C. Goschler u.a. (Hrsg.): Kriegsverbrechen, Restitution, Prävention

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Titel
Kriegsverbrechen, Restitution, Prävention. Aus dem Vorlass von Benjamin B. Ferencz


Herausgeber
Goschler, Constantin; Böick, Marcus; Reus, Julia
Reihe
Archiv jüdischer Geschichte und Kultur 4
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 130,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Biographische Untersuchungen zum humanitären (Kriegs-)Völkerrecht und Völkerstrafrecht zählen seit einiger Zeit zu den Zugpferden einer sich etablierenden neuen Völkerrechtsgeschichte. Das ebenso dynamische wie disparate Forschungsfeld wird vor allem von professionellen Rechts- und Zeithistoriker/innen bespielt, zieht aber zunehmend auch Autor/innen aus dem Journalismus und Menschenrechtsaktivismus an. Während die Disziplin noch bis vor wenigen Jahrzehnten als staatstragende Angelegenheit galt, die den historistischen Geist einer foreign office international legal history atmete1, haben sich die Perspektiven in der jüngsten Zeit deutlich verschoben. So ist es unter dem Einfluss postmoderner Strömungen üblich geworden, den Blick vermehrt auf jene nichtstaatlichen Akteure zu lenken, die mit ihren Ideen, Konzepten und Praktiken dazu beigetragen haben, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein Wandel vom „alten“ staatenzentrierten zum „neuen“ menschenrechtlich erweiterten Völkerrecht vollzog.2

Wie Ko-Herausgeber Constantin Goschler in seiner konzisen Einleitung zum Editionsband festhält, kann der amerikanische Jurist Benjamin B. Ferencz in gewisser Weise als Personifizierung dieser Transformationsprozesse im modernen Völkerrecht gelten. 1920 auf dem Gebiet des heutigen Ungarn geboren, spiegelt sein privater und professioneller Lebensweg sowohl die tiefgreifenden Veränderungen als auch die Kontinuitäten in den völkerrechtlichen Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischen Massenverbrechen und der Kriegsgewalt im 20. Jahrhundert wider. Dieser Weg führte von der US-Armee über die Nürnberger Nachfolgeprozesse zu den westdeutsch-israelischen Verhandlungen über Wiedergutmachungsleistungen hin zu den internationalen Debatten über den Balkankonflikt, die 1993 zur Gründung eines Ad-hoc-Tribunals für den zusammengebrochenen Vielvölkerstaat Jugoslawien führten. Der sich zu dieser Zeit vollziehende Aufstieg eines globalen, auf den Holocaust fokussierten interventionistischen Völkerstrafrechts war davon begleitet, dass sich ein neues Berufsbild des international lawyer auszubilden begann. Jener neue Typus hob sich unter anderem dadurch von den Diplomatenjuristen und Rechtskonsulenten älterer Schule ab, dass sich Einfluss und Wirksamkeit aus einem fortlaufenden Rollenwechsel ergaben. Angesichts der Tatsache, dass Ferencz das Geschäft des Strafverfolgers und Anwalts ebenso beherrschte wie das des public moralist, verwundert es nicht, dass er noch zu Lebzeiten als Historiker und umtriebiger Proponent in eigener Sache tätig wurde, indem er seinen digitalisierten Vorlass an zahlreiche Archive in und außerhalb der USA abgab. Positiv hervorzuheben im Vergleich zu populärwissenschaftlichen Arbeiten des (auto)biographischen Genres ist, dass das Herausgeberteam – dem neben Goschler auch Marcus Böick und Julia Reus angehören – solche Tendenzen der Selbstpromotion und Selbstmystifizierung transparent machen, statt sie fortzuschreiben. Nicht nur werden die Besonderheiten und Grenzen der spezifischen Überlieferungssituation angemessen reflektiert, sondern auch die jeweiligen Auswahlkriterien überzeugend begründet.

Die Quellenedition, die in der von Dan Diner herausgegebenen Reihe zur jüdischen Rechts-, Diplomatie-, Politik- und Wissensgeschichte erschienen ist, teilt sich in neun Hauptabschnitte, die sich an den privaten und beruflichen Stationen sowie den Arbeitsbereichen des prominenten Juristen orientieren. Während der erste Abschnitt vor allem Auszüge aus Ferencz‘ Kriegstagebuch und Korrespondenzen mit seiner späteren Frau enthält, widmet sich das zweite Kapitel seiner Tätigkeit als Ermittler und Hauptankläger im Nürnberger Einsatzgruppenprozess. Es bietet nicht nur faszinierende Einblicke in das Verhalten der deutschen Angeklagten im Verhör und vor Gericht, sondern dokumentiert auch die Konflikte zwischen Vertretern der Anklagebehörde und der Washingtoner Außen- und Verteidigungspolitik. Weitere Themenfelder sind Ferencz‘ rechtspolitische Interventionen anlässlich des Eichmann-Prozesses und der Debatte um amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam. Kapitel 3 und 4 behandeln die Bereiche Restitution und Reparation, die sich in den 1950er-Jahren zu Schwerpunkten von Ferencz‘ Engagement entwickelten.

