A. Willkommen: Alternative Lebensformen

Cover
Titel
Alternative Lebensformen. Unehelichkeit und Ehescheidung am Beispiel von Goethes Weimar


Autor(en)
Willkommen, Alexandra
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen 57
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Fehlemann, Sonderforschungsbereich 1285 „Invektivität", Technische Universität Dresden

Johann Wolfgang von Goethe lebte lange Jahre in „wilder Ehe“ mit Christiane Vulpius, dennoch war dies in der Weimarer Gesellschaft alles andere als anerkannt. Diesen Widerspruch zwischen Rechtslage und sozialer Norm nimmt Alexandra Willkommen als Ausgangspunkt, um nach den Möglichkeiten und Grenzen von alternativen Lebensformen im Weimar der Goethezeit zu fragen, genauer gesagt im ernestinischen Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Bei dieser für die Drucklegung leicht überarbeiteten Dissertation handelt es sich aber weniger um eine erfahrungsgeschichtliche Analyse, wie der Titel nahelegt, sondern vielmehr um eine rechtshistorische Untersuchung, die sich vorwiegend mit den juristischen Bedingungen von Illegitimität und Ehescheidungen beschäftigt. Zum einen untersucht Willkommen die rechtliche Lage „wilder Ehen“ und unehelicher Kinder, zum anderen die Publizistik und die überlieferten landesherrlichen Dispense zu den Scheidungswünschen von Paaren.

Willkommen legt zunächst dar, wie sich unterschiedliche Maßnahmen zu „wilden Ehen“, zu unehelichem Beischlaf und zur Lage unverheirateter Mütter und Kinder entwickelten. Bei der Frage der obrigkeitlichen Behandlung der illegitimen Familien zeigt sich eine Legalisierung des unehelichen Beischlafs, eine Folge pragmatischer und säkularisierender Politik. Mit dieser Politik passten sich die Landesherren in gewisser Weise an die Lebenswirklichkeit ihrer Untertanen an. Diese Strategie war verbunden mit einer Förderung der künftigen Ehe aus zwei Gründen: zum einen um familiäre Ordnungspolitik durchzusetzen, zum anderen um die Armenkassen zu entlasten. Letzteres führte auch zu einer vermehrten Heranziehung der Väter zum Unterhalt ihrer unehelichen Kinder. Dabei stand Sachsen-Weimar-Eisenach allerdings nicht an der Spitze des Fortschritts. Die Regelungen im Allgemeinen Landrecht in Preußen blieben bis zum Ende des Zeitraums progressiver, auch wenn sich beide Staaten mehr und mehr anglichen.

Neben den „Wilden Ehen“ und den „illegitimen Kindern“ wird in einem weiteren Teil der Untersuchung die Frage der Ehescheidung behandelt. Nachdem dieses Thema nach der Untersuchung von Dirk Blasius über Ehescheidung in Deutschland aus dem Jahr 1987 lange geruht hatte, hat es seit einigen Jahren wieder Konjunktur.1 Die Verfasserin untersucht das Thema am regionalen Beispiel und stellt die Frage, warum es im interterritorialen Vergleich eine verhältnismäßig hohe Zahl an Scheidungen im Herzogtum gegeben hat, die jeweils durch landesherrlichen Dispens genehmigt werden mussten. Sie fragt also nach dem Zusammenhang zwischen obrigkeitsstaatlichen Handlungen, Entscheidungen und Verordnungen und ehelichen Trennungen sowie unkonventionell gelebten Beziehungen. Hier wird eine solide und faktengesättigte Darstellung der Entwicklung im Herzogtum anhand von Akten zum landesherrlichen Dispens zu Scheidungen präsentiert, womit sie eine hilfreiche Aufstellung der angegebenen Scheidungsgründe erstellt.

Bei der Frage der Ehescheidungen agierten der Herzog und seine Regierung tolerant. Er musste Ehescheidungen durch landesherrlichen Dispens ermöglichen und dem Wunsch danach wurde in den meisten Fällen stattgegeben, das belegt eine liberale Scheidungspolitik auch im interterritorialen Vergleich. Willkommen kommt dabei zu dem Ergebnis, dass verschiedene landesherrlichen Obrigkeiten Scheidungen aus den gleichen Motiven verhinderten sowie ermöglichten. Das Ziel staatlichen Handelns war in beiden Fällen gesellschaftliche Stabilität. Auch wenn der Landesherr Scheidungen vergleichsweise großzügig gestattete, blieb die Ehe die erwünschte und geförderte Lebensform. Scheidungen wurden in dieser Perspektive ermöglicht, damit nicht zu viele unharmonische Verbindungen die Ehe als Institution an sich gefährdeten. Eine zu hohe Zahl an Scheidungen stellte aber ebenfalls die Ehe als funktionierende staatlich und kirchlich geförderte Institution in Frage und führte gelegentlich zu einem „Rückrudern“ der Regierung. Dieses Wechselspiel führte dazu, dass den landesherrlichen Entscheidungen eine gewisse Willkür anhaftete.

