Cover
Titel
Libertas. Secoli X–XIII


Herausgeber
D'Acunto, Nicolangelo; Filippini, Elisabetta
Reihe
Settimane internazionali della Mendola. Nuova Serie (6)
Erschienen
Mailand 2019: Vita e Pensiero
Anzahl Seiten
XVIII, 461 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eugenio Riversi, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Man kann kaum ein geeigneteres Beispiel auswählen als das des libertas-Begriffs, um die allgemeine Herausforderung der hermeneutischen Operation in den historischen Kulturwissenschaften zu zeigen. Im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts wurde der Freiheit der Hauptaltar der westlichen Modernität geweiht, sodass diese Wertvorstellung – explizit oder implizit; positiv, negativ oder dialektisch – in einer entscheidenden Phase der Entstehung und Institutionalisierung der Geisteswissenschaften zu einem der beliebtesten Deutungsparadigmen der Geschichte wurde. Etwas diffiziler als üblich ist dann der Hürdenlauf zurück zu vormodernen Denkkonstellationen, in denen durch das Wort libertas oder auch zum Beispiel liberty/freedom1 auf einen vielschichtigen Begriff verwiesen wurde: eine Vielschichtigkeit, die selbstverständlich anders ist als die heutige, obwohl man in den Quellen immer wieder Stränge von semio-kulturellen Merkmalen dekodieren kann, die – und das erhöht den Schwierigkeitsgrad – in die späteren modernen Synthesen eingegangen sind.

Im sechsten Sammelband aus der neuen Reihe der Settimane internazionali della Mendola kann man bis zu den zentralen Jahrhunderten des Mittelalters (10.–13. Jahrhundert) zurückgehen, um die damalige Vielfalt des Begriffs festzustellen. Der Band, der in zwei Teile gegliedert ist – einen mit der schriftlichen Fassung der Vorträge der Tagung (relazioni) und einen mit den Beiträgen jüngerer Forscherinnen und Forscher (comunicazioni) –, wird von fünf Aufsätzen eröffnet, die eine umfassendere Perspektive haben. Der erste, den Jean-Claude Schmitt der Eroberung der Freiheit widmet, ist ein zusammenfassender Überblick, bietet aber keine besonderen Anregungen zur Entwicklung neuer Fragestellungen zum Thema. Das gilt teilweise auch für den nachfolgenden Beitrag von Alessandro Barbero. Er stellt zwar die spannende Frage nach dem Verhältnis zwischen libertas und ethos bzw. dem Tugendsystem des Adels, aber er kommt nach einer Reihe von Beispielen nur zum allgemeinen Ergebnis, dass es keinen Widerspruch zwischen frei gewählter Unterordnung (bzw. ehrenhaftem Dienst) und Freiheit gibt.

Deutlich anregender sind die drei folgenden allgemeinen Beiträge. Zunächst stellt Florian Mazel sehr überzeugend eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der libertas ecclesiae dar, die er mit den Veränderungen der räumlichen Dimension kirchlicher Institutionen im Hochmittelalter verbindet. Ausgehend von den frühmittelalterlichen Voraussetzungen beschreibt Mazel den Übergang von einer defensiven Vorstellung begrenzter heiliger Räume (Polarisierung) zu einer offensiven territorialen Konzeption (Territorialisierung). Eine neue Raumlogik in Bezug auf den Begriff der libertas habe sich deshalb seit dem Ende des 11. Jahrhunderts entwickelt: Die kirchlichen Institutionen dachten sich nicht mehr als heilige Ausnahmeorte, sondern als Epizentren eines Territoriums. Das untermauerte den Anspruch des Papstes und der Bischöfe auf die Ausdehnung der Souveränität der Kirche auf die ganze Welt: zum Beispiel durch eine „fiscalité universelle“ (S. 52).

Im folgenden Beitrag reflektiert Nicolangelo D’Acunto die Alterität des Begriffs Freiheit anhand seiner Beziehung zum hierarchischen Prinzip: Er setzt sich direkter und bewusster als die anderen Autoren mit Gerd Tellenbachs klassischer Monographie über die libertas auseinander.2 Einerseits waren Freiheit und hierarchisches Denken in der Kirche laut D’Acunto keine gegensätzlichen Wertkonstellationen, sondern kompatible Konzeptionen. Andererseits hebt D’Acunto die vielfältigen Spannungsfelder hervor, die zum Beispiel um konkurrierende Gehorsamspflichten entstanden: „campi di tensione dialettica tra differenti modelli di compatibilità dei diversi sistemi in gioco“ (S. 61). In diesen Bündeln von – durch den Investiturstreit noch zugespitzten – Spannungsverhältnissen ergaben sich immer wieder konkrete soziale Räume für eine unaufhaltsame Freiheitausübung bei zweck- oder wertorientierten Entscheidungen. Diese stellten sich den Ansprüchen entgegen, eine erneuerte, auf Gehorsam zentrierte, hierarchische Ordnungskonfiguration aufzubauen, die vor allem das Papsttum vorantrieb. Eine passende Ergänzung der Darstellung D’Acuntos bietet deshalb der letzte umfassendere Aufsatz des Bandes, in dem Gert Melville ausgehend von einem paulinischen Spruch – „wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor. 3, 17) – ein zentrales Spannungsverhältnis der mittelalterlichen Institutionalität reflektiert: die potentielle Transzendierung jedes institutionellen irdischen Ordens der christlichen Gemeinschaft durch die libertas Spiritus Domini.

