G. Schneider u.a. (Hrsg.): Gesamtstaat und Provinz

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Titel
Gesamtstaat und Provinz. Regionale Identitäten in einer »zusammengesetzten Monarchie« (17. bis 20. Jahrhundert)


Herausgeber
Schneider, Gabriele; Simon, Thomas
Reihe
Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge. Beihefte 14
Erschienen
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Stamm-Kuhlmann, Historisches Institut, Universität Greifswald

Dieser aus einer Tagung der Preußischen Historischen Kommission 2017 hervorgegangene Band hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema des „Kompositstaats“ von unten anzugehen. Dynastische Gesichtspunkte sind damit vermieden.

Die preußische Monarchie hat sich sowohl aus Territorien mit einer alten eigenstaatlichen Tradition als auch solchen Provinzen zusammengesetzt, die (wie die Rheinprovinz und Westfalen) erst unter preußischer Herrschaft ihre endgültige Form erhielten. Eine Vereinheitlichung der Bestandteile konnte durch verfassungsrechtliche Neuerungen, zum Beispiel die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit, oder durch die integrierende Wirkung des Königshofes herbeigeführt werden. Mit ihrer Germanisierungspolitik im Osten gefährdeten die Regierungen zur Zeit des Kaiserreichs das Ziel der Schaffung gleichberechtigter preußischer Staatsbürger in allen Provinzen zugunsten der Steigerung eines deutsch-polnischen Gegensatzes, wie Monika Wienfort darlegt. Damit hatte sich der deutsche Nationalismus gegenüber einem hypothetischen preußischen Nationalbewusstsein, das deutsch- und polnischsprachige Einwohner gleichermaßen umfasst hätte, durchgesetzt. Unterschiede in der Integrationskultur ergaben sich aus der unterschiedlichen Verfasstheit des Adels in den jeweiligen Provinzen. Frank Göse hebt hervor, dass auch in der Hohenzollernmonarchie das Klientelwesen eine beträchtliche Rolle spielte. Familien konnten sich in einen auf dem Land lebenden und einen in der Stadt dienenden Zweig spalten, was insgesamt der Bindung des Adels an die Zentralgewalt nicht förderlich war. Die Bereitschaft, Dienste bei ausländischen Fürsten zu nehmen, besonders solchen, deren Gebiete in der Nachbarschaft lagen, wie die Welfen oder die Könige von Schweden, dauerte das 18. Jahrhundert hindurch an.

Für das seit dem Westfälischen Frieden brandenburgische Hinterpommern bezweifelt Ludwig Biewer, dass sich dort unterhalb der Gesamtmonarchie ein pommersches Eigenbewusstsein entwickelt habe, denn es war für Pommern prägend, meistens geteilt gewesen zu sein. Die 1824 gegründete „Gesellschaft für pommersche Geschichte und Alterthumskunde“ hat in der Folge sicherlich viel für die Schaffung eines pommerschen Regionalbewusstseins in der inzwischen aus Vor- und Hinterpommern vereinten Provinz getan. Diese Gründung ist freilich im Zusammenhang mit dem Bestreben der Berliner Zentralverwaltung unter Staatskanzler Hardenberg am Anfang der 1820er-Jahre zu sehen, die auch in anderen Provinzen eine Inventarisierung von Denkmalen und die Gründung historischer Museen fördern wollte.

Für Peter Baumgart, der das Thema der Integration preußischer Provinzen schon so oft und grundlegend behandelt hat, stellt die Neugestaltung der Verwaltung Schlesiens durch Friedrich den Großen auch einen „Modernisierungsprozess“ dar. Friedrich begann mit dieser Umgestaltung, noch bevor die Abtretung Schlesiens durch die Krone Böhmen völkerrechtlich besiegelt war, aber er behielt sowohl die Gliederung des Landes in Standesherrschaften und Teilfürstentümer bei als auch die „starke Gutsherrschaft“. Hingegen stülpte er Schlesien sein in den Kernprovinzen erprobtes Steuersystem über.

Auch ständische Vertretungen konnten die Eingliederung in den preußischen Staatsverband überleben und wurden sogar weiterhin in die Steuererhebung eingebunden, wie Enno Eimers am Beispiel der Ostfriesischen Landschaft unter Friedrich dem Großen demonstriert. Die maßgebliche Gestalt bei der Eingliederung der 1815 neu geschaffenen Provinz Westfalen war der langjährige Oberpräsident Ludwig Freiherr Vincke, der durch die Reformpolitik die Zustimmung der Bevölkerung zur preußischen Herrschaft zu gewinnen hoffte. Heide Barmeyer führt aus, dass der Gedanke von Preußens gesamtdeutscher Mission durch die Gewinnung der beiden an Einwohnern, Kapital und Industrie reichen Westprovinzen im Jahr 1815 befeuert wurde. Dagegen war er bereits etabliert, als es 1866 galt, Hannover einzuverleiben. Beim ersten Mal war der gesamtdeutsche Gedanke ein Resultat, beim zweiten Mal ein Vehikel der Gebietsvergrößerung. Aber eine von Berlin versprochene „schonende Behandlung hannoverscher Eigentümlichkeiten“ (S. 121) war auch diesmal das Mittel des Kompromisses mit den neuen Staatsbürgern.

Die vorsichtigen Versuche des reformkonservativen Innenministers Adolf Friedrich Graf von Arnim-Boitzenburg zur Schaffung einer gesamtstaatlichen Repräsentation unter Berücksichtigung der Provinzialstände werden von Wolf Nitschke durch eine 50-seitige Publikation von Arnims Denkschriften aus dessen Nachlass dokumentiert. Das einmalige Talent Friedrich Wilhelms IV., sowohl die Konservativen als auch die Liberalen gegen sich aufzubringen, wird hier wieder deutlich. Zur Klärung der Frage nach der regionalen Identität trägt es allerdings wenig bei. Ingeborg Schnelling-Reinecke lässt uns daran teilhaben, wie der rheinische Landrat und Gutsbesitzer Friedrich von Sybel durch eigene Interessen veranlasst wurde, Einfluss auf das preußische Wassergesetz von 1913 zu nehmen – ein Vergleichspunkt aus einer anderen Region der Monarchie fehlt aber. Erik Lommatzsch zeigt am Beispiel des Zentrumspolitikers Peter Reichensperger, dass Rheinländer sich von Preußen eine, wie Reichensperger sich ausdrückte, „lebendige demokratische Volksentwicklung im Schatten eines starken Königtums“ (S. 242) erhoffen konnten.

Die Kompositstaaten, die sich um die Hauptstädte Madrid und London gebildet hatten und gleichzeitig Kolonialreiche darstellten, wurden teilweise durch eine Homogenisierung der Aristokratie und der Hofgesellschaft zusammengehalten, wie Ronald Asch darstellt. Er entnimmt seine Vergleiche überwiegend aus dem 17. Jahrhundert. Mustert man die damals in der britischen bzw. der spanischen Monarchie nebeneinander existierenden Ethnien: die Iren, Schotten, Engländer, die Kastilier, Aragonier, Katalanen, Portugiesen, Mailänder, Neapolitaner und Niederländer, dann wird deutlich: Im entsprechenden Zeitraum der Hohenzollernmonarchie können sowohl die ethnischen als auch die konfessionellen Gegensätze als geringer eingeschätzt werden.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Jes Fabricius Møller über den Prozess, in dem sich die dänische Monarchie von einem über den Globus zerstreuten „Konglomeratstaat“ zu einem relativ geschlossenen Nationalstaat gewandelt hat. Er zeigt, dass der Begriff der „Personalunion“ erst im 19. Jahrhundert aufkam und von den deutschen Bürgern der Monarchie als Hebel für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins von Dänemark eingesetzt wurde.

Das starke Ausmaß der ethnischen Unterschiede, die den zum Vergleich herangezogenen Kompositstaaten innewohnten, hätte es wünschenswert erscheinen lassen, wenn über den Einfluss der polnischen Teilungen auf die preußische Monarchie ein eigener Beitrag entstanden wäre. Offensichtlich ist freilich auch jetzt schon, dass die Frage der deutschen Einheit im 19. Jahrhundert die Frage einer Nationsbildung auf der Ebene Preußens, wie sie einem Hardenberg noch als Möglichkeit erschienen sein mag, überlagert und verkompliziert hat. Deutschland wurde schneller zur Nation, als der preußische Staat zusammenwuchs. Als das preußische Wassergesetz erarbeitet wurde, war längst die Frage aufgetaucht, ob dieses Thema nicht Gegenstand einer Reichsgesetzgebung sein müsste. Weitere Fortschritte in der Forschung sind auf diesem Gebiet wohl nur noch zu erwarten, wenn in Mikrostudien klar abgegrenzte Forschungsfelder zum Vergleich aufbereitet werden.

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