Titel
Transatlantic Central Europe. Contesting Geography and Redefining Culture beyond the Nation


Autor(en)
Labov, Jessie
Erschienen
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Johann Willms, Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien, Ludwig-Maximilians-Universität München

Wo liegt „Mitteleuropa“? Handelt es sich bloß um einen unscharfen geographischen Begriff oder um eine Region mit definierbarer historischer und kultureller Identität, die sich von „Westeuropa“ und „Osteuropa“ unterscheidet? Seit einigen Jahren werden diese Fragen wieder neu diskutiert. Im Kontext der deutschen Geschichts- und Kulturwissenschaften etwa haben Markus Krzoska, Kolja Lichy und Konstantin Rometsch die Sinnhaftigkeit eines weit zurückreichende Kontinuitäten konstruierenden „Ostmitteleuropa“-Begriffs infrage gestellt und stattdessen für einen praxeologischen Ansatz plädiert, der kulturräumliche Identitäten als grundsätzlich situativ, als abhängig von spezifischen Akteuren und ihren Praktiken begreift.1 In der internationalen Fachdiskussion hat der illiberale politische Trend in Teilen der Region dazu geführt, eine an das normative Ideal der liberalen Demokratie geknüpfte Unterscheidung „Mitteleuropas“ von einem autoritären „Osteuropa“ zu hinterfragen.2

Jessie Labovs Studie leistet einen innovativen Beitrag zu dieser Diskussion, indem sie eine neue Perspektive auf die Konstruktionen „mitteleuropäischer“ Identität in den 1980er-Jahren wirft und diese in einen größeren zeitlichen und räumlichen Kontext einordnet. In den Mittelpunkt ihres Interesses stellt Labov die Frage, wie bestimmte mediale Ausdrucksformen kulturelle Identitätskonzepte konturieren (S. 2). Das Identitätskonzept eines zum Westen gehörenden, kulturell heterogenen „Mitteleuropas“ deutet sie als Produkt eines transatlantischen Kommunikationszusammenhangs, der im späten Kalten Krieg durch ein Netzwerk ostmitteleuropäischer Exil- (tamizdat) und Untergrundpublikationen (samizdat) entstanden sei. Außerdem nimmt sie die Vor- und Nachgeschichte solcher transnationaler Kommunikationsnetzwerke in den Blick und spannt einen Bogen vom polnisch- und ungarischsprachigen Zeitschriftenwesen der Zwischenkriegszeit bis zu den digitalen Vernetzungen antiautoritärer Protestbewegungen im Osteuropa der Gegenwart.

Ein Vorzug des Buches besteht in der Vielfalt der methodischen Zugänge, die Labov wählt. Sie beginnt mit einer Fallstudie der 1982 von ostmitteleuropäischen Exilintellektuellen ins Leben gerufenen, an eine englischsprachige Öffentlichkeit gerichteten Zeitschrift Cross Currents, die als eine Enzyklopädie mitteleuropäischer Kultur gelesen werden könne. Die liberal-humanistische Tradition der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts aufgreifend, hätten die Autoren der Zeitschrift versucht, die Kultur Mitteleuropas gleichsam nach wissenschaftlichen Kriterien zu katalogisieren. Dabei hätten sie gerade die Verflochtenheit unterschiedlicher Ethnien und Religionsgemeinschaften als Wesensmerkmal der Region begriffen, die jüdische Kultur als verbindendes Element angesehen und eine nationale Fragmentierung Mitteleuropas abgelehnt. In der amerikanischen Fachöffentlichkeit sei eine solche Definition Mitteleuropas aufgrund eines gestiegenen Interesses für kulturelle Heterogenität infolge des cultural turn auf breite Resonanz gestoßen (S. 33).

Im Anschluss daran kontextualisiert Labov dieses Konzept eines kulturell heterogenen Mitteleuropas, indem sie die Geschichte „mitteleuropäischer“ Identitätsdiskurse im 20. Jahrhundert diachron in den Blick nimmt. Einige Aspekte dieser Geschichte sind für eine deutsche Leserschaft nicht neu, so etwa die Abgrenzung des Mitteleuropa-Konzepts der 1980er-Jahre von imperialen Plänen eines deutsch beherrschten Mitteleuropas während des Ersten Weltkriegs oder die Rekonstruktion der Debatte zwischen den Schriftstellern Milan Kundera und Joseph Brodsky über das Verhältnis Mittel- und Osteuropas.3 Interessant ist jedoch Labovs Perspektive auf die jüngste Zeitgeschichte: Für sie setzte die Krise des auf kulturelle Heterogenität abhebenden Mitteleuropa-Konzepts bereits mit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren ein. Denn in Auseinandersetzung mit der postkolonial inspirierten Kritik Maria Todorovas, wonach der „Mythos“ eines zum Westen gehörenden Mitteleuropas gegenüber den christlich-orthodoxen und muslimischen Kulturen Südosteuropas exkludierend wirke4, sieht Labov die jugoslawische Staatsidee geradezu als Prototyp eines inklusiven Mitteleuropa-Gedankens an. Das Scheitern dieser Idee habe dazu beigetragen, die Realisierbarkeit der „multikulturellen Utopie“ Mitteleuropa anzuzweifeln (S. 107).

