer unabhängigen Justiz begünstigt und konstitutionelle Debatten und zivilrechtliche Mechanismen gestärkt. Beide Entwicklungsstränge bedingten und begleiteten den Zerfall der Sowjetunion und die Geburt der Russischen Föderation. Jelzins Bilanz falle nicht nur mit Blick auf die Privatisierungswellen in teilweise rechtsfreien Räumen ambivalent aus. Er habe die Föderation mit bilateralen Verträgen gefestigt und zugleich mit militärischer Gewalt zusammengehalten. Die Errungenschaften der Verfassung, wie die bedingungslose Garantie bürgerlicher Rechte und Freiheiten oder die Hierarchisierung der Rechtsquellen, stünden im Schatten einer Verfassungsarchitektur, die staatliche Aufgaben- statt tatsächlicher Gewaltenteilung vorsehe. Korruption und ungezügelte Privatisierungswellen trübten zusätzlich die Innovationsbilanz eines schwachen Staates, der dennoch ein funktionsfähiges System der Rechtspflege habe etablieren können.
Putin sei es insgesamt gelungen, dieses System wieder der Kontrolle des Staates zu unterwerfen und zudem einige technische Reformlücken im Straf-, Zivil- und Prozessrecht zu schließen. Rechtliche und administrative Regelungen griffen ineinander, um Moskaus Machtansprüche überall in der Russischen Föderation durchzusetzen. Die Prozesse gegen Chodorkowski aber auch die Magnitski-Affäre veranschaulichten das Kalkül eines Staates, der Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Beseitigung (vermeintlicher) politischer Bedrohungen einsetze. Die Funktionsfähigkeit und Integrität der Organe der Rechtspflege sei eben nur soweit gewahrt, wie individuelle Belange nicht dem Interesse des Staates zuwiderliefen. Putins Errungenschaft sei somit die Fortführung und Erneuerung des Prinzips der „fragmentierten“ Rechtsordnung. Pomeranz sieht Putins Russland in einer Kontinuität mit schwachen und starken Staatskonstrukten, die das Recht fast durchweg als bürokratisches Projekt und dessen Durchsetzung unter der Prämisse seiner staatstragenden Effizienz bewertet haben.
Der Dualismus von zakonnost‘ und Rechtsstaatlichkeit hat nicht durchweg analytischen Mehrwert, erschwert er doch den Zugang zu russischen und sowjetischen Rechtsvorstellungen und -praktiken, die sich nicht über vermeintlich westliche Kontrastfolien erschließen lassen.1 Zudem trübt der Top-Down-Fokus den Blick für die institutionelle Eigenlogik unter den Organen der Rechtspflege.2 Doch Pomeranz bietet eben kein Handbuch der russischen Rechtsgeschichte, sondern eine Geschichte des Regierungshandelns über das Recht und über die Ansprüche und (häufig kalkulierten) Grenzen der Verrechtlichung im Russischen Imperium. Es wird dem Zweck der Bloomsbury-Serie mehr als gerecht, Studierenden diese komplexe Thematik auf aktuellstem Stand der Forschung zu erschließen.
Anmerkungen:
1 Tatiana Borisova / Jane Burbank, Russia’s Legal Trajectories, in: Kritika 19/3 (2018), S. 469–508.
2 Immo Rebitschek, Die disziplinierte Diktatur. Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz, Köln 2018.