Titel
Heinrich Schnee. Karrierewege und Erfahrungswelten eines deutschen Kolonialbeamten


Autor(en)
Abermeth, Katharina
Erschienen
Kiel 2017:
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
57€
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulf Morgenstern, Otto-von-Bismarck-Stiftung

„Solivagus“ ist ein sprechender Verlagsname, über dessen Hintergründe der Verleger auf seiner Homepage liebevoll informiert. In dem auf kulturgeschichtliche Studien zum 19. Jahrhundert ausgerichteten Imprint „Praeteritum“ ist nun eine Biographie Heinrich Schnees erschienen. Dem Rezensenten geht es dabei wahrscheinlich ähnlich wie anderen leidlichen Lateinern, wenn die anspielungsreiche Titulatur eine Assoziationskette in Gang setzt, die einen der „profiliertesten Vertreter der deutschen Kolonialära“ (S. 493) als „einsamen Wanderer“ durch die „Vergangenheit“ ziehen lässt. Vor allem weil der „Lebensweg“ des Mannes mit dem alles andere als tropischen Nachnamen „Schnee“ bis zu seinem Unfalltod in der zweiten Nachkriegszeit reichte, als er bei Vernehmungen seine vermeintliche Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus im Allgemeinen sowie gegenüber den jovial-homosexuellen Gelagen Ernst Röhms in Besonderen bekundete.

Unter Anderem diese denunziatorischen Aussagen aus der Zeit nach 1945, als neben Heinrich Schnee und Paul von Lettow-Vorbeck kaum noch andere, vor 1918 prominent gewesene Gesichter des deutschen Kolonialismus in die Öffentlichkeit treten konnten, haben den Autor dieser Zeilen, seit er sie einmal zufällig im Nachlass Schnees in der Hand hatte, auf eine Biographie warten lassen. Nun liegt sie vor und sie enthält nichts von der Sentimentalität des Porträts auf dem Titel des Buches. Im Gegenteil. Die deutlichen Urteile der Autorin gründen auf der umfassenden Durchsicht der relevanten Archivalien in knapp 20 Archiven in Europa, Afrika, Australien und Ozeanien. Sie ist die erste, die sich diesen Mühen unterzogen hat, was erstaunt, handelt es sich doch um „eine der interessantesten Figuren des deutschen Kolonialismus“ (S. 12). Schnee war neben der aktiven Arbeit in der Kolonialverwaltung (in der Berliner Zentrale wie auch „on the spot“ in Stationen vom Richter bis zum Gouverneur) auch publizistisch tätig, er präsidierte einschlägige Verbände und wurde nach dem Ersten Weltkrieg zur integralen Figur des Kolonialrevisionismus.

Die Einzelstationen können hier nicht referiert werden, die Autorin führt abgewogen durch die Karriere des liberalen Imperialisten. Von der familiären Sozialisation im mitteldeutschen Bildungsbürgertum und einem Jurastudium in Heidelberg, Kiel und Berlin geht es im chronologischen Durchlauf von Posten zu Posten, „Fleiß und Eifer“ (S. 53) ziehen sich nach Abermeths Einschätzung wie ein roter Faden durch sein Leben. Ob man die an der zeitgenössisch für ihre niedrigen Standards bekannten Jenaer juristischen Fakultät erlangte Promotion, die nur „cum laude superato“, also nur mit „gut“ (S. 52) bestanden wurde, zur besonderen Strebsamkeit Schnees rechnen soll, ist fraglich. Eher ist darin eine nüchterne Rationalität zu erkennen, mit der eine Karriere geplant und umgesetzt wurde. Katharina Abermeth folgt dem Hereinwachsen Schnees in die im Entstehen begriffene deutsche Kolonialverwaltung in der Zentrale wie in den Kolonien in einer lakonische Sprache. Der indikative Stil suggeriert dabei – wohl eher ungewollt – , dass sich die Dinge fast schon linear entwickelten und ausdifferenzierten. Mit Schnee als Gestalter mittendrin.

Wohlgemerkt: Die Darstellung ist keinesfalls unkritisch, der Forschungsstand ist nicht nur bis Fertigstellung der Studie im Jahr 2012, sondern auch darüber hinaus souverän verarbeitet und die Autorin bewegt sich durchweg auf einem hohen reflexiven Niveau; von der Durchdringung der Quellenmengen ganz zu schweigen. Aber vielleicht hat gerade Letzteres in etlichen Passagen zu einer auffällig linearen Narrativität geführt, die man gern hier und da gebrochen sehen würde. So wird die Eheschließung Schnees mit einer ihm zuvor kaum bekannten australischen Schauspielerin nachvollziehbar als ungewöhnlich bezeichnet. Weitere Hintergründe fehlen aber, was der Quellengrundlage geschuldet sein mag, jedoch werden Fragen nach habituellen Prägungen, persönlichen Zielen, Freundschaften, Zwängen, gesellschaftlichen Rollenmustern nicht gestellt, lediglich die für einen Wilhelminer erwartbare Orientierung am Pflichtgefühl des Vaters wird konstatiert. Die Einordnung in eine von der Autorin zu Recht als Desiderat bezeichnete Prosopographie der deutschen Kolonialbeamten (S. 26) wird mit diesen wenigen Einschätzungen nicht gelingen.

Was aus den Quellen dicht beschrieben werden kann und wird, ist die Geschichte des Reichskolonialamts, an dessen Reform Schnee maßgeblich beteiligt war, sowie die berufliche und publizistische Arbeit Schnees und deren Einbettung in die kolonial- und verwaltungspolitischen Umstände. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, als Schnee als depossedierter Gouverneur von Deutsch-Ostafrika nach Berlin zurückkehrte, wird seine Karriere auf 450 Seiten minutiös nachgezeichnet. Die knapp 30 noch folgenden Jahre als Gesicht des deutschen Kolonialrevisionismus fallen demgegenüber mit ca. 40 Seiten knapp aus – Kolonialismus ohne Kolonien ist über Diskurse schwerer zu rekonstruieren als der reale zuvor durch Verwaltungs- und Nachlassakten. Hier liegt ein Ansatz für künftige Studien, die das hier über Schnee Aufbereitete mit anderen Biographien vom Schlage des Herzogs von Mecklenburg und anderen Kolonialrevanchisten und -enthusiasten mit überseeischem und osteuropäischem Fokus ergänzen können. Denn Schnee war kein „Solivagus“, der Vergleich mit anderen colonial officials drängt sich vor den Perspektiven der Global- und Kolonialgeschichte geradezu auf. Und über die, für die in kolonial-praktischer Hinsicht eben doch nicht „platonische“ Zwischenkriegszeit mit so unterschiedlichen benchmarks wie von Klaus Hildebrand und Jürgen Zimmerer vorgeschlagen, gibt es auch in international vergleichender Perspektive noch jede Menge Stoff.

Aber dessen ungeachtet: Moderne Biographik, kritische Kolonialgeschichte und die Analyse des speziell deutschen, postkolonialen Redens über den Kolonialismus verbinden sich in der Studie. Ihre Übersetzung ins Englische wäre empfehlenswert für die Rezeption; das Anfügen eines Personenverzeichnisses würde der Benutzung dienen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension