H. Hess: Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht

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Titel
Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours


Autor(en)
Hess, Hendrik
Reihe
Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde
Erschienen
Berlin 2019: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 232 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik A. Wagner, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Faszination, die die politische und kulturelle Umbruchs- und Transformationszeit des 5. bis 7. Jahrhunderts n.Chr. erweckt, reißt nicht ab. Spätestens seit dem Standardwerk von Karl Friedrich Stoheker aus dem Jahr 19481 galt dabei der gallo-römischen Oberschicht ein besonderes Forschungsinteresse. Seinen Niederschlag findet dies in einer ganzen Reihe von Publikationen.2 Hendrik Hess bewegt sich mit seiner Bonner Dissertationsschrift somit auf einem intensiv und gut bearbeiteten Forschungsfeld, welches in jüngster Zeit durch einen von Gernot Michael Müller herausgegebenen Sammelband zur lateinischen Epistolographie und die Dissertation Meurers3 noch weiter bereichert wurde. Insbesondere der historische Statusdiskurs und die Erinnerungskultur der gallo-römischen Oberschicht stehen im Fokus dieser jüngsten Forschungsbeiträge, an die Hess anschließt.

Für die Zeit der Neuordnung Galliens vom Ende der römischen Herrschaft bis zur Etablierung der „germanischen“ regna will Hess die Veränderungs- und Anpassungsprozesse innerhalb der gallo-römischen Oberschicht untersuchen (S. 2f.). Damit legt er eine mentalitäts- und kulturgeschichtliche Studie vor, die sich mit der Kommunikation und (Selbst-)Wahrnehmung der gallo-römischen Oberschicht im „historischen Diskursraum“ auseinandersetzt. Dies erfolgt anhand einer quellenimmanenten, kontextualisierten Diskursanalyse, mit der sich Hess von der älteren prosopographisch und juristisch geprägten Forschung abhebt. Dies betrifft ebenso die Definitions- und Zugehörigkeitsfrage (S. 5–10), die von Hess mit dem Terminus „Oberschicht“ flexibel gehandhabt wird. Überdies greift die Studie verstärkt auf Modelle der Soziologie zurück, vor allem auf Bordieus „Feldtheorie“ (S. 22f.), von der Hess seine Terminologie des „historischen Diskursraums“ ableitet.

Kapitel 2 (S. 27–117) befasst sich mit Sidonius, Ruricius und Avitus. Im Zentrum steht die Vergleichsanalyse verschiedener Distinktionsmerkmale (S. 48–103). So stellt Hess für die weltlichen Ämter, Rangtitel und die „edle“ Abstammung fest, dass Sidonius diesen noch eine verhältnismäßig hohe Bedeutung beimaß, Ruricus und Avitus hingegen schon weit weniger, was aber in Anbetracht der schwindenden Möglichkeit, (römische) Ämter zu bekleiden, zu erwarten war. Auch schon für Sidonius wurde diesbezüglich ein Unterschied zwischen den frühen und späteren Briefen festgestellt.4 Die amicitia ist selbstverständlich für alle drei Vertreter ein entscheidendes Kriterium; immerhin dient die Epistolographie der Errichtung und Aktualisierung solcher Beziehungen (S. 63). Die Frage, was die verbindenden Elemente der amicitia waren, bleibt hier allerdings unbeantwortet. Unter „Luxus“ werden vor allem die Gaumenfreuden und kulinarischen Geschenke behandelt. Hess erwägt hier eine Überführung der aristokratischen Gruppenbildung von der öffentlichen Form in eine private (S. 64). Für die Romanitas wird festgestellt, dass diese zusammen mit dem Wegfall des politischen Bezugsrahmens an Bedeutung verlor. Zugleich zeigt sich, dass die antike Bildung das Selbstverständnis der römischen Oberschicht noch immer maßgeblich beherrschte (S. 76). Zusammen mit der „Fähigkeit zur standesgemäßen literarischen Produktion“ stelle sie die Grundlage des Selbstverständnisses der römischen Oberschicht in Gallien dar (S. 114). Es fällt ferner die zunehmende Akzeptanz der veränderten Machtverhältnisse auf. So finden sich wohlwollende Worte gegenüber den barbari, die das Bemühen um ein „gütliches Auskommen“ (S. 84) zu belegen scheinen. Betont werden die Progressivität, der Pragmatismus und die Hybridität in den Äußerungen der gallo-römischen Oberschicht. Hess spricht hier von „Übergangsrömern“ (S. 103) oder – fortgeschrittener – von „Hybridrömern“ (S. 119f.).

Kapitel 3 (S. 118–130), welches bezeichnenderweise den Titel „Zwischenräume“ trägt, versucht eine Brücke zwischen Sidonius und Gregor von Tours zu schlagen. Das Kapitel fällt zwar recht knapp aus, erweitert aber die Quellenbasis um die leges, Epitaphien und Heiligenviten. In der Bestandsaufnahme der leges bekräftigt Hess seine Position, dass die Ethnizität „keine gesellschaftliche Leitdifferenz“ mehr dargestellt habe (S. 122). Dies wird von Hess auch für die Epitaphien festgehalten, die zwar Ausdruck eines elitären Selbstverständnisses, nicht aber einer römischen „Identität“ seien (S. 124). In ähnliche Richtung geht die Bewertung der Epistolae Austrasicae, die Hess vom „‚römischen‘ Ballast“ abgelöst sieht (S. 127). An der Chronik des Marius von Avenches macht Hess deutlich, dass mit respublica Romana nur noch Ostrom angesprochen worden sei und sich eine Selbstidentifizierung als civis Romanus wohl ausschließe (S. 128).