Den zweiten Teil der Studie kennzeichnet der Versuch, die Geschichte transnationaler medialer Netzwerke im 20. und 21. Jahrhundert aus der Sicht des digitalen Zeitalters neu zu perspektivieren. Zum einen bedient sich Labov der Methoden der digitalen Geisteswissenschaften, indem sie die räumliche Verteilung von Autoren, Geldgebern und Leserbriefverfassern der Zeitschrift Kultura quantitativ analysiert und mithilfe von Geoinformationssystemen graphisch visualisiert. Es handelte sich dabei um die wichtigste polnische Exilzeitschrift zur Zeit des Kalten Krieges, die auch durch Untergrundverlage im Inland verbreitet wurde. Mit ihrer Analyse möchte Labov demonstrieren, dass die liberal ausgerichtete Kultura – anders als die kommunistische Regierung Polens, aber auch nationalistische Teile des Exils behaupteten – nicht nur eine kleine intellektuelle Elite repräsentiert, sondern in der räumlich weit verstreuten polnischen Diaspora breite Akzeptanz gefunden habe (S. 152). Zum anderen zeichnet Labov am Beispiel der oppositionellen Belgrader Radiostation B92 nach, wie sich in den 1990er-Jahren Kommunikationsnetzwerke des liberalen Dissenses im östlichen Europa vom analogen in den digitalen Raum verlagerten. Von hier aus zieht sie Kontinuitätslinien zum „Cyberaktivismus“ der sogenannten Farbrevolutionen in der Ukraine, Georgien und Kirgisistan sowie belarussischer Oppositioneller im polnischen und litauischen Exil.

Labovs Betonung der Demokratisierungspotenziale lässt freilich unberücksichtigt, in welchem Ausmaß digitale Medien auch in die entgegengesetzte Richtung wirken – etwa durch die Verbreitung von Falschnachrichten und Verschwörungstheorien. Insgesamt widmet Labov den Gründen für den Popularitätsverlust des liberalen Konzepts mitteleuropäischer Identität in Teilen der so bezeichneten Region weniger Aufmerksamkeit als seiner Genese. So erwähnt sie zwar, dass der antikommunistische Dissens nicht nur liberale, sondern auch reaktionäre und nationalistische Stimmen umfasst habe, und beklagt, dass nach 1989 der am Menschenrechtsdiskurs orientierte Liberalismus der Dissidenten rasch durch eine wirtschaftsliberale Reformagenda abgelöst worden sei – zu einer stichhaltigen Erklärung für den illiberalen Trend fügen sich diese Argumente jedoch nicht zusammen.

Der hohe Grad theoretischer Reflexion geht außerdem zuweilen zulasten der sachlichen Korrektheit. König Wenzel II. von Böhmen etwa, der von 1278 bis 1305 regierte, konnte noch keine „deutschen Protestanten“ dazu einladen, sich in seinem Herrschaftsgebiet anzusiedeln (S. 57); Jerzy Giedroyc, der Herausgeber der Zeitschrift Kultura, stammte gebürtig nicht aus dem Territorium der heutigen Ukraine, sondern aus Minsk (S. 131), und ging im Zweiten Weltkrieg zunächst ins Exil nach Bukarest, nicht nach Budapest (S. 134).

Dennoch leistet Labovs Studie einen wichtigen Beitrag, indem sie die bisweilen eher kleinteilig und nationalhistorisch ausgerichtete Erforschung des ostmitteleuropäischen Exils während des Kalten Krieges in größere zeitliche und räumliche Kontexte einbettet sowie für Fragen der Mediengeschichte und der postcolonial studies anschlussfähig macht. Mit ihrer These, dass das Identitätskonzept eines zum Westen gehörenden „Mitteleuropas“ das Produkt transatlantischer Kommunikationsnetzwerke sei, macht Labov das Potenzial deutlich, das die Exilforschung gerade für die Historisierung kulturräumlicher Imaginationen birgt. Denn während die Rezeption postkolonialer Theorien in der Osteuropaforschung der 1990er-Jahre dazu führte, sich kritisch mit „westlichen“ Perspektiven auf die Region auseinanderzusetzen5, bietet die Erforschung des Exils die Möglichkeit, nach den Handlungsspielräumen nichtwestlicher Akteure im Angesicht internationaler Machtasymmetrien zu fragen. Dies wäre in der Tat ein wichtiger Schritt hin zu einem praxeologischen Ansatz, der kulturräumliche Identitäten nicht als essenzielle Gegebenheiten und auch nicht als bloße diskursive Konstruktionen des Westens, sondern als Ergebnisse von Praktiken spezifischer Akteure in spezifischen Situationen begreift – in diesem Fall als Ergebnis der Herstellung transatlantischer Kommunikationsnetzwerke durch Exil- und Untergrundaktivisten.

Anmerkungen:
1 Markus Krzoska / Kolja Lichy / Konstantin Rometsch, Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16/1 (2018), S. 40–63.
2 Vgl. etwa Aliaksei Kazharski, The End of “Central Europe”? The Rise of the Radical Right and the Contestation of Identities in Slovakia and the Visegrad Four, in: Geopolitics 23/4 (2018), S. 754–780.
3 Vgl. dazu etwa Aleksej Miller, Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa, in: Karl Kaser / Dagmar Gramshammer-Hohl / Robert Pichler (Hrsg.), Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens, Bd. 11, Klagenfurt 2003, S. 139–163.
4 Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 2009, S. 140–160.
5 Klassisch hierzu neben dem zitierten Werk Todorovas vor allem Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.

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