Cover
Titel
Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980


Autor(en)
Meier, Marietta; König, Mario; Tornay, Magaly
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
336 S., 11 SW-Abb., 19 Farb-Abb.
Preis
CHF 38.00; € 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christof Beyer, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die Rede vom „chemischen Knebel“ begleitet die psychiatriekritische Betrachtung des Psychopharmaka-Einsatzes in Kliniken und Anstalten spätestens seit den 1980er-Jahren. Die Skandale um ungerechtfertigte Medikamentenverabreichungen, die in der Schweiz und in Deutschland seit den 2010er-Jahren die wissenschaftliche Forschung befeuern, scheinen zu bestätigen, was psychiatrische Medikamente aus kritischer Perspektive symbolisiert: die therapeutische Unzulänglichkeit einer sich rein medizinisch verstehenden Fachdisziplin sowie die institutionellen Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten, die sich in der Verabreichung psychoaktiver Stoffe materialisieren.

Es bedurfte in der Schweiz ebenso wie in Deutschland des öffentlichen Drucks durch betroffene Heimkinder und die Medienberichterstattung über Medikamentenprüfungen an ihnen, um die kaum zu unterschätzende Bedeutung von Psychopharmaka für die Zeitgeschichte der Psychiatrie im deutschsprachigen Raum1 genauer auf die Alltagspraxis der Medikation in Kliniken und Anstalten zu befragen. So waren es denn auch Zeitungsberichte über „Experimente in Münsterlingen“ an Heimkindern der Einrichtung St. Iddazell/Fischingen 2012, die zur seit 2019 vorliegenden und bereits in zweiter Auflage erschienenen Studie „Testfall Münsterlingen“ führten. Das Forschungsteam konnte dabei auf einen ungewöhnlich umfangreichen und „wohl einzigartigen“ (S. 17) Quellenbestand zurückgreifen, insbesondere da der seit 1939 am Psychiatrischen Krankenhaus Münsterlingen tätige Arzt Roland Kuhn und seine Ehefrau Verena Kuhn dem Staatsarchiv Thurgau einen umfangreichen Nachlass vermachten – auch mit der Absicht, das Vermächtnis Kuhns als „Entdecker“ des Antidepressivums Imipramin (Handelsname: Tofranil) zu sichern.

Unter anderem auf dieser Materialgrundlage geht die Studie in fünf Kapiteln der Entwicklung der Medikamenten-Prüfpraxis in Münsterlingen chronologisch und thematisch nach: Sie widmet sich der Einrichtung selbst und dem Beginn Roland Kuhns dort in der Phase vor der „psychopharmakologischen Revolution“ durch das Chlorpromazin (Handelsnamen: Largactil, Megaphen) 1952; thematisiert nachfolgend das „Versuchsfieber“ der 1950er-Jahre und die enge Zusammenarbeit mit dem pharmazeutischen Hersteller Geigy sowie die Gruppe der Münsterlinger „Prüfpatienten“; schildert die Veränderungen in der allgemeinen Prüfpraxis und den Umgang Kuhns damit; und beschreibt „Stofflogistik, Informationsfluss und Geldströme“ bei den Medikamenten-Erprobungen. Drei weitere Kapitel führen die Veränderung der methodischen und rechtlichen Vorgaben für solche Tests in der Schweiz in den 1970er- und 1980er-Jahren aus und befassen sich mit „fatalen Zwischenfällen“, die bei den Erprobungen aufgetreten sind.

Aus der Zusammenarbeit von Kuhn mit der Firma Geigy (später: Ciba-Geigy) 1946 bei der Prüfung des Anti-Parkinson-Mittels Parpanit entwickelte sich eine intensive, jahrzehntelange Kooperation bei Arzneimittelprüfungen, die mit der Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Imipramin auf depressive Zustände 1957 einen großen „Erfolg“ für beide Seiten zeitigte. Als „Schnellprüfer und Kundschafter“ prüfte Kuhn ab 1956 „eine Substanz nach der anderen“ (S. 77) – für den Gesamtzeitraum der Untersuchung konnte das Forschungsteam die Erprobung von 67 Stoffen an mindestens 1.112 Personen nachweisen (S. 271f.). Die von Kuhn angefertigten Prüfberichte gingen von kurzen Bemerkungen bis hin zu ausführlichen Abhandlungen (S. 83) und stützten sich auf klinische Beobachtungen durch Kuhn und das Klinikpersonal.