Im abschließenden Kapitel 4 (S. 131–175), welches die Werke des Venantius Fortunatus und des Gregor von Tours untersucht, erhärtet sich der Befund weiter. Die Romanitas und vor allem die Ethnie sind am Ende des 6. Jahrhunderts kaum noch im Bewusstsein verankert. Hess erkennt nur noch vereinzelte Spuren: Venantius Fortunatus kann zwar als Dichter sehr wohl das Tableau „klassisch-römischer“ Diktion abrufen, Spuren einer römischen Oberschicht mit entsprechendem Selbstverständnis können von Hess hier jedoch nicht mehr verifiziert werden. Vielmehr betont der Autor den Übergang in ein Stadium der Latenz (nach Hans Ulrich Gumbrecht), in welchem die Romanitas zwar noch unterschwellig hervortreten könne, aber nicht mehr bewusst wahrgenommen werde. Zugleich weist er auf die fortschreitende „Fragmentierung des historischen Diskursraums“ hin (S. 174), die in den Unterschieden zwischen den Werken des Gregor von Tours und des Venantius Fortunatus greifbar werde. Dass zwischen beiden Autoren ein Unterschied bezüglich des Umgangs mit dem „römischen“ Erbe zu erkennen ist, wird allerdings auch auf die Literaturgattung zurückzuführen sein. Die Poetik greift stärker auf „klassische“ Idealbilder zurück und konserviert diese regelrecht. Der direkte Vergleich erscheint daher schwierig.

Hess entwickelt mit seiner Studie letztlich ein dreistufiges Modell, welches vor allem eins schafft: einen differenzierteren Blick auf das poströmische Gallien. Statt a priori die Dichotomie zwischen barbari und Romani sowie die Existenz einer römischen Oberschicht in einer Kontinuität bis ins 7. Jahrhundert anzunehmen, arbeitet Hess drei Phasen heraus: Übergang, Hybridität und Latenz, die wiederum „Übergangs-“, „Hybrid-“ und „Latenzrömer“ hervorbrachten. Damit wird dem statischen Bild einer unveränderlichen gallo-römischen Oberschicht eine Absage erteilt, was unter Berücksichtigung der sich wandelnden Rahmenbedingungen durchaus nachvollziehbar ist.

Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Kriterien darüber entscheiden, ab wann ein Zeugnis der Romanitas im Übergang begriffen, hybrid oder schon latent ist. Eine gute Vergleichsbasis hätte das späte 4. und frühe 5. Jahrhundert bieten können, etwa mit den Briefen des Ausonius oder der Dichtung des Rutilius Namatianus. Vermutlich setzt die Entwicklung, die Hess herausarbeitet, bereits früher ein. Die römische „Senatsaristokratie“ gab seit der Kaiserzeit ein indifferentes, „hybrides“ Bild ab, changierend zwischen der idealisierten (republikanischen) Vergangenheit Roms und der Aktualisierung und Anpassung ihres Selbstbildverständnisses an die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Die ethnische Zuordnung und insbesondere die entsprechenden Barbaren-Topoi waren keineswegs zwingende Kriterien der Distinktion, sondern konnten situativ und flexibel angewandt werden, wie dies am Blick der antiken Autoren auf die spätantiken Heermeister durchaus ersichtlich wird.5 Neben den von Hess betrachteten Distinktionsmerkmalen wären auch noch weitere Faktoren wichtig. Wie verhält es sich etwa mit der überregionalen Vernetzung, der Mobilität und dem „globalen“ Blick? Die Einbeziehung archäologischer Zeugnisse könnte hier ebenfalls weiterführen.

Die Beurteilung, wie „römisch“ die gallische Oberschicht des 6. und 7. Jahrhunderts noch war, wird so auch in Zukunft ein wichtiges Forschungsthema darstellen. Hess gibt hierbei wichtige Impulse für eine wesentlich differenzierte Betrachtungsweise und bringt so manche traditionelle Auffassung ins Wanken. Es lohnt, hieran anzuknüpfen.

Anmerkungen:
1 Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948.
2 Vgl. bes. John F. Matthews, Western Aristocracies and Imperial Court, AD 364–425, Oxford 1975; Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis 7. Jahrhundert – Soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte, Stuttgart 1976; Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich, München 1993; Ralph W. Mathisen, Roman Aristocrats in Barbarian Gaul. Strategies for Survival in an Age of Transition, Austin 1993 (und zahlreiche weitere Studien); Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr., Stuttgart 1999; John Drinkwater / Elton Hugh (Hrsg.), Fifth-Century Gaul. A Crisis of Identity? Cambridge 2002; Mischa Meier / Steffen Patzold (Hrsg.), Chlodwigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500, Stuttgart 2014.
3 Gernot Michael Müller (Hrsg.), Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter, Stuttgart 2018; Tabea L. Meurer, Vergangenes verhandeln. Spätantike Statusdiskurse senatorischer Eliten in Gallien und Italien, Berlin 2019 (nicht mehr berücksichtigt).
4 Differenzierter Meurer, Vergangenes verhandeln, S. 164–253.
5 Vgl. u.a. Tido Janßen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408), Marburg 2004 (mit Einschränkung); und Friedrich Anders, Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010, S. 74–95.