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Titel
Geschichte machen. Historisches Forschen und die Politik der Archive. Historisches Forschen und die Politik der Archive


Autor(en)
Müller, Philipp
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Berg, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Nüchtern und klar umreißt Philipp Müller in wenigen Zeilen den Gegenstand seiner Göttinger Habilitationsschrift: Diese fragt nach der „Rolle und Bedeutung von Archiven bei der Verfertigung historischen Wissens im 19. Jahrhundert“, konkret stehen die „institutionellen Bedingungen“ der Nutzung von Archivmaterialien durch die historische Forschung sowie die Folgen dieser Bedingungen für die „Generierung historischen Wissens“ im Mittelpunkt des Interesses. Daraus ergeben sich für Müller zwei Ziele seiner Untersuchung: Erstens soll das Archiv als „wissenskonstitutive Einrichtung“ bestimmt und zweitens das „historische Erkennen und Wissen im 19. Jahrhundert neuartig beleuchtet“ werden (S. 16). In einem anregenden Präludium zur Entstehungsgeschichte einer von Heinrich von Sybel 1882/83 anlässlich des 25-jährigen Gründungsjubiläums der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verfassten Festschrift verdeutlicht Müller zuvor, welche Sprengkraft verstaubte Aktendeckel verbergen konnten (bzw. weiterhin können).

Müllers zentrale These lautet, dass sich die Archive nicht wegen bestimmter historischer Ereignisse (wie etwa der Französischen Revolution), nicht wegen besonders wirkmächtiger Akteure oder allein aufgrund staatlicher Reformen, sondern im „Zuge eines politisch-gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses“ im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelten. Als aus seiner Sicht bislang zu wenig beleuchtet, identifiziert Müller – neben Aspekten der frühneuzeitlich geprägten Archivkultur – vor allem die „Mikropolitik der Gelehrten und Forscher“, deren vielfältiges Engagement, zielgerichtet auf die „persönliche Inaugenscheinnahme von Quellenmaterial“ orientiert, diesem Prozess die eigentliche Dynamik verliehen habe. Kommunikative Akte verschiedenster Form nimmt Müller daher in den Blick, nennt selbst unter anderem Gesuche, administrative und private Korrespondenzen, tatsächliche Begegnungen im Archiv sowie schließlich die Resultate all dieser Bemühungen, die historischen Studien selbst.

Das ist ein Ansatz, der die Berücksichtigung einer beeindruckenden Menge archivalischer Quellen – allerdings weit überwiegend bayerischer und preußischer Herkunft – erfordert und in einem fast dreißigseitigen Verzeichnis ungedruckter Quellen mündet (wobei die Aufführung jeder einzelnen verwendeten Akte, nicht wie üblich des konsultierten Bestandes, womöglich des Guten etwas zu viel darstellt). Neben anderem hebt Müller zu Recht die eminent politische Rolle der Archive bzw. der archivalischen Schriftstücke hervor. Diese nahmen im 19. Jahrhundert eine heute weitgehend vergessene, zentrale Stellung im alltäglichen Handeln von Politik und Verwaltung ein, waren nicht allein und auch nicht primär der Überlieferung und möglichen Erschließung der Vergangenheit zugedacht.

Müllers Studie ist in drei, allerdings sehr unterschiedlich umfangreiche Hauptkapitel gegliedert. Auf die Feststellung der institutionellen und rechtspolitischen Verfasstheit der Archive im 19. Jahrhundert folgt zweitens mit der „Öffnung der Archive“ die Betrachtung des benannten, den institutionellen Wandel begründenden wie begleitenden Kommunikationsprozesses. Mit dem – im Vergleich zum ersten Hauptkapitel – etwa dreifachen Umfang nimmt dieser Abschnitt allein deutlich mehr als Hälfte der Studie ein und kann wohl als ihr Kern betrachtet werden. Hingegen verbleibt der dritte Hauptabschnitt „Geschichte schreiben mit dem Archiv“ zumindest vom Umfang her schmal, auf etwa 40 Seiten werden hier die „Folgen für das historische Erkennen und Wissen ermittelt, die der Rückgriff auf das in Archiven bewahrte Material hatte“ (S. 38).