Diese Art der (aus heutiger Perspektive) unsystematischen Prüfung von Arzneimitteln im psychiatrischen Kontext kann nach den in der Schweiz und in Deutschland inzwischen recht zahlreich vorliegenden Studien zum Thema2 für die Zeit von Mitte der 1950er-Jahre bis Mitte der 1960er-Jahre als typisch gelten. Erste Regulierungen der Testmethoden mit dem Ziel einer größeren Validität setzten mit den 1960er-Jahren ein, was Kuhn zu einem „anachronistischen Prüfer“ (S. 269) werden ließ, der sich einer methodischen Systematisierung solcher Prüfungen mit dem Verweis auf die ihn bewegenden „daseinsanalytischen“ Überlegungen aktiv erwehrte.

Aus den Darlegungen von Meier et al. wird deutlich, dass höhere Anforderungen an die Information über und die Einwilligung in Prüfungen in der Psychiatrie gewöhnlich von außen rechtlich festgeschrieben und eingefordert werden mussten. Bei den Arzneimittelprüfungen Kuhns erfuhren stationär ebenso wie ambulant behandelte Patientinnen und Patienten ganz überwiegend nicht, dass sie Prüfpräparate erhielten. In der Klinik wurden Medikamente unter anderem auch unter das Essen gemischt oder bei Verweigerung mit Spritzen verabreicht (S. 112–114). Erst mit den 1970 von der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften verabschiedeten ethischen Richtlinien für „Forschungsuntersuchungen am Menschen“ wurde in dieser Hinsicht, so die Studie, ein endgültiger Wandel in der Praxis des klinischen Versuchs eingeleitet (S. 202). Interessant wäre in dieser Hinsicht sicherlich eine noch ausführlichere Erörterung, welche zeitgenössischen Rechtsregelungen in der Schweiz über die Bestimmungen und Empfehlungen zur klinischen Forschung hinaus zur Beurteilung der Prüftätigkeit Kuhns in Betracht gezogen werden könnten.

Die Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass die Medikamententests an Heimkindern in St. Iddazell/Fischingen in der Gesamtschau nur einen kleineren Teil der Prüfpraxis in Münsterlingen ausmachten. Das Forschungsteam stellt fest, dass zum einen die medikamentöse Behandlung von Heimkindern sich nicht von denjenigen Behandlungen von Kindern unterschied, die bei ihren Eltern lebten. Zum anderen wird festgehalten, dass deutlich mehr „chronisch Kranke“ in Münsterlingen Testsubstanzen erhalten haben dürften, ohne dass dies jemand außerhalb der Klinik erfuhr (S. 105f.). Die Gruppe der „chronisch kranken“ Patientinnen und Patienten bzw. „schweren Fälle“ in der Klinik Münsterlingen ist es auch, deren Einbezug in die Prüfungen selbst nach damaligen Maßstäben ethisch fragwürdig erscheint: Ihnen verabreichte Kuhn Präparate zum „Kennenlernen“ ihrer Wirkung bzw. „zur allgemeinen Prüfung körperlicher und psychischer Wirkungen“ (S. 88, S. 90). Im Spektrum der „alltäglichen Grenzüberschreitungen“ in der Münsterlinger Prüfpraxis, die die Publikation zutreffend problematisiert (S. 270f.), sind sie als besonders vulnerable Gruppe von Patientinnen und Patienten diesen Grenzüberschreitungen schutzlos ausgeliefert gewesen.