Die weiteren Beiträge des ersten Teils konzentrieren sich auf begrenztere Kontexte oder thematische Bereiche. Wolfgang Huschner und Guido Cariboni vertiefen die Bedeutung des Begriffs libertas in den kaiserlichen Privilegien, die verschiedenen Empfängern in unterschiedlichen Phasen des Hochmittelalters verliehen wurden. Huschner betrachtet die libertas der Klöster im nordalpinen Reich unter den Ottonen und dem ersten salischen Herrscher (936–1039) und zeigt, dass libertas eine nicht seltene – aber keinesfalls notwendige – Bezeichnung war, um den variablen Status der religiösen Gemeinschaften zu definieren, die mit den Königen auf besondere Weise verbunden waren. Cariboni analysiert die Bedeutung der libertas in den Privilegien Friedrichs Barbarossa für die italienischen Städte: Dadurch wurde eine besondere Beziehung zum Kaiser betont, der den Städten – genau wie den Klöstern – die Freiheit(en) schenkte. Mit der Deutung des Begriffs libertas in der Geschichtsschreibung der italienischen Stadtkommunen – einem der beliebtesten mittelalterlichen Beispiele der Vorankündigung der modernen Freiheit – setzt sich der Beitrag Christoph Dartmanns auseinander: Libertas sei kein zentraler Wert gewesen, sondern nur ein Schlagwort in den Darstellungen besonders angespannter Situationen der Stadtgeschichten.

Während der Beitrag Francesco Panarellis dann unter dem Begriff der libertas ecclesiae die Beziehungen zwischen kirchlichen Institutionen und normannischen Herrschern in Süditalien rekapituliert, betrachten die letzten drei relazioni verschiedene Praxis- und Wissensbereiche. Paul Bertrand deutet zunächst auf ein neues Untersuchungsfeld hin: den Aufstieg und die Rolle von „micro-powers“ zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert (S. 148), deren Autorität durch die Gewährleistung lokaler Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen anerkannt wurde, indem man diese schriftlich fixierte. Während Carla Bino dann mit einem ganz anderen Fokus die Bedeutung der Freiheit in den Darstellungen der Passion Christi bei einigen zisterziensischen Autoren und dem Franziskaner Bonaventura untersucht, betrachtet Mario Conetti in einem bemerkenswerten Beitrag die Entwicklung der Konzeption der libertas bei den Rechtsgelehrten, die vor allem in Bologna zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert tätig waren.

Letzterer Beitrag nimmt seinen Ausgangpunkt von der römischen Lehre, die von spätantiken Rechtsammlungen vermittelt wurde. Und eine Betrachtung – die einzige – einer spätantiken politischen Verwendung des Begriffs libertas – unter der Königsherrschaft Theoderichs in Italien (Marco Cristini) – eröffnet die tendenziell chronologisch geordnete Abfolge der achtzehn weiteren comunicazioni, überwiegend Untersuchungen, die die Themen des ersten Teils ergänzen: den Status und die Rechte der Klöster in den Privilegien der Herrscher (Stefano Manganaro, Gianmarco Cossandi) und deren Beziehungen zu den Päpsten (Elena Vanelli, Enrico Veneziani) oder zu übergeordneten Abteien (Antonio Macchioni); libertas im Zeitalter der Kirchenreform und des Investiturstreits (Caterina Ciccopiedi, Antonio Manco, Maria Vezzoni, Matteo Meanti); die unterschiedlich umkämpfte Idee der libertas in den italienischen Städten vom 11. bis zum 14. Jahrhundert (Stefano Belardinello, Daniele Sini, Francesco Poggi, Daniele Bortoluzzi); die Selbstbestimmung der religiösen Erfahrung der Mönche zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert (Micol Long); die Beziehung zwischen Monarchie und Kirche in Süditalien im 13. Jahrhundert (Antonio Antonetti); den Begriff libertas Italiae in Biographien der beiden ersten Päpste des 13. Jahrhunderts (Alberto Spataro); und zuletzt libertas bei Dante (Federica Mantelli).

Angesichts dieser Vielfalt von Fragestellungen und Fallbeispielen ist eine Synthese selbstverständlich nicht einfach. Die abschließenden Beobachtungen und Anmerkungen Giancarlo Andennas, die sich nur auf die relazioni beziehen (S. 201–212), bestehen aus einfachen Zusammenfassungen der Beiträge, die kaum weiterführende Überlegungen entwickeln. Und auch der schon erwähnte allgemeine Aufsatz Jean-Claude Schmitts bietet keine spannende Problematisierung. Es fehlt deshalb ein Versuch, einen Überblick über die historischen Voraussetzungen der hochmittelalterlichen Entwicklungen zu bieten, die verschiedenen betrachteten Themenbereiche einzuordnen und die entsprechenden Fragestellungen – zumindest prinzipiell – methodisch in eine Korrelation zu bringen und gleichzeitig zu unterscheiden: zum Beispiel zwischen semantischen und institutionellen Perspektiven oder zwischen libertas als Quellenbegriff und libertas/Freiheit als Forschungsbegriff. Der Sammelband bildet deshalb nur eine Teilinventur der potentiellen Fragestellungen um die Idee libertas im Hochmittelalter, deren historische Alterität – zum Beispiel in der Kompatibilität zwischen Freiheit und hierarchischer Ordnung – nur hier und da explizit thematisiert wird.

Anmerkungen:
1 Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998.
2 Gerd Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1936.

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