F. Bozo u.a. (Hrsg.): France and the German Question

Cover
Titel
France and the German Question, 1945–1990.


Herausgeber
Bozo, Frédéric; Wenkel, Christian
Erschienen
New York 2019: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VII, 299 S.
Preis
$ 97.50; £ 69.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh

Das „problème allemand“, so erklärte Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle auf einer geschichtsmächtigen Pressekonferenz 1965, sei „par excellence, le problème européen“; eine Antwort müsse daher vornehmlich von den Europäern gefunden werden.1 In der Forschung sind diese und andere Äußerungen des General-Präsidenten wie auch sonstiger Akteure der französischen Nachkriegspolitik zur „deutschen Frage“ gemeinhin als Beleg dafür gedeutet worden, dass Frankreich sich des Problems der deutschen Teilung zwar bewusst gewesen sei, aber kein wirkliches Interesse an dessen Behebung besessen habe. Als das Thema dann nach dem Berliner Mauerfall 1989 auf die Agenda der Weltpolitik geriet, stimmte Frankreich der Wiedervereinigung denn auch nur nach langem Zögern und nolens volens zu.

Mit dem in englischer Sprache veröffentlichten Sammelband „France and the German Question, 1945–1990“ versuchen der französische Historiker Frédéric Bozo und sein deutscher Kollege Christian Wenkel dieses Bild mit einer doppelten Stoßrichtung gleichsam auszuradieren. Weder sei Frankreich zwischen 1945 und 1990 ein „secondary player with limited influence on the evolution of the German question“ gewesen, noch habe es sich im Wiedervereinigungsprozess der „obstruction“ hingegeben (S. 5). Frankreich habe vielmehr während des gesamten Zeitraums eine ebenso „decisive“ wie „constructive“ (S. 6) Rolle bei der Lösung der deutschen Frage gespielt: „Embedding the German question in a European framework was […] France’s constant objective throughout the period.“ (S. 7)

Gestützt sehen die Herausgeber ihre wagemutigen Thesen durch 15 Beiträge, die sie fünf an der Zeitschiene entlang führenden Abschnitten und einem Querschnittskapitel zugeordnet haben: „From Capitulation to Cooperation“ 1945–1949 (S. 15); „The Emergence of the Bloc System“ 1949–1955 (S. 53); „The de Gaulle Factor“ 1958–1969 (S. 91); „The Era of Ostpolitik“ 1969–1981 (S. 131); „The End Game“ 1981–1990 (S. 185) und „Enduring Concerns: Anschluss, Borders, and the Two Germanys“ (S. 239) lauten die Überschriften.

So wie die Konstruktion von Geschichte aus der Vergangenheit zu den zentralen Aufgaben der Geschichtswissenschaft zählt, gehört auch die kritische Re- bzw. Dekonstruktion bestehender Narrative zu ihren vornehmsten Pflichten. Überzeugen kann sie jedoch nur, wenn sie mithilfe neuer Fragestellungen respektive neuer Quellen plausible neue Antworten zu liefern vermag. Dieses Ziel aber verfehlt der Band nach Meinung des Rezensenten, und zwar deutlich. So muss es jeden mit der Materie der französischen Deutschlandpolitik nach 1945 vertrauten Wissenschaftler schon irritieren, wenn die Herausgeber zur Erklärung ihrer in der Historiographie so wahrgenommenen Fehlperzeption behaupten, die Forschung habe den französischen Beitrag zur deutschen Frage überwiegend „through the distorted prism of other, non-French sources“ (S. 6) analysiert. Insbesondere bei der Konsultation der deutschen Akten und Quellen sei die Historiographie den Vorurteilen der deutschen Politiker und Diplomaten aufgesessen. Soll dies etwa – in extenso fortgeführt – heißen, dass die französische Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit letztlich nur durch das Prisma der französischen Quellen erforscht werden kann, weil deren Verfasser ihre Ansichten ja wahrheitsgemäß und ohne Vorurteile zu Papier gebracht hätten? Ein geradezu abenteuerlicher Gedanke!

