G. B. Clemens u.a. (Hrsg.): Preußen an der Saar

Cover
Titel
Preußen an der Saar. Eine konfliktreiche Beziehung (1815–1914)


Herausgeber
Clemens, Gabriele B.; Kell, Eva
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte 50
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Eckert, Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal / Historisches Institut, Universität Potsdam

Preußens Memoria an der Saar ist verblasst. Ohnehin war das Interesse, an die einhundertdrei borussischen Jahre seit dem Wiener Kongress zu erinnern, meist eher gering. Einen Grund dafür benennt der Untertitel des nun erschienenen Buches: „Eine konfliktreiche Beziehung“. Seine konzisen Beiträge thematisieren Divergenzen des saarländischen Teils der neuen Rheinprovinz – aber auch so manche Konvergenzen mit dem preußischen Gesamtstaat, die am Ende sogar in der Erinnerungspolitik sichtbar wurden. Ihr gelten zwei der insgesamt dreizehn Aufsätze des Sammelbandes mit seinen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten.

Die knappe Einleitung der Herausgeberinnen erläutert die Thesen der einzelnen, thematisch wie methodisch weitgespannten Beiträge und weist sporadisch auf den Forschungskontext hin, den das Buch in gewisser Weise erst schafft. Daher mag ihr Verzicht auf programmatische Ausführungen sowie eine Binnengliederung der interdisziplinären Aufsätze rühren. Warum die letzten vier preußischen Jahre von 1914 bis 1918 nicht einbezogen sind, ist eine unbeantwortete Frage, die nicht nur ein Laie stellen könnte. Ihm dürfte freilich ebenso wie Fachkundigen das Personen- und Ortsregister helfen, an Vorwissen anzuknüpfen; am häufigsten werden Napoleon I., Wilhelm I. und Friedrich Wilhelm III. aufgelistet. Darin drücken sich Schwerpunkte aus: die prägende französische Vorgeschichte des einstigen Départements, die Übernahme der Saar und ihre Profilierung im Zuge der preußischen und deutschen Nationalstaatsbildung.

Gabriele B. Clemens und Katharina Thielen beschäftigen sich mit politischen Handlungsmöglichkeiten der Saarbürger, die nach der Niederlage Frankreichs sogar Emissäre zu den Alliierten nach Paris sandten. Immerhin hatten sie von Napoleons Herrschaft profitiert, unter anderem durch den günstigen Ankauf von Nationalgütern und die Anbindung ans Kontinentalsystem. Die preußische Inbesitznahme betrieb Brüche, indes auch Kontinuitäten; ein radikaler Ämtertausch blieb aus, eine partizipatorische Verlusterfahrung entstand dennoch – das Verfassungsversprechen blieb unerfüllt, im Provinziallandtag ließen sich saarländische Interessen kaum wirkungsvoll vertreten. Mitwirkung fand im Kleinen statt, liberale Hoffnungen ins Große enttäuschten die adelsfreundlichen neuen Landesherren im Vormärz.

Wie – und überhaupt: dass – die Hohenzollern ihre dazugewonnenen Westprovinzen systematisch bereisten, macht Jürgen Herres’ Beitrag nachvollziehbar. Die preußischen Könige präsentierten sich an der Peripherie und ließen sich von dort immediat ins Zentrum berichten: durch monatliche Schreiben von Behörden, die Akzeptanzprobleme der neuen Herrschaft nicht verschwiegen. Der spätere Wilhelm I. bemühte sich nach 1848 intensiv um die Rheinprovinz, diese sich insbesondere um den gerade ausgerufenen Kaiser.

Komplex war also die Integration ins preußische Königreich: eine Interaktion von Systemen mit eigenen Traditionen und Personen mit eigenen Interessen. Thomas Gergens Studie widmet sich der Rechtsrezeption bzw. den Translationen. Die Absicht des Ministers, das Allgemeine Landrecht sogleich auf die neuen Staatsteile zu übertragen, durchkreuzte eine Immediat-Justiz-Kommission; spätere Initiativen einer gänzlichen Überschreibung des rheinischen, einst französischen Rechts scheiterten ebenfalls. Eine konsequente Angleichung bewirkte erst die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches; unterdessen blieb das rheinische Recht teils in Kraft, teils beeinflusste es sogar die Fortschreibung des preußischen Zivil- und Strafprozessrechts.

Gegen die borussische Erfolgs-Erzählung, die Wirtschaftsentwicklung an der Saar bewirkt zu haben, wendet sich Ralf Bankens Analyse der Industrialisierung. Sie stellt zumal Vor- und Nachteile des nun eingerichteten Staatsbergbaus dar; für Arbeitnehmer waren damit manche Fortschritte verbunden, Hemmnisse indes vor allem für die technische Innovation. An diese Einordnung der Montan- und Hüttenindustrie schließen zwei arbeitergeschichtliche Beiträge an. Fabian Trinkaus schildert die Ausdifferenzierung der Arbeiterschaft auch jenseits der Arbeitsstelle – von Versuchen der Arbeitgeber, ihr Personal etwa durch Werkswohnungen an sich zu binden, bis hin zur Konkurrenz der Arbeitnehmer untereinander. Freiräume eigenständigen Handels belegen auch Frank Hirschs Erkundungen von Protest und Devianz: Dass Sulzbacher Arbeiter nach einer Arbeitsniederlegung im Jahre 1872 auf Lohnnachzahlung für die Streiktage bestanden, belegt ihr Selbstbewusstsein – das wiederum die Wahrnehmungsmuster von Unternehmen, Staat und Presse strukturierte: Sie versuchten die aufrührerische Arbeiterschaft zu desorganisieren.