An einigen Stellen setzt Willkommen der juristischen Wirklichkeit aber auch die soziale entgegen. So erfuhren die Geschiedenen doch in den meisten Fällen erhebliche soziale Ausgrenzungen und Diskriminierungen, gerade wenn sie aus dem Adel oder aus dem Großbürgertum kamen. Auf der anderen Seite können diese Eindrücke nicht generalisiert werden. Das wiederum macht Willkommen am Beispiel der unverheiratet schwangeren Dienstmädchen deutlich. Entscheidend waren hier häufig die Reaktionen des direkten sozialen Umfelds. Nicht selten fanden unverheiratete Schwangere Unterstützung bei ihren Eltern oder bei ihrer Familie, viele wurden nach der Schwangerschaft auch wiedereingestellt. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass weder die Frauen noch ihre Kinder trotz des „Makels“ der unehelichen Schwangerschaft generell gesellschaftlich ausgestoßen wurden. Willkommen macht deutlich, dass zahlreiche alternative Lebensformen im Herzogtum real bestanden, dass weder das idealisierte Familienmodell der Kernfamilie noch der Großfamilie die Lebensvielfalt im Herzogtum widerspiegelt. Dabei wurde in der zeitgenössischen regionalen Publizistik tatsächlich die Kernfamilie idealisiert, von einer erweiterten Großfamilie, vom „Ganzen Haus“ ist in den von ihr untersuchten Quellen nicht die Rede. Dieses Konzept lässt sich also weder in der zeitgenössischen Publizistik noch in den statistisch eruierten Lebensverhältnissen wiederfinden. Insofern schlägt Willkommen vor, angesichts der Vielfalt der realen Lebensformen statt vom „Ganzen Haus“ vielmehr von „Versorgungsgemeinschaften“ zu sprechen.

Willkommen legt eine in großen Teilen solide Studie vor. Die einzelnen Kapitel sind anschaulich geschrieben, die Ergebnisse werden allerdings etwas mäandernd präsentiert. Das liegt sicherlich auch an den widersprüchlichen Befunden, die ein klares Urteil erschweren. Gerade in diesem Bereich drängt sich der Eindruck auf, dass die konzeptionelle rechtsgeschichtliche Engführung der Studie einen Preis hat. Wenn Diskurse, Emotionen oder Praktiken perspektivisch nur wenig berücksichtigt werden, wird das leisere Murmeln der Quellen schnell übersehen oder überlesen. Neuere Ansätze etwa zur Emotionsgeschichte, die eine Geschichte der Scheidung und der alternativen Lebensformen doch zumindest sinnvoll ergänzen können, hätten hier sicher weiterführen können. Und auch die Tatsache, dass Karin Hausens kanonischer Text zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere fehlt, überrascht. Handelt es sich doch um eine für den Untersuchungszeitraum und das -thema einschlägige Perspektive zur Familienforschung und Geschlechtergeschichte.2

Auch die Ersetzung des Forschungskonzeptes vom „Ganzen Haus“ durch den Begriff der „Versorgungsgemeinschaft“ kann nicht vollkommen überzeugen. Auch wenn der letztgenannte Terminus die Situation sicherlich passend beschreibt, so kann er doch keinen historischen und gesellschaftlichen Wandel anzeigen, wie ihn die These von der Entwicklung vom „Ganzen Haus zur bürgerlichen Kernfamilie“ bei aller Kritik doch transportiert. Schließlich erscheint auch der Titel „alternative Lebensformen“ problematisch. Die Verbindung der verschiedenen Phänomene (Scheidung, „wilde Ehe“ und unehelich geborene Kinder) über diese Klammer verdeckt nämlich, dass der Wunsch nach Ehescheidung eine autonome Entscheidung sein konnte, während eine „illegitime“ Schwangerschaft sowohl für Eltern als auch für die Kinder wohl in den wenigsten Fällen eine frei gewählte Lebensform darstellte.

Es handelt sich insofern bei der Arbeit um eine historische Spezialuntersuchung, die durchaus faktengesättigt ist, wie auch die elaborierten Tabellen belegen. Für einen bedeutenden Beitrag zur Diskussion fehlen allerdings an einigen Stellen eine erweiterte Perspektive und eine klarere Einordnung der Ergebnisse.

Anmerkungen:
1 Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987. Vgl. als neuere Veröffentlichung Anja Schröter, Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980–2000, Berlin 2018; Isabel Heinemann, Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin u.a. 2018.
2 Karin Hausen, Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393.

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