Zweifellos Recht haben die Herausgeber hingegen, wenn sie die sukzessive Öffnung der französischen Archive seit den 1980er-Jahren als wichtigen Schritt dafür werten, die innerfranzösischen Entscheidungsprozesse besser als zuvor verstehen zu können. Merkwürdig mutet es aber an, wenn deutsche Historiker, die die französischen Archive sehr wohl benutzt haben, aber zu anderen Ergebnissen als die Herausgeber kommen, im Sammelband nicht nur nicht als Autoren figurieren, sondern ihre Studien von zahlreichen Beiträgern schlichtweg ignoriert werden.2

Mancher aus den Archivquellen gehobene Aufsatz erweitert unser Wissen hingegen auf erfreuliche Weise. Geoffrey Roberts hält es nach der Durchsicht russischer Akten für möglich, dass sich nach der „Franco-Soviet mini-détente“ 1956 ohne die kurz darauf ausbrechenden Krisen in Ungarn und am Suez-Kanal eine „significant Franco-Soviet détente“ hätte einstellen können, weil beide Staaten „many common interests and concerns in relation to the German question“ besaßen (S. 85). Die Herausgeber Bozo und Wenkel behaupten hingegen in ihrer Einleitung, Roberts habe nachgewiesen, dass Frankreich zu keinem Zeitpunkt während des Kalten Krieges danach gestrebt habe, „to establish a de facto alliance with Moscow to keep a divided Germany under control“ (S. 8).

Garret J. Martin vertritt die Auffassung, de Gaulle habe die Wiedervereinigung als wünschenswert erachtet, um eine neue europäische Sicherheitsstruktur zu erreichen. Unabdingbar sei es für den General dabei aber gewesen, der Sowjetunion „a vital role“ bei der Lösung der deutschen Frage einzuräumen (S. 104). Benedikt Schoenborn betont denn auch sehr zu Recht die „ambivalence“ der de Gaulle‘schen Deutschlandpolitik; der Präsident habe keinerlei Eile bei der Lösung des Problems an den Tag gelegt und die Wiedervereinigung von erheblichen Bedingungen abhängig gemacht, insbesondere dem Verzicht Deutschlands auf Nuklearwaffen, der Anerkennung der europäischen Grenzen und der Aufgabe der „political closeness to the United States“ (S. 125) – eine für die Bundesrepublik unter Umständen existenzgefährdende Forderung.

Andere Verfasserinnen und Verfasser lassen Schoenborns Bereitschaft zu einer Analyse sine ira et studio, die die evidenten „negativen“ Aspekte der französischen Deutschlandpolitik einzubeziehen bereit ist, schmerzhaft vermissen. Michael H. Creswell etwa sieht Frankreichs Haltung in der Debatte über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands in den frühen 1950er-Jahren von der Absicht geprägt, Westdeutschland in die politisch-militärische Sicherheitsstruktur des Westens einzubinden. Dass die IV. Republik den NATO-Beitritt der Bonner Republik vier Jahre lang konterkarierte und der Pleven-Plan sie schlichtweg diskriminierte, bleibt unterbelichtet. Nicolas Badalassi schildert das Offenhalten der deutschen Frage als eines der zentralen Ziele Frankreichs im KSZE-Prozess der 1970er-Jahre: Staatspräsident Pompidou habe dezidiert an der de Gaulle‘schen Vision vom Europa vom Atlantik bis zum Ural festgehalten, „within which a reunification of Germany could eventually take place“ (S. 159). Die antiamerikanische Stoßrichtung der Außenpolitik des Außenministers Michel Jobert erwähnt Badalassi nicht. Und das von Gottfried Niedhart betonte Misstrauen Pompidous gegenüber der Ostpolitik Brandts scheint ihm ebenfalls nicht der Rede wert.

Ähnliche Einseitigkeiten weist der Beitrag von Ilaria Poggiolini über die französische (und britische) Deutschlandpolitik der 1980er-Jahre auf. Während Bernd Rother sehr plausibel von „French ‚Obsession‘ with the German Question“ (S. 187) spricht, „misunderstandings and misperceptions“ zwischen Mitterrand und Willy Brandt bzw. dem PS und der SPD herausarbeitet (S. 194) und keinen Zweifel daran lässt, dass „neither Mitterrand nor, of course, Brandt“ den Wiedervereinigungsprozess hätten steuern können, weil „only Bush and Gorbachev, together with Kohl, held the key to the future“ (S. 197f.), behauptet Poggiolini, Mitterrand habe die Wiedervereinigung Ende 1989 als „inevitable“ angesehen, die „nothing could stop“ (S. 207). Die vom Staatschef sehr genau beobachteten Entscheidungsprozesse in der Sowjetunion und in Ostdeutschland bleiben von ihr ausgeblendet.