Wirtschaftliche Prozesse erwähnt ebenfalls Torsten Mergens Untersuchung der Saar als literarischen Raum, in dem nach 1918 so manche gegen die Abtrennung der Saar von Preußen anschrieben. Indem sie sich nicht auf „große“ Literatur konzentriert, sondern auf literarische Prozesse bis hin zu Produktion und Vertrieb, wird unter anderem die Publikationspolitik der preußischen Bergwerksdirektion verständlich.

Die beiden folgenden Beiträge verbindet ihr Thema, die im frühen 19. Jahrhundert so neuralgische Wehrpflicht. Bernhard Schmitt konzentriert sich auf den Übergang von französischer Herrschaft, die einen Ersatzmann erlaubt hatte, in die preußische, die keine Ausnahmen vorsah, aber genauerer Durchführungsvorschriften ermangelte. Das bewirkte allseitige Unsicherheit; die preußische Regierung reduzierte Maximalforderungen, indem sie etwa eine Heimatstationierung der Eingezogenen zuließ. Solche Anpassungen trugen zu weitgehender Akzeptanz der Wehrpflicht bei, gewiss auch die niedrigen Aushebungsquoten; nur in Grenznähe war die Zahl der Refraktäre erhöht. Die neue Rheinprovinz verfügte über umfassendere Erfahrungen als Preußen, das diese Lektionen freilich zu nutzen verstand: etwa durch Übernahme des Losverfahrens. Längerfristig orientiert ist die Untersuchung von Rolf Wittenbrock, derzufolge die Wehrpflicht dauerhaft hingenommen wurde; für die Übergangsphase macht sie indes eine erhöhte Quote an Wehrpflichtigen aus, die sich dem Dienst zu entziehen suchten, besonders in Saarlouis, wo ein bis 1821 garantiertes Auswanderungsrecht einen Weg aus der Pflicht ermöglichte.

Alexander Hilperts aufschlussreicher Beitrag handelt vom Streit um die in einer römischen Villa bei Nennig vorgefundenen Inschriften und Malereien: eine archäologische Sensation des Jahres 1866, die allerdings der Trierer Bildhauer Heinrich Schaeffer fingiert hatte. Im gelehrten Streit um die Echtheit der Entdeckungen kollidierten national- wie wissenschaftspolitische Ansprüche. Hiesige Antikenforscher, die zudem luxemburgische Schützenhilfe erhielten, verteidigten die Echtheit der Entdeckungen vehement und machten deren Entlarvung zum eigentlichen Skandal; sie fürchteten eine feindliche Übernahme durch zentrale Fachexperten wie Theodor Mommsen, der „Dilettanten“ aus der Provinz zu entmachten suchte. Eine gewisse Versöhnung leistete erst die Einrichtung eines Provinzialmuseums in Trier, mit der zudem eine bevormundende Betreuung durch Bonner Gelehrte abgewendet werden konnte.

Der zeitgenössischen Erinnerungspolitik gelten die zwei folgenden Aufsätze. Michael Röhrigs Bestandsaufnahme der Nationaldenkmäler in Saarbrücken macht Dynamiken bei deren Errichtung verständlich, insbesondere den Wettstreit um Prestige auf nationaler und kommunaler Ebene – zwischen Orten, in denen Monumente aufgestellt wurden, aber auch innerhalb: in der Dimension der Denkmäler, ebenso in ihrer Finanzierung, städtisch bei der Saarbrücker Germania (1873), eher großbürgerlich beim Winterbergdenkmal (1874), eher kleinbürgerlich beim Obelisken für Friedrich III. (1888). Mit der malerischen Neuerfindung des indisponierten Empfangs, der den gerade proklamierten Kaiser erstmals auf deutschem Boden begrüßte, beschäftigt sich Bärbel Holtz’ instruktive Studie. Wilhelm I. sucht die nicht mehr so ganz neuen Provinzen enger an sich zu binden, indem der Zentralstaat die opulente lokale Historienmalerei koordinierte. Anton von Werner, der sein rapide wachsendes Ansehen in nicht minder rapide wachsende Honorarforderungen umzusetzen wusste, sollte die Schlacht von Spichern (1870) als kriegsentscheidende darstellen. Sein Zyklus von Monumentalgemälden wurde im Jahre 1880 im Saarbrücker Rathaus platziert, um die saarländische Geschichte der preußischen einzuzeichnen.

Schließlich blickt Joachim Conrad auf den Agendenstreit. Die Protestanten an der Saar, ohnehin schon eine Minderheit im katholischen Gebiet, hatten unterschiedlichen Kirchenregimentern unterstanden und suchten nach neuen Arrangements in der Preußischen Union; der Streit um Gottesdienstform und Kirchenorganisation schwelte jahrzehntelang.

So entsteht ein facettenreiches Bild der Saar innerhalb des preußischen Staates. Dass die Konflikte zahlreich scheinen, führt die Einleitung zu Recht auch auf die konsultierten Quellenarten zurück; es zeigen sich gleichwohl allerlei Kooperationen, etwa bei der relativen Akzeptanz der Wehrpflicht oder beim Versuch, Preußen und Saar erinnerungspolitisch zusammenzuführen. So bietet der Sammelband zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Studien zur Geschichte dieser Region und der Rheinprovinz insgesamt, aber auch für Studien zur Geschichte anderer Regionen respektive Provinzen in Preußens. Eine komparative Perspektive hätte das vielfältige Buch noch spannender gemacht. Mit seiner verdienstvollen Grundlagenarbeit festigt es indes das Fundament für Vergleiche auch über Preußen hinaus.

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