Als Leiter dreier zentraler jüdischer Organisationen – der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO), der United Restitution Organization (URO) und des Deutschlandbüros der Jewish Claims Conference (JCC) – avancierte er zeitweise zum wichtigsten Repräsentanten auf dem diplomatisch-juristischen Feld der Rückerstattung und Entschädigung. Da der Weg zivilrechtlicher Klagen aufgrund des Londoner Schuldenabkommens von 1953 und einer intransigenten bundesdeutschen Rechtsprechung weitgehend versperrt war, blieben oftmals nur das public shaming und die vergangenheitspolitische Skandalisierung, um westdeutsche Industrievertreter und deren Anwälte zu partiellen Zugeständnissen zu bewegen. Aus Ferencz‘ Sicht handelte es sich insofern um einen schwierigen Drahtseilakt der transatlantischen Diplomatie, als gegenüber der Bundesregierung der Eindruck einer „attack on German industry by Jewish organizations“ vermieden werden musste (S. 315), während gleichzeitig in den USA einflussreiche Politiker wie der New Yorker Senator Jacob J. Javits mit jüdischen Themen lobbyiert wurden.

Die folgenden Kapitel 5 bis 8 illustrieren Ferencz‘ vielfältige Aktivitäten im Auftrag jüdischer Organisationen. Als historische Pioniertat kann etwa sein Einsatz für weibliche osteuropäische KZ-Opfer medizinischer Humanexperimente gelten, von denen besonders polnische Jüdinnen und Katholikinnen profitieren konnten. In der Logik des Kalten Krieges hatte er sich damit die Sache des politischen Gegners zu eigen gemacht. Seine zahlreichen Zusammenstöße mit Vertretern der Bonner Ministerialbürokratie kommentierte Ferencz mit dem für ihn typischen Sarkasmus: „Dr. Berger [Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts, A. W.] gave me a big speech about how his heart was bleeding for all these unfortunate people and I could see the imaginery crocodile tears running from his sleeve. He said he was most moved by the unfortunate circumstances rather than by my argument that it did not pay financially or politically to incite strong American public reaction against Germany on an issue of this kind.” (S. 377) Anders als die Bundesrepublik suchte sich die DDR-Außenpolitik auch nach dem UNO-Beitritt von 1973 von jeglicher Kontaktaufnahme durch jüdische Organisationen abzuschirmen. Die Weigerung Rolf Siebers, seit 1974 erster DDR-Botschafter in Washington, amerikanisch-jüdische Vertreter überhaupt nur zu empfangen, interpretierte Ferencz dementsprechend als Ausdruck einer Geschichtspolitik, die den östlichen Teilstaat zum „befreiten Opfer“ westlicher „Faschisten“ zu stilisieren versuchte (S. 446).

Das letzte Kapitel unter der Überschrift „Weltfrieden und internationale Strafjustiz“ dokumentiert schließlich Ferencz‘ langjährige Bemühungen um die Wiederaufnahme von Verhandlungen zur Gründung eines permanenten internationalen Strafgerichtshofs. Das Projekt war Anfang der 1950er-Jahre von der International Law Commission auf Eis gelegt worden und schien erst 1974 mit der UN-Resolution 3314 zu einer Definition von aggression neuen Schwung zu gewinnen. Die Lobbytätigkeit, die Ferencz nach dem Ausscheiden aus der New Yorker Anwaltskanzlei Taylor, Ferencz & Schuster aufnahm und die er weitgehend ohne universitäre Anbindung betrieb, entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer Art Lebensthema. Seine zahlreichen Briefe verweisen nicht nur auf die Existenz eines eindrucksvollen transatlantischen Kontaktnetzes, sondern vermitteln darüber hinaus interessante Aufschlüsse zu einer spezifischen Form des Rechtslobbyismus, der in seiner Fokussierung auf männliche Honoratioren des liberalen Establishments teilweise anachronistisch wirkte. An dieser Stelle zeigt sich am deutlichsten, dass die Herausgeber gut beraten gewesen wären, ihre eigenen editorischen Selbstbeschränkungen hin und wieder zu ignorieren. Zum einen hätte man so der besonderen Rolle des langjährigen Freundes und Mentors Telford Taylor gerecht werden können, ohne den Ferencz‘ völkerstrafrechtliche Interventionen kaum zu verstehen sind. Zum anderen erscheint es fragwürdig, die Edition vor Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs enden zu lassen, markiert dieses Ereignis doch den End- und Höhepunkt von Ferencz‘ lebenslangem Engagement.

Alles in allem handelt es sich um eine herausragende Quellenedition, die ihren Anspruch in jeder Hinsicht erfüllt. Sowohl die gewählten thematischen Schwerpunkte als auch Einleitung und inhaltliche Kommentierung sind mustergültig und vermitteln ein dichtes Bild vom Protagonisten und dessen wechselnden Handlungsräumen. Angesichts des durchgehend hohen Niveaus dieses Bandes mag die Kritik an kleineren Schwachpunkten beckmesserisch erscheinen. Hilfreich wären beispielsweise ein chronologischer Lebenslauf oder eine Zeitleiste gewesen, um den Leser über die verschiedenen Kontexte zu orientieren. Zudem werden Fragen der jüdischen Identität und des Jewish lawyering, die auch Ferencz‘ Rolle als transatlantischer Vermittler und go-between einschließen, nur relativ knapp gestreift. Mit der Edition sind nun jedoch erstmals Grundlagen gelegt, die es ermöglichen, das Forschungsthema des transatlantischen Völkerrechtslobbyismus systematisch weiter zu vertiefen.

Anmerkungen:
1 David J. Bederman, Foreign Office International Legal History, in: Matthew Craven / Malgosia Fitzmaurice / Maria Vogiatzi (Hrsg.), Time, History and International Law, Boston 2007, S. 43–63.
2 Zu dieser Terminologie vgl. Mark Lewis, The Birth of the New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950, Oxford 2014; zu neueren Trends der Völkerrechtshistoriographie siehe auch Marcus M. Payk, Institutionalisierung und Verrechtlichung. Die Geschichte des Völkerrechts im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 861–883.

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