Insgesamt ist die Studie eine gelungene und instruktive Analyse der Prüfpraxis in einer psychiatrischen Klinik, an der mit Roland Kuhn eine besondere Person tätig war, die sowohl um die psychopharmakologische Forschung als auch um die Selbstdarstellung als bedeutender Forscher sehr bemüht war. Die „Entdeckung“ des Tofranils hat Kuhn in dieser Selbstsicht bestärkt; zeitgenössische Kritik an seinem Vorgehen war selten und bezog sich vor allem auf sein methodisches Vorgehen – medizinethische Bedenken wurden kaum laut (S. 276f.). Es ist dem Forschungsteam zuzustimmen, dass es noch eines einordnenden Vergleichs der Prüfdimensionen in Münsterlingen mit anderen Kliniken und Anstalten bedarf, der inzwischen aufgrund mehrerer weiterer Studien zum Thema besser möglich sein dürfte. Deutlich ist allerdings schon jetzt, dass Medikamentenprüfungen in Psychiatrien der Nachkriegszeit sich in ein Spektrum von „alltäglichen Grenzüberschreitungen“ einordnen, die häufig von einem mangelnden Respekt der körperlichen und seelischen Integrität gegenüber Patientinnen und Patienten und insbesondere gegenüber „chronisch Kranken“ gekennzeichnet waren.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu u.a.: Viola Balz, Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland 1950-1980, Bielefeld 2009; Volker Hess, Psychochemicals crossing the wall. Die Einführung der Psychopharmaka in der DDR aus der Perspektive der neueren Arzneimittelgeschichte, in: Medizinhistorisches Journal 42/1 (2007), S. 61–84; Magaly Tornay, Zugriffe auf das Ich. Psychoaktive Stoffe und Personenkonzepte in der Schweiz, 1945 bis 1980, Tübingen 2016; Laura Hottenrott, Arzneimittel und klinische Studien, in: Heiner Fangerau u.a. (Hrsg.), Leid und Unrecht. Kinder und Jugendliche in Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR 1949 bis 1990, Köln 2021, S. 216–268.
2 Für die Schweiz u.a.: Katharina Brandenberger, Psychiatrie und Psychopharmaka. Therapien und klinische Forschung mit Psychopharmaka in zwei psychiatrischen Kliniken der Schweiz, 1950–1980, Diss. phil., Universität Zürich 2012, https://swisscovery.slsp.ch/permalink/41SLSP_NETWORK/1ufb5t2/alma99117127046705508 (01.02.2022); Urs Germann, Medikamentenprüfungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel 1953–1980. Pilotstudie mit Vorschlägen für das weitere Vorgehen, 2017, https://www.img.unibe.ch/unibe/portal/fak_medizin/ber_vkhum/inst_medhist/content/e40437/e547138/e554300/Bericht_Medikamentenprufungen_PUK_Basel_1953-1980_ger.pdf (01.02.2022); Paul Richli, Bericht über den Umgang mit Arzneimittelversuchen in der Luzerner Psychiatrie in den Jahren 1950–1980 aus rechtlicher Sicht, 2018, https://www.lu.ch/-/media/Kanton/Dokumente/GSD/Publikationen/2018_11_23_Bericht_1_Arzneimittelversuche_A4.pdf?la=de-CH (01.02.2022); Mariana Lienhard/Flurin Condrau, Psychopharmakologische Versuche in der Psychiatrie Baselland zwischen 1950 und 1980, 2019, https://www.pbl.ch/fileadmin/user_upload/pbl-website/Broschueren_und_Flyers/Unternehmenspublikationen/Medikamententests/Universitaet_Zuerich_Studie_Medikamentenversuche.pdf (01.02.2022). Für die Bundesrepublik Deutschland u.a.: Sylvia Wagner, Arzneimittelprüfungen an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Neuroleptika sowie am Beispiel der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, Diss. rer. nat., Universität Düsseldorf 2019, https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-54600/Diss%20Sylvia%20Wagner-1.pdf (01.02.2022); Sylvelyn Hähner-Rombach / Christine Hartig, Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen zwischen 1945 und 1978, 2019, https://t1p.de/qqie6 (01.02.2022); Uwe Kaminsky/Katharina Klöcker, Medikamente und Heimerziehung am Beispiel des Franz Sales Hauses. Historische Klärungen – Ethische Perspektiven, Münster 2020; Christof Beyer u.a., Wissenschaftliche Untersuchung der Praxis der Medikamentenversuche in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in den Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien in den Jahren 1949 bis 1975, Lübeck 2021, https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/A/aufarbeitung_leid_unrecht/Downloads/Abschlussbericht_Medikamentenversuche_1949_bis_1975.pdf?__blob=publicationFile&v=3;v=3 (01.02.2022); Niklas Lenhard-Schramm / Dietz Rating / Maike Rotzoll, Göttliche Krankheit, kirchliche Anstalt, weltliche Mittel. Arzneimittelprüfungen an Minderjährigen im Langzeitbereich der Stiftung Bethel in den Jahren 1949 bis 1975, Bielefeld 2022.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension