W. Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert

Cover
Titel
Europa im 19. Jahrhundert.


Autor(en)
Steinmetz, Willibald
Reihe
Neue Fischer Weltgeschichte 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: S. Fischer
Anzahl Seiten
762 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit dieser Geschichte Europas im 19. Jahrhundert betritt Willibald Steinmetz kein leeres Feld. Allein in den letzten Jahren erschienen eine ganze Reihe von Darstellungen: der ins Deutsche übersetzte Band von Richard Evans, die im Deutschen geschriebenen Bände von Andreas Fahrmeir, von Johannes Paulmann, von Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier, auf Englisch der Band von Jonathan Sperber und auf Französisch der Abschnitt zum 19. und 20. Jahrhundert in der von Christophe Charle und Daniel Roche herausgegebenen Enzyklopädie zur Geschichte Europas, von älteren bekannten Synthesen ganz zu schweigen.1 Was ist das Besondere an dem Band von Willibald Steinmetz? Warum sollte man sein Werk in diesem breiten Angebot von Synthesen zu Europa im 19. Jahrhundert lesen?

Im Rahmen der Neuen Fischer Weltgeschichte, in der die Synthese von Steinmetz erscheint, erwartet man im ersten Moment eine Weltgeschichte Europas mit globalen Bezügen. Sie fehlt bisher besonders spürbar für das 19. Jahrhundert, als Europas globaler Einfluss besonders stark war und umgekehrt der Einfluss anderer Weltregionen auf Europa ein besonders reizvolles Thema ist. Steinmetz entschied sich jedoch für eine auf Europa beschränkte, wie er sagt „provinzialisierte“ Geschichte, da in der Neuen Fischer Weltgeschichte sieben Bände zu anderen Weltregionen auch über die Präsenz Europas in der übrigen Welt informieren sollen (S. 20). Bisher erschien immerhin der schöne Band von Gudrun Krämer über den Nahen Osten.2 Andere Bände sollen folgen. Man versteht, dass Steinmetz nicht alle anderen sechs Bände abwarten wollte und konnte.

Das Besondere an dem Band von Willibald Steinmetz liegt anderswo. Er bietet aus vier Gründen eine eigene, überzeugende Option für die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert. Er entschied sich erstens anders als andere genannte Synthesen für eine leicht zugängliche Chronologie. Er behandelt nach einem Einstiegskapitel über Napoleon zuerst Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, danach, nach einem Zwischenkapitel über Revolution 1848 und Reaktion, die gleichen Themenfelder für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und endet mit einem Abschlusskapitel über das fin de siècle um 1900. Er geht dementsprechend nicht bis zum Ersten Weltkrieg. Er ist zweitens der einzige deutschsprachige Kultur- und Sozialhistoriker, der sich bisher an ein solches Handbuch zum 19. Jahrhundert setzte. Willibald Steinmetz nimmt diese Synthese ernster als andere.

Wirtschaftsgeschichte und politische Geschichte werden mit der gleichen Breite und auf demselben Niveau behandelt wie die Kultur- und Sozialgeschichte. Steinmetz legt nur öfters einen kulturhistorischen Firnis darüber: Zu der industriellen Revolution etwa werden nicht nur die Ursachen behandelt, sondern auch die Kommentare der damaligen Ökonomen dazu gegeben (S. 146ff.). Drittens schreibt Willibald Steinmetz besonders analytisch, setzt weit seltener auf die Erzählung als etwa Richard Evans. Sein Band besteht aus gründlichen, klugen, nicht selten überraschenden Analysen zu rund einem halben Hundert gut ausgewählter Fragen, wie etwa die Neuartigkeit der napoleonischen Kriege (S. 69ff.), der Vorsprung Englands in der industriellen Revolution (S. 163ff.), die tiefen Fragmentierungen des europäischen Bürgertums vor 1848 (S. 128ff.), die Autonomie der Künstler (S. 230ff., S. 506ff.), die internationale Friedenssicherung vor der Jahrhundertmitte (S. 255ff.), die neue öffentliche parlamentarische Debattenkultur und Konsensfindung als Folge der Revolutionen von 1848 (S. 356ff.), der Wettbewerb in der Wirtschaft (S. 365ff.), die scharfe nichtökonomische soziale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Integrierten und den vielfältigen Ausgrenzungen von Fremden, Juden, Roma, Kranken, Kriminellen und Homosexuellen (S. 428ff.), die Fehden und Spaltungen in Wissenschaft und Kunst (S. 489ff.), die Spannungen zwischen Breite des Wahlrechts und Stärke der Parlamente (S. 590ff.) oder die Aufrüstung und die Debatte über Kriegsszenarien ab 1900 (S. 624ff.). Steinmetz beschränkt sich dabei nicht auf Westeuropa, sondern erfasst den ganzen Kontinent, auch die europäischen Teile Russlands und des Osmanischen Reichs, und stellt Europa als eine Einheit dar. Viertens stellt Steinmetz vor allem ein eigenes Verständnis zu den Signaturen des europäischen 19. Jahrhunderts vor. Richard Evans fasst den Übergang von der Ehre zur Macht in der Politik als wichtigste Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Andere Synthesen stellen die Doppelrevolution aus industrieller Revolution und politischer Revolution ins Zentrum.

Willibald Steinmetz arbeitet dagegen zwei Grundlinien Europas im 19. Jahrhundert heraus, deren Ambivalenz ihm wichtig ist: einerseits die einzigartige, globale europäische Dynamik, die in seinen Augen vor allem durch Wettbewerb und Vergleich ausgelöst wurde, freilich auch zu Gewalt, sozialer Unterdrückung und Umweltzerstörung führte, und andererseits die universalistischen Freiheits- und Emanzipationserwartungen, die ihren Ursprung in Europa hatten, freilich auch einen Kern der europäischen Überlegenheitsvorurteile darstellten und damit ihren Universalismus am Ende wieder aufgaben (S. 44ff., S. 654f.). Konsequenter als andere Synthesen zieht Steinmetz diese beiden Leitlinien durch sein Werk und greift sie regelmäßig auf.

Man kann bedauern, dass eine Weltgeschichte Europas weiterhin ungeschrieben bleibt. Man mag die langen Entwicklungslinien in der chronologischen Aufteilung des Jahrhunderts vermissen. Man kann einwenden, dass manche Themen wie etwa Verfassungen, Parteien, Arbeiter, Einkommens- und Vermögensungleichheit, staatliche Grenzen oder die Einstellung zur Natur weniger beleuchtet werden als in anderen Synthesen. Aber ohne Zweifel ist diese vorzügliche Geschichte Europas im 19. Jahrhunderts konzeptionell besonders durchdacht und konsistent auf die Grundlinien ausgerichtet, transparent, besonders analytisch, intellektuell anregend und bringt dem Leser auch das Denken und die Sprache des 19. Jahrhunderts besonders nahe.

Anmerkungen:
1 Richard Evans, Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815–1914, München 2018; Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010; Johannes Paulmann, Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914, München 2019; Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier. Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850, Stuttgart 2012; Christophe Charle / Daniel Roche (Hrsg.), L’Europe. Encyclopédie historique, Arles 2018; Jonathan Sperber, Europe 1850–1914. Progress, Participation and Apprehension, Abingdon 2008.
2 Gudrun Krämer, Der Vordere Orient und Nordafrika ab 1500 (Neue Fischer Weltgeschichte Bd. 9), Frankfurt am Main 2016.