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Titel
Ökonomischer Wandel als Aufstiegschance. Jüdische Getreidehändler an der Berliner Produktenbörse 1860–1914


Autor(en)
Wessel, Ariane
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 53
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Menning, Historisches Seminar, Universität Tübingen

Arbeiten zur Geschichte der Börse erfreuen sich in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit. Ariane Wessels Dissertation zu jüdischen Getreidehändlern an der Berliner Börse zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg verspricht einen willkommenen Brückenschlag zwischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, indem sie eine spezifische Akteursgruppe ins Zentrum ihrer Untersuchung rückt. Zumal Wessel damit nicht eine marginale Gruppe aufgreift, sondern zentrale Handelnde der Produktenbörse der aufstrebenden deutschen Reichshauptstadt. Insgesamt waren 42 der 49 langfristig, das heißt in der Regel über 60 Jahre, an der Berliner Börse aktiven Unternehmen im Besitz von Kaufleuten jüdischen Glaubens. Insofern rückt Wessel die Frage ins Zentrum ihrer Einleitung, „wie es einer kleinen Minderheit meist zugewanderter Unternehmer möglich war, im Laufe weniger Jahrzehnte eine äußerst bedeutende Stellung im Berliner Getreidehandel einzunehmen“ (S. 9). Die Ausgangshypothese bildet die Annahme, „dass die mannigfaltigen – zunächst ökonomischen, in der Folge aber auch gesellschaftlichen – Umbrüche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Grundlage und Ursache für die im Berliner Getreidehandel beobachtete Umwälzung darstellen“ (S. 10).

Die aus zwei Teilen bestehende, zuweilen mäandernde, Einleitung diskutiert zunächst neben der jüdischen Geschichte und Börsengeschichte auch Aspekte der Globalisierungsforschung, der Industrialisierung, des Kapitalismus und der Spekulation. Ein zweiter Teil wendet sich dann noch einmal dem Forschungsstand zur jüdischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert und einer ausführlichen Herleitung des gewählten theoretischen Ansatzes – dem „Interactive Model of Ethnic Business Development“ – zu. Insgesamt umfasst die Einleitung damit etwa ein Fünftel der Arbeit.

Hieran schließen sich drei weitere Abschnitte an. Zunächst wird „[d]er Getreidehandel im Wandel“ vorgestellt. (S. 61–143) In einzelnen Unterkapiteln thematisiert Wessel die Bedeutung von Juden im Getreidehandel zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert allgemein, wobei sich aus ihrer Sicht nicht alles von ihr breit ausgeführte Material als brauchbar erweist. Es folgt ein in der Antike beginnendes, fast vollständig aus der vorhandenen Forschungsliteratur schöpfendes, Kapitel zu verschiedenen Formen staatlicher Getreidehandelspolitik und den Auswirkungen von „Industrialisierung, Globalisierung und Kapitalismus“ auf den Zerealienhandel. Des Weiteren werden die Gründe für den Aufstieg Berlins zum führenden Getreidehandelsplatz in Deutschland beschrieben. Schließlich folgt eine Einführung in die Geschichte der Berliner Börse unter verstärkter Berücksichtigung der Produktenbörse sowie der verschiedenen Handelsformen mit Getreide: Orts-, Import- und Exportgeschäft. Das Kapitel beschließen Ausführungen zum Terminhandel.

Der nächste Abschnitt (S. 144–210) widmet sich dann den Berliner Getreidehändlern jüdischen Glaubens. Für drei Stichjahre (1870, 1890, 1910) wurden 1501 Zerealienhändler ermittelt, sodann in zwei Verfahrensschritten die langfristig Tätigen 49 Unternehmen herausgefiltert. Auf deren 42 jüdische Firmen konzentriert sich die sozialhistorische Analyse in der Folge. Ein großer Teil kam ursprünglich aus den Getreideanbauregionen des preußischen Osten, nahm seine Tätigkeit an der Börse in den 1860er-Jahren auf und verdrängte dabei offenbar Händler christlicher Konfession. Jüdische Getreidegroßhändler erlebten, gemessen an ihren Wohnadressen, einen bedeutenden sozialen Aufstieg im Kaiserreich bis hinein ins hauptstädtische Großbürgertum, mit dem sie sich verflochten. Anhand von Steuerunterlagen lassen sich Jahreseinkommen zwischen 16.800 und 96.000 Mark erschließen (S. 168). Die Handelsnetzwerke umfassten die Getreideanbauregionen der Welt und waren zugleich in Berlin engstens verknüpft. Das politische Engagement der zumeist liberal eingestellten Getreidehändler konzentrierte sich mehr auf Lobbyarbeit als auf aktive Politik im Reichstag. Lokalpolitik, Vereinsmitgliedschaften und soziales Engagement gehörten schließlich ebenfalls zum Betätigungsfeld.