Ohne Frage, und Müller selbst unterstreicht das mit Nachdruck (S. 39), legt das erste, mit „Die Archive“ recht allgemein betitelte Hauptkapitel die wesentlichen Grundlagen für den folgenden Gang der Untersuchung. Deutlich möchte sich Müller von früheren Auffassungen zum Wandel der Archive als Institutionen um 1800 absetzen, möchte etwa die von ihm vornehmlich betrachtete staatliche Archivpolitik in Beziehung zu frühneuzeitlichen Traditionen setzen. Die „Arbeit am Archiv“, etwa durch Hardenberg oder Montgelas, wird eingehend geschildert, dabei die unterschiedliche Vorgehensweise in Berlin und München herausgearbeitet. Wer wozu das Archiv im 19. Jahrhundert nutzte, rückt anschließend in den Mittelpunkt. Müller widmet sich vor allem den rechtspolitischen Funktionen der staatlichen Archive, hebt ausdrücklich ihre fortgesetzt „herrschaftspolitische Relevanz“ hervor, dahinter sei das historische Studium noch weitgehend zurückgetreten.

Noch tiefer in die Institution des Archivs selbst wagt sich Müller zum Schluss des ersten Hauptkapitels und beschreibt in einem erfrischend „handfesten“ Abschnitt die Einrichtung der Archivräume, die praktischen Anforderungen an diese wie auch die Umsetzung ihres Geschäftsbetriebs. Seine Schlussfolgerung aus dieser, wenn man so will, Bestandsaufnahme lautet: Die rechtspolitische Funktion der Archive blieb im 19. Jahrhundert erhalten, diese verloren für die Regierungen keineswegs an Bedeutung, die Nutzung für historische Forschungen – überdies langsamer als bislang zumeist dargelegt – trat zu diesem Zweck allenfalls hinzu, ersetzte ihn aber nicht.

Dieser „Öffnung“ der Archivnutzung für die „Geschichte“ geht Müller im zweiten Abschnitt seiner Arbeit in großer Detailliertheit nach, untermauert dabei aus einer Fülle verschiedener Perspektiven seine Kernthese eines „politisch-gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses“, der diese Entwicklung befördert und begleitet hat bzw. von dieser selbst ebenfalls vorangetrieben wurde. Dabei werden die verschiedenen Formen von Beteiligung in ihren jeweiligen Rollen beschrieben: die ersten Ansätze einer Öffnung um 1820/30, die folgenden Bittgesuche um Archivbenutzung, deren administrative Prüfung, schließlich die „Mikropolitik der Gelehrten“, ihre (Be-)Arbeitung der sich öffnenden Institution Archiv, ihr „Lobbying im Vorraum des Archivs“, stets an der Schwelle zur Erlangung des Gewünschten, schließlich mündend in der Forderung nach „freier Benützung“, die Müller in einer kleinen Fallstudie entfaltet. Das Augenmerk der Studie auf Kommunikationsakte – bei denen es sich in aller Regel um Briefe verschiedener Formen handelte (einige kürzere Überlegungen zu diesen auf S. 304f.) – erweist sich als zielführend und trägt zudem zu einer recht abwechslungsreichen Lektüre bei.

Im abschließenden, dritten Hauptteil möchte Müller sich dem „Geschichte schreiben mit dem Archiv“ zuwenden, demnach die Nutzung der durch die Öffnung der Archive erreichten „Inaugenscheinnahme“ für die historische Forschung darlegen. Seine These, dass die Herkunft der Dokumente (bzw. die Art und Weise ihrer Erlangung) nicht ohne Auswirkung auf ihre Verwendung blieb, dass es unvermeidlich zu einer „Verflechtung“ von Archiven und historischer Forschung kam (S. 375), kann durchaus überzeugen, der Abschnitt erscheint aber bereits aufgrund seiner Kürze mehr als ein Appendix des eigentlichen Gegenstandes.

In der Tat bewegt sich Müllers überzeugende Studie weit überwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine empirische Fortführung bis zum Ende des Jahrhunderts wäre wohl kaum zu leisten gewesen. Dass ihre Grundannahme von einer sich durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch entfaltenden, prozessualen Entwicklung des Archivs vom Rechtswalter des Staates zur Stätte historischer Forschung auch in dieser verlängerten Perspektive eine Berechtigung hat, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen archivpraktischen Referate und Diskussionen, die Appelle und Forderungen nach verbesserten bzw. regulativ zuverlässigen Zugangsberechtigungen noch auf den ersten Historikertagen in den 1890er-Jahren. Hier zeigte sich auch, dass es sich keineswegs um eine Einbahnstraße handelte: Während sich die historische Forschung auf den Weg in das Archiv gemacht hatte, bewegte sich das Archiv im Gegenzug in den Bereich der Geschichtsschreibung, institutionelle Vorteile und Machtstellungen durchaus mit sich führend. Um 1900 bedurften die Archivare jedenfalls keines Sitzes „qua Amt“ im Ausschuss des Historikerverbandes, mehr als ein halbes Dutzend Archivdirektoren im Verbandsausschuss dokumentierten den besonderen Rang, den das Archiv in der historischen Forschung um die Wende zum 20. Jahrhundert einzunehmen vermochte.

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