M. D'Auria u.a. (Hrsg.): Visions and Ideas of Europe during the First World War

Cover
Titel
Visions and Ideas of Europe during the First World War.


Herausgeber
D'Auria, Matthew; Vermeiren, Jan
Reihe
Ideas beyond Borders: Studies in Transnational Intellectual History
Erschienen
Abingdon 2019: Routledge
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
£ 110.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Gehler, Institut für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

Wer annehmen würde, zur Ideengeschichte Europas vor und nach 1914/18 sei alles schon gesagt, sieht sich durch dieses Buch eines Besseren belehrt. Der Sammelband bietet ein breites thematisches Spektrum und hält eine Fülle lesenswerter neuer Erkenntnisse bereit. Die Herausgeber führen zunächst zu Begriffen, Leitbildern und Visionen von Europa gehaltvoll ein. Matthew D'Auria konstatiert in seinem Aufsatz zu Dekadenz, Messianismus und (gescheiterter) Erlösung des Denkens über Ängste, Befürchtungen und Schreckensvisionen vom Untergang Europas, dass sein bisheriges Bild von Europa als einem Raum der Moderne, des Fortschritts und der Vernunft im Zeichen des Großen Krieges Makulatur wurde. Er zeigt, dass das radikale Umdenken jenseits von Nationalismus und Imperialismus im Europa der 1920er- und 1930er-Jahren seine Wurzeln in Werken hatte, die während des Krieges geschrieben worden waren, als viele Autoren trotz des Gemetzels noch auf eine bessere Zukunft hofften.

Jan Vermeiren befasst sich mit deutsch-russischen Beziehungen seit Kriegsbeginn im Zeichen „asiatischer Bedrohung“ („Russenflut“ und „Barbarendreck“). Im Zuge der Entwicklung von der Revolution zur Partnerschaft mit dem Deutschen Reich wird deutlich, dass konservative Revolutionäre wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Ernst Niekisch in Deutschland und der UdSSR – vereint in ihrer Opposition gegen den anglo-amerikanischen Kapitalismus und die technokratische Demokratie – verwandte und zukunftsweisende Geister sahen. Trotz Skepsis gegenüber Bolschewismus und russischer Kultur bestand der Glaube an eine deutsch-russische Schicksalsgemeinschaft und an Russlands Rolle als Retter Europas, der sich von der antirussischen Rhetorik der Augusttage 1914 unterschied.

Landry Charrier beleuchtet die Debatte unter Pazifisten über Europa-Utopien während des Kriegs. Das 1915 veröffentlichte Bändchen Europäische Wiederherstellung des Wiener Schriftstellers Alfred Hermann Fried (1864–1921) bildete einen Höhepunkt, indem es Europäismus und Universalismus verband. Anders als Romain Rollands (1866–1944) „kleine Gesellschaft von Freunden“ hatten deutsche Pazifisten nur wenig mit der „europäistischen Strömung“ der späteren Kriegsjahre im Sinn. Das lag an der dominanten Weltfriedensbotschaft von US-Präsident Wilson und an vorrangigem Eintreten für Reformen in Deutschland. Die bescheidene Resonanz ihrer Ideen im Krieg stand im schroffen Gegensatz zum starken Interesse, das in Europa geweckt wurde, als die Mängel der Nachkriegsordnung der Sieger evident wurden.

Egbert Klautke fragt, ob es tatsächlich um eine neue Welt ging, die letztlich anzweifelbar war, als Deutsche und Franzosen nach dem Krieg in der „Amerikanisierung“ eine Bedrohung für die europäische Kultur sahen. Deutsche Debatten über die „Amerikanisierung“ drehten sich um Chancen und Gefahren des „Fordismus“ und die Auswirkungen der amerikanischen Populärkultur auf die deutsche Gesellschaft. Der französische Antiamerikanismus bediente sich ähnlicher Stereotype. Alarmierte Kommentatoren in Frankreich und Deutschland sahen Europa als Opfer von „Yankee-Imperialismus“ und „Dollar-Diplomatie“, mit der sich die Amerikaner um die Jahrhundertwende der Karibik und Teilen Lateinamerikas bemächtigt hätten. Ihr Eintritt in den Ersten Weltkrieg erschien als Auftakt zu einer neuen Ära in der Weltpolitik, die durch Krise und Niedergang Europas sowie vom globalen Aufstieg der USA gekennzeichnet war.