Frédéric Bozo wiederum erklärt Gorbatschows letztlich positive Haltung zur Wiedervereinigung Deutschlands mit dessen Erkenntnis, dass er die „strength of Franco-German relations“ nicht zerstören könne (S. 10). Zugleich gibt Bozo zu, dass Mitterrand, der „reluctant unifier“ (S. 224), verlangt habe, der Wiedervereinigung Deutschlands „profound European transformations“ vorzuschalten (S. 225)! Undiskutiert bleibt bei ihm, ob Mitterrand vielleicht deshalb das Wagnis einer antideutschen Allianz mit Gorbatschow nicht einging, weil er dessen Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhinderung der Wiedervereinigung misstraute. Erhellend ist in diesem Zusammenhang ein von Bozo nicht berücksichtigtes Gespräch Mitterrands mit dem SPD-Politiker Oskar Lafontaine Mitte März 1990, in dem der Staatspräsident seine Sicht der Dinge in den frappanten Satz kleidete: „La faiblesse soviétique fait la force des Allemands“.3

Dass Frankreichs Außenminister Dumas die Forderung seines sowjetischen Kollegen Schewardnadse nach einer Synchronisierung der Wiedervereinigung Deutschlands und der gesamteuropäischen Annäherung am 30. März 1990 ablehnte, kann kaum als stichhaltiger Beleg für Bozos Fundamentalthese gelten, weil diese Ablehnung – was Bozo nicht erwähnt – zwei Wochen nach den Volkskammerwahlen in der DDR erfolgte, die ein eindeutiges Votum für die rasche Wiedervereinigung erbracht hatten.

Das „Wunder unserer Zeit“, wie de Gaulle die Freundschaft zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland einmal hymnisch genannt hat4, war kein quasi übernatürliches Ereignis, sondern das Ergebnis intensiver Arbeit der politischen Eliten wie der Zivilgesellschaften beider Nationen. Die bisweilen etwas zu eilfertig „Erbfreundschaft“ genannte Verbindung ist denn auch keineswegs auf ewig gesichert, sie bedarf vielmehr der steten Fürsorge. Der Beitrag der Geschichtswissenschaft zu dieser immerwährenden Zukunftsaufgabe sollte darin bestehen, die Vergangenheit in all ihren Ambivalenzen und Brüchen auszuleuchten, um unsere Gegenwart in ihrer Vielfalt zu begreifen. Bozo und Wenkel hingegen haben sich mit ihrem die französische Deutschlandpolitik allzu positiv schildernden Sammelband auf den Pfad der Geschichtspolitik begeben und (leider) manchen Wegbegleiter gewinnen können. Für die Pflege der deutsch-französischen „Erbfreundschaft“ ist es keineswegs hilfreich, wenn wir die Augen vor den früher wie heute gegensätzlichen Interessen der beiden Nachbarn am Rhein verschließen.

Anmerkungen:
1 Pressekonferenz de Gaulles, 4.2.1965, in: Charles de Gaulle, Discours et Messages, Bd. 4, Paris 1970, S. 325–342, hier S. 338.
2 Zu denken wäre pars pro toto an: Andreas Hilger (Hrsg.), Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90, München 2011; Hanns Jürgen Küsters / Daniel Hofmann (Bearb.), Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 1998; Hanns Jürgen Küsters, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945–1990, München 2000; Wilfried Loth, Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940–1950, Stuttgart 1977; Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, 2 Bde., München 2001; ders., Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011; Andreas Wilkens, Der unstete Nachbar. Frankreich, die deutsche Ostpolitik und die Berliner Vier-Mächte-Verhandlungen 1969–1974, München 1990.
3 Vgl. Ulrich Lappenküper, „La faiblesse soviétique fait la force des Allemands“. François Mitterrand und die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90, in: Klaus Hildebrand / Udo Wengst / Andreas Wirsching (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 383–395.
4 Tischrede de Gaulles, 3.7.1962, in: Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung. Die Wiedergeburt 1958–1962, München 1971, S. 449–451, hier S. 450.

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