Das abschließende vierte Kapitel wendet sich der Diskussion des Getreidehandels im Kaiserreich zu. (S. 211–265) Es präsentiert zunächst die Argumente der konservativen und verstärkt antisemitisch argumentierenden Gegner der Spekulation. Daran schließt sich die Beschreibung zweier Skandale in den 1890er-Jahren an, bei denen Handelsfirmen sich bemühten, Getreidepreise zu manipulieren. Es folgt ein knapper Überblick über die Börsen-Enquete des Reichstags und das daran anschließende Börsengesetz 1896 mit seinem zeitweiligen Verbot des Terminhandels. Während die Unterstützer eines Verbots im Bund der Landwirte gut organisiert waren, blieb ein Zusammenschluss der Getreidehändler ohne politischen Einfluss. Nach dem Verbot von Termingeschäften ging Berlin nicht nur seine weltweit führende Stellung im Roggenterminmarkt verloren, sondern die Getreidehändler zogen sich auch in ein privates Gebäude zurück, um dort weiter mit Terminkontrakten ähnlichen Geschäftsinstrumenten handeln zu können. Schließlich fand sich ein Kompromiss zwischen Spekulanten und Regierung, bei dem der Terminhandel zwar weiterhin verboten blieb, aber zu einem gewissen Grade durch Lieferungsgeschäfte ersetzt wurde.

Mehrere Dinge scheinen an der Arbeit problematisch: So wird zwar im Hinblick auf das Kernargument der Aufstieg der 49 jüdischen Getreidehändler in den 1860er-Jahren quantitativ präzise nachgewiesen. Das Verhältnis zwischen diesen langfristigen Firmen und den mindestens 283 kurzlebigeren Unternehmen beschreibt Wessel jedoch nicht genauer – obwohl diese für das Funktionieren des Marktes auch aus Sicht der Großen essenziell waren. Man gewinnt somit sozialhistorisch doch nur in eine Teilgruppe der Getreidehändler einen Einblick, deren genaue Rolle für den Markt noch dazu unklar bleibt. Auch liegt es nahe, dass der Erfolg der 49 genauer betrachteten Firmen etwas mit den neuen Transportmöglichkeiten und den sich nach der Jahrhundertmitte verändernden Handelsbedingungen für Getreide zu tun hatte. Am Quellematerial untersucht Wessel dies aber nicht. So wird letztlich nicht wirklich erklärt, warum Händler jüdischer Konfession sich als erfolgreicher erwiesen als solche christlicher. Vielmehr muss hier die Theorie die Lehrstelle füllen, wobei dazu der Getreidehandel zu einer Nische erklärt werden muss, der angeblich ab den 1860er-Jahren sinkende Profite abwarf (S. 138) während doch gleichzeitig die untersuchten jüdischen Kaufleute riesige Vermögen anhäuften. Die grundsätzliche Transformation des Getreidehandels im 19. Jahrhundert hat so zuletzt Martin Bühler insgesamt überzeugender erläutert, freilich ohne dafür ein religiöses Argument zu benötigen.1

Hinter dieser Kritik an der Argumentation steht jedoch ein wesentlich größeres Problem der Arbeit, namentlich ein Mangel an Quellen. Von den jüdischen Kaufleuten selber scheint kaum etwas überliefert zu sein, was zu einer Analyse ihres Aufstiegs in Kapitel 3 hätte beitragen können. Die Relation unterschiedlicher Handelsformen (Effektiv- vs. Terminhandel) und damit die spekulative Aktivität der Händler lässt sich so kaum ermessen. Solches Wissen wäre aber für eine Abschätzung der Gründe des Handelserfolgs sowie die öffentliche Wahrnehmung der Getreidespekulation zentral gewesen. Dort wo wie im vierten Teil der Arbeit Zeitungen manches Material zur öffentlichen Wahrnehmung hätten liefern können, ist die Quellenlektüre offenbar unterblieben. Stattdessen werden oftmals nur in Regierungsakten überlieferte Zeitungsartikel zitiert oder Hans-Jürgen Puhles Arbeit zum Bund der Landwirte aus dem Jahr 1975 angeführt. Dabei hätten gerade hier die antisemitischen Angriffe auf die Getreidehändler schon im Interesse des Untersuchungsthemas am Quellenmaterial präziser ausgeführt werden können und müssen. Außerdem hätte an den Angriffen auf die Großgruppe der Zerealienspekulanten analysiert werden können, inwiefern die großen 49 mit den kleineren „unsolideren“ Spekulanten in einen Topf geworfen wurden. Schließlich: Ohne den sich radikalisierenden Konservatismus gutheißen oder irgendeiner Form relativieren zu wollen, beschleicht einen dennoch zuweilen das Gefühl, dass die jüdischen Getreidespekulanten von Wessel zu sehr als strahlendes Gegenstück irrationaler Antisemiten aufgebaut werden.

Bei aller Kritik macht die Arbeit aber doch deutlich, dass die Geschichte der Börse im 19. Jahrhundert in vielfältigster Form geschrieben werden kann und so in der Lage ist, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Geschichte des Kaiserreichs zu liefern.

Anmerkung:
1 Martin Bühler, Von Netzwerken zu Märkten. Die Entstehung eines globalen Getreidemarktes, Frankfurt am Main 2019.

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