Annamaria Ducci befasst sich mit dem schwankenden Weltbild des französischen Arztes, Kunsthistorikers und Essayisten Élie Faure (1873–1937), seinen Visionen vom Krieg und seinem Bild von Europa. Der libertäre Faure sah in der Kunst eine universelle Kraft, im Krieg das heilige Antlitz („La Sainte Face“), doch Ducci fragt, ob es sich bei ihm vielmehr um einen Nationalisten und Kriegstreiber handelte. Faure gab den Idealismus seines früheren Anarchismus auf und schlug sich auf die Seite der Sowjetunion, wurde Mitglied des Comité de Vigilance des Intellectuelles Antifascistes und schrieb für die Humanité.

Ulrich Tiedau widmet sich dem britischen Geschäftsmann deutscher Herkunft, Kunstsammler und Philanthropen Sir Max Leonard Waechter (1837–1924) und seiner Gründung der European Unity League (1913/14). Auch wenn praktisch gescheitert, bildete sie Anstöße für ähnliche Gruppen, wie für Nico van Suchtelens Europese Statenbond in den Niederlanden (September 1914), Emile Mayrischs Europäischem Kreis in Luxemburg (1920) oder die britische Federal Union, die 1938 von Derek Rawnsley, Charles Kimber und Patrick Ransome gegründet wurde, um eine „starke europäische Liga der Nationen als Zwischenstufe auf dem Weg zur Weltregierung“ anzustreben. Der Europäismus der European Unity League war laut Tiedau „ein eigenartiges Phänomen“ (S. 138f.), das britische und europäische Traditionen widerspiegelte, die sich jedoch nicht ausschlossen.

Marcello Gisondi analysiert „Das junge Europa“ in der Korrespondenz zwischen Antonio Banfi (1886–1957) und Andrea Caffi (1887–1955) in den Jahren von 1910 bis 1919. Banfi war wichtigster Vermittler Georg Simmels in der italienischen Kultur, Caffi hingegen Libertärsozialist und Kosmopolit. Sie lehnten sich mit ihrer Idee eines „Jeune Europe“ an Mazzinis' „Giovine Europa“ an und verfassten 1910 ein Manifest, welches die Basis für Banfis La Crisi (1932/33), eine Reflexion Europas im grassierenden Faschismus, bot. Befreundet geblieben, schlugen sie nach 1918 unterschiedliche Wege in Richtung Kommunismus und Libertarismus ein.

Maciej Görny analysiert polnische Konzepte für eine Föderation Ostmitteleuropas 1914–1921. Die auf Freiheit und Gleichheit beruhende Idee wurde mit Ausnahme der Nationalisten von allen polnischen politischen Parteien geteilt. Polen kam dabei die Hauptrolle zu, worin gleichsam der Keim für ihr Scheitern lag. Denn in der politischen Praxis inspirierte der Föderalismus die militärischen Ambitionen von Jozef Pilsudski, weshalb Litauer, Ukrainer und Weißrussen reserviert reagierten, die nach eigenen unabhängigen Staaten strebten und eine polnische Vormachtstellung im visionären Bundesstaat fürchteten. Die multiethnischen Grenzgebiete verwandelten sich mit der polnischen Invasion und der anschließenden Einnahme von Vilnius in Schlachtfelder, die das Ende des regionalen Föderalismus besiegelten.

