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Titel
Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947


Autor(en)
Spenkuch, Hartwin
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Eckert, Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal

Vielseitig präsentiert sich dieses Überblickswerk, das vor allem die Entstehung des preußischen Staates zu erklären sucht – in instruktiver Zusammenschau politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Faktoren. Sie alle finden Berücksichtigung, ebenso wie unterschiedliche Deutungsmuster, die hier übersichtlich dargelegt sind. Indem das Buch wesentliche Themen und Ansichten der preußischen Geschichte vorstellt, eignet es sich insbesondere zu Einführungs- und Nachschlagezwecken. Sein systematischer Aufbau erleichtert die Orientierung; eine ausführliche Literaturliste (der eine thematische Gliederung noch zu wünschen gewesen wäre) eröffnet den Weg zu weiterführender Lektüre, ein Personenregister erlaubt auch Preußen-Kennern den gezielten Zugriff auf einzelne Akteure. Dass der Verfasser konsequent gegen allerlei – meist teleologische – borussische Legenden anschreibt, gehört zu den großen Vorzügen des Buches, auch seine weite Perspektive.

Die Einleitung exponiert das Thema: „das – im Grundsatz gemeineuropäische – Phänomen der Staatsbildung“ (S. 14). Gerne hätte man erfahren, inwiefern sich die preußische Geschichte davon nun als „eine besondere“ abhebe. Selbst das Schlusskapitel differenziert diesen Prozess zwar aus, bleibt aber den vergleichenden Nachweis schuldig, dass der „monarchische Staat“ am ehesten die exklusive „Grundidee Preußens“ gewesen sei (S. 446). Einzigartig mutet dieser Befund nicht an, der Preußen auf die Interessen bestimmter Gruppen zu reduzieren droht; er wirft zudem die Frage auf, warum die Analyse mit dem Retablissement nach 1648 beginnt, statt mit dem für das Staatengebilde so bedeutsamen jülich-bergischen Erbfall – ganz zu schweigen davon, wie sich die stabile Demokratie (1918–1932) und sodann die Hitler-Zeit in diese „Grundidee“ fügen: konzeptionelle Schwächen, die indessen keineswegs die Stärken des sorgfältig abwägenden Buches vergessen machen sollen.

Die facettenreiche Darstellung hebt mit der preußischen Außenpolitik an, mit dem Aufstieg der bisherigen Auxiliarmacht zur Großmacht und schließlich zur deutschen Hegemonialmacht. Als dessen Faktoren identifiziert der Verfasser neben glücklichen dynastischen Zufällen die nordöstliche Randlage, eine territoriale Stärkung infolge des Siebenjährigen Krieges sowie der Koalitionskriege (was freilich jeweils das Explanandum zum Explanans umformt), einen starken Absolutismus, aber auch schieres Glück. Eingehendere Erörterung hätte wohl verdient, ob die Außenpolitik des Kaiserreichs wirklich vor allem eine preußische war, wie es der kursorische Verweis auf das Personal des Auswärtigen Amts unterstellt (S. 38).

Das folgende Kapitel gilt der Wirtschaft, vor allem der Rolle des Staates bei ihrer Entwicklung: angefangen mit dem Merkantilismus und diversen Maßnahmen des Landesausbaus – von der Sorge um Domänen bis zu systematischer Gewerbeansiedlung, der auch „Entwicklungshilfe“ (S. 51) von Zuwanderern wie den Hugenotten dienen sollte. Ambivalent fällt die Bilanz des Verfassers aus, der älteren Deutungen einer progressiven Wirtschaftspolitik jüngere Erkenntnisse entgegenhält: etwa zur hemmenden Wirkung der Ausrichtung der Wirtschaft auf den Staat und der Akzise. Mit ähnlichem Kenntnisreichtum wird die Industrialisierung analysiert, bis hin zur Sozialgesetzgebung, die weniger als Pioniertat des modernen Sozialstaats denn als Ausdruck eines politisch-sozialen Paternalismus erscheint (S. 79). Neben der Wirtschaftspolitik des Zentralstaats steht auch der Munizipalsozialismus im Blickfeld, das sich für die 1920er-Jahre mit seinen kommunalen sozioökonomischen Modernisierungsprojekten noch hätte schärfen lassen: Auch das „Neue Frankfurt“ gehörte zu Preußen.

„Preußens Regionen“ ist der nächste Buchteil überschrieben, der sich mit der Entwicklung der diversen hohenzollerischen Territorien innerhalb des entstehenden Gesamtstaates beschäftigt: also einerseits mit Zentralisierungsbestrebungen, andererseits mit Autonomiebehauptungen. Sowohl die einen als auch die anderen unterschieden sich in den diversen Gebieten im 18. Jahrhundert erheblich. Geschildert werden heftige Konflikte, die mit den Erweiterungen des 19. Jahrhunderts entstanden, auch das Scheitern der Zentralregierung, preußische Strukturen und Regelungen unverändert auf den neuen Gesamtstaat zu übertragen. Dass die Integration überwiegend gelungen sei, habe sich vor allem wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums verdankt (S. 98), zumal die Nationalstaatsgründung mögliche Alternativen erledigte. Wenngleich sich ein Sonderbewusstsein noch nach dem Ersten Weltkrieg fassen lässt, etwa in Oberschlesien, so nahm es insgesamt doch ab (S. 107), urteilt der Verfasser.