Maximiliano Fuentes Codera beleuchtet Europaideen im neutralen Spanien (1914–1918), wobei er sich jenseits einer Dichotomie zwischen den gegensätzlichen Positionen zu Fragen der Einheit Europas des katalonischen Geistesdenkers, Schriftstellers und Kunstkritikers Eugeni d’Ors i Rovira (1882–1954) auf der einen und dem spanischen Essayisten, Philosophen und Soziologen José Ortega y Gasset (1883–1955) auf der anderen Seite bewegt. D'Ors vertrat weiterhin die gemeinsame Idee von Europa, ging aber nach 1918 zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Völkerbund und Wilsonismus über. Auf seinem Weg zum Antiliberalismus unterstützte er den Bolschewismus und später den italienischen Faschismus wie er auch die Unterstützung für Franco im spanischen Bürgerkrieg rechtfertigte. Bei Ortega y Gasset führte das Ende des Krieges zu einer pessimistischeren Sichtweise, die mit einer „Rückkehr zu Nietzsche“ und einer Relativierung des Liberalismus einherging. Aus seiner Sicht befand sich Europa in einer Krise der Autorität, die sich im Fehlen intellektueller Aristokratien und in der „Herrschaft der Massen“ manifestierte. In dem was Georg Simmel als „kulturelle Krise“ in Europa bezeichnete, fand Ortega ein Vorbild in der deutschen akademischen Reaktion gegen die „seelenlose“ Moderne, die von Autoren wie Werner Sombart, Oswald Spengler und Carl Schmitt angeprangert wurde. Die Polemik der Kriegszeit über Europa und Spanien überlebte das Kriegsende im Streit zwischen „aliadófilos“ und „germanófilos“ die spanische Politik und Kultur bis in den Spanischen Bürgerkrieg.

Richard Deswarte befasst sich mit visuellen Projektionen von Europa in den Karikaturen des Niederländers Louis Raemaekers (1869–1956). Seine Europa-Darstellungen aus der Kriegszeit gehen mit Bildern von der Jungfrau, von Familie und Vorstellungen von einer einheitlichen europäischen Zivilisation über den Nationalstaat weit hinaus. Deutsche, vor allem Preußen, gehörten ihr allerdings nicht an, weil sie diese aktiv bedrohten. Als weitere Gefahren für Europa galten ihm die moderne Kriegführung und Technologie oder äußere Mächte, wie sie zu der Zeit auch in Simplicissimus-Karikaturen visualisiert wurden. Europa-Bilder, die das europäische Ganze wiederherstellten, sollten indes erst wieder Anfang der 1920er-Jahre durch die bekehrende Paneuropa-Bewegung aufkommen.

Michael Wintle fragt nach Spuren europäischen Selbstbewusstseins in Architektur und bildender Kunst und zieht als Beispiele Werke von Olaf Gulbransson, Pierre Bonnard, Erich Heckel, Sigismund Goetze sowie dekorative Köpfe am Haus der Wiener Kaufmannschaft heran. Wintle kommt zum Ergebnis, dass der Erste Weltkrieg nach einem anfänglichen Ausbruch von patriotischem Nationalismus viele Intellektuelle, nicht zuletzt in Deutschland, an bisherigen Konventionen der „europäischen Zivilisation“ verzweifeln ließ, und sie sich gegen Kriegsende mehr und mehr hinterfragten.

Mark Hewitson befasst sich mit dem Kriegserbe und der Europa-Idee in den 1920er-Jahren im nationalen und internationalen Kontext. Wenig deutet darauf hin, dass der Plan von Premier Aristide Briand für eine Europäische Union von der Lobbyarbeit der Paneuropa-Union oder des Verbands für europäische Verständigung beeinflusst wurde. Seine Hinwendung zur Europa-Politik 1929/30 legt eher nahe, dass Mängel des Versailler Vertrags, Furcht vor wirtschaftlicher Hegemonie Deutschlands und die Schwäche des Völkerbunds die eigentlichen Triebfedern seines Handelns waren. Der „Intellektualismus“ des Europäismus der 1920er-Jahre ist für Hewitson in seiner praktischen Bedeutung für die 1940er- und 1950er-Jahre schwerlich zu gewichten, doch spielte er eine wichtige Rolle bei der Deutung des ersten „totalen Krieges“ für Europa und seiner Konsequenzen in weitaus größerer Weise als bisher angenommen.

Die Beiträge des Bandes sind allesamt ausgezeichnet und durch die Bank detailliert belegt. Für politische Ideen- und historische Kulturforschende ist er eine Fundgrube und sehr empfehlenswert. Die disparat wirkenden Beiträge scheinen nur auf den ersten Blick bloß nebeneinander zu stehen. Die Erfahrungen mit dem Krieg bewegten viele Intellektuelle und Künstler, wobei dieser als Laboratorium ganz verschiedene Vorstellungen von Europa generierte. Der Band zeigt dieses heterogene Spektrum eindrucksvoll auf. Nach 1918 sollte der Europa-Gedanke dann wieder stärker vom Nationalismus herausgefordert werden.

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