Von der Gesellschaft handelt das anschließende Kapitel, das womöglich etwas treffender mit „Gesellschaften“ hätte überschrieben werden können: Schließlich wiesen die eben beschriebenen Territorien unterschiedliche Sozialstrukturen auf, die der Verfasser transparent macht, indem er den Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft beschreibt – mit allen Ambivalenzen, die sich beispielsweise im Allgemeinen Landrecht, in der „Bauernbefreiung“ oder bei den liberalen Junkern der 1830er-Jahre fassen lassen. Der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie sind eigene Unterkapitel gewidmet, ebenso dem Militär, Juden, deren staatliche Diskriminierung erst in den 1920er-Jahren vorübergehend aufgehoben wurde, sowie Polen und anderen slawophonen Gruppen, die seit dem späten 18. Jahrhundert zu Preußen gehörten.

Vom politischen System handelt das fünfte Kapitel. Es beschreibt Veränderungen im Staatsaufbau und in den Gehalten der Politik – von zunehmender Zentralisierung im Absolutismus des 18. Jahrhunderts über Reformzeit und Revolution (1848) bis zu Verfassungskonflikt, Kaiserreich und schließlich Freistaat. Inwiefern gerade das Kaiserreich eine preußische Hegemonie bedeutete, darüber ließe sich wohl trefflich streiten; dass gerade Konservative im Herrenhaus die Reichsgründung als Niedergang Preußens empfanden, bleibt dem Leser eher verborgen. Dafür rückt die Darstellung das oft unterschätzte, nach dem Dreiklassenwahlrecht bestimmte Preußische Abgeordnetenhaus in den Vordergrund, ebenso schließlich das republikanische Preußen, dessen Verfassung als „fortschrittliches und vorbildliches Werk“ (S. 237) gedeutet wird.

Einen interessanten Zuschnitt weist der folgende Abschnitt auf, der „Staatskultur, Kulturstaat und Bürgergesellschaft“ untersucht: mit weitem Blick, der die Entwicklung der Künste und der Umgangsweisen mit den Künsten ebenso erfasst wie die Bildungs- und die Konfessionsgeschichte; Humboldt wird hier ebenso präsentiert wie der Denkmalbau im späten 19. Jahrhundert, die Entwicklung der Metropole Berlin ebenso wie die Entwicklung der Architektur in Schlesien, der intensive Kulturtransfer in die Vereinigten Staaten ebenso wie die Entstehung des Sozialprotestantismus und des Sozialkatholizismus.

Schließlich skizziert das letzte Kapitel diverse Preußenbilder; man darf dem Verfasser getrost im Diktum beipflichten, die Historiographie sei „häufig nicht unbeeinflusst von der jeweiligen Zeitgeschichte“ geblieben (S. 371). Der Blick fällt auf die borussische Schule und ihre zeitgenössischen Gegner, wendet sich Apologeten und Kritikern des aufgelösten Preußen zu – mit bekannten Wendungen, etwa derjenigen der DDR, die sich ab 1979 um den einst verworfenen Junkerstaat bemühte. Kursorisch blickt der Autor auf die internationale Rezeption, bei der er vorwiegend negative Urteile aufgreift: bis hin nach Japan, wo er übrigens geringere Preußen-Bezüge sieht als oftmals angenommen. Umsichtig kommentiert er schließlich die Debatte um einen preußischen Kolonialismus, bei der er vor simplen Kontinuitäts-Thesen warnt (S. 442).

Ein fazitähnlicher Abschnitt greift noch einmal den Staatsbildungsprozess auf, den der Verfasser von der Entmachtung der Stände im 18. Jahrhundert über die Bildung eines Gesamtstaates durch Monarchen, Beamten und Militär im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert führt, in dem Preußen an neuen Sozialformationen gescheitert sei. Die beschriebene „Durchsetzung von Staatlichkeit“ (S. 444) mutet freilich nicht so ganz besonders an, wie man beim Blick auf den Buchtitel vermuten könnte; gerade hier hätte ein vergleichender Blick auf andere europäische Staaten eine These profilieren können.

In einer Rezension lässt sich die argumentative Fülle kaum angemessen widergeben, die der Verfasser vor seinen Lesern ausbreitet; er stellt unterschiedliche Forschungsmeinungen souverän dar, ohne Kritik an „revisionistischen“ Analysen zu verhehlen. Sie droht indes zum Selbstzweck zu geraten, wenn mit „expliziten Wertmaßstäben“ insbesondere Deutungen Christopher Clarks mit seiner „subtilen Erlösungsbotschaft für untergründige Schuldkomplexe“ (S. 13) zurückgewiesen werden; der ehrenvolle Anspruch, „rückblickende Gerechtigkeit“ (S. 16) walten zu lassen, wäre in anderen Genres vielleicht besser aufgehoben als in wissenschaftlichen Handbüchern. Jedenfalls resultiert kein analytischer Mehrwert daraus, Fürst Bülow (nebenbei: kein Preuße, sondern ein Mecklenburger) eine „Unheilsgestalt“ (S. 40) zu nennen und Wilhelm II. allerlei „rückblickend anzulasten“ (S. 232). Auf diese Weise führt das Buch überaus kundig in die preußische Geschichte selbst sowie in ihre unterschiedlichen Deutungen ein – und zugleich in vielleicht doch besondere Probleme ihrer Erforschung.

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