A. van Wickeren: Wissensräume im Wandel

Cover
Titel
Wissensräume im Wandel. Eine Geschichte der deutsch-französischen Tabakforschung (1780–1870)


Autor(en)
Wickeren, Alexander van
Reihe
Peripherien 6
Erschienen
Köln 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Jacob, Social Sciences, Nord University

Wer Tabakgeschichte erforscht, der weiß, dass man sich diesem Sujet auf verschiedene Arten nähern kann und den Fokus mit Blick auf regionale, nationale sowie globale Kontexte auf ganz unterschiedliche Fragestellungen ausrichten kann. Die Kulturpflanze Tabak bietet sich etwa zur Erforschung im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte (etwa die Schaffung demographischer Strukturen in entsprechenden Anbaugebieten durch die Verschleppung von Menschen und deren Versklavung für die Tabakplantagen in der Karibik), der Kultur- und Konsumgeschichte (Rauchverhalten und Konsumgewohnheiten) oder auch der Mediengeschichte (z.B. Tabakwerbung) an. Die Möglichkeiten sind demnach sehr vielfältig, was Methode und Kontext betrifft. Das wird ebenfalls deutlich, wenn man sich eingehender mit der hervorragenden Arbeit von Alexander van Wickeren befasst, die sich „vor allem mit Blick auf Tabakforscher aus dem Elsass sowie aus Baden und Paris, regionalen, nationalen und globalen Zusammenhängen agrarischer Wissensproduktion im deutsch-französischen Kontext der breiteren ‚Sattelzeit‘“ (S. 7) befasst. Dass die Auseinandersetzung mit der Tabakpflanze und deren Erforschung mit dem Ziel eines erfolgreichen Anbaus in Europa dabei unter anderem von einem wirtschaftlichen Interesse stimuliert wurde, zeigt sich im Zuge „der Handelsungewissheiten im Atlantik“ (S. 9) wie sie durch die Französische Revolution, die Herrschaft Napoleons sowie der damit einhergehenden Blockade von Handelsgütern geschaffen wurden. Der heimische Tabakanbau, wie ihn van Wickeren vor allem für Baden und das Elsass in Augenschein nimmt, zeigt dabei „inwieweit sich die oftmals als linear geschilderte Nationalisierung, Internationalisierung bzw. Globalisierung von Wissenschaft problematisieren lässt und ein komplexeres, weniger teleologisches Narrativ erarbeitet werden kann“ (S. 14f.). Zentral sind dahingehend „Mensch-Natur Beziehungen […], jedoch vor allem aus wissens- und raumgeschichtlicher Perspektive“ wobei van Wickeren sich 1) „Wissensräume aus einer Verbindungsperspektive“, 2) „asymmetrische[n] Verhältnisse[n] in der Erforschung des Tabakanbaus“ und 3) existierenden Wissensbeständen zum Thema Tabak in ihrer „räumliche[n] Fragmentierung und spezifische[n] Geltung der in den [untersuchten] Reformprojekten“ widmet. (S. 18) Die Arbeit bedient in Relation zu diesen zentralen Aspekten neben den bereits angesprochenen wirtschaftshistorischen Fragestellungen auch solche, die nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowie nach den „räumlichen Reichweiten“ von Wissen und dessen Transfer fragen (S. 19–26). Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei vor allem die „Tabakforscher[ ] in der heutigen deutsch-französischen Grenzregion, dem Elsass, das in den Synthesen zur zeitgenössischen Landwirtschaftsreform bisher keine besondere Berücksichtigung erfahren hat und somit vorläufig als wissenschaftliche ‚Peripherie‘ gelten kann.“ (S. 29) Während das Elsass damit ein „wichtiger Ausgangsort“ (ebd.) für van Wickerens Studie ist, wird auch Baden, „bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das wichtigste Tabakanbaugebiet der deutschen Staatenwelt“ und Paris, das Zentrum des französischen Tabakmonopols, mit in die Untersuchung einbezogen (S. 30). Van Wickerens Arbeit stützt sich bei der Analyse dabei auf Quellenbestände, also „archivalisch überlieferte Korrespondenz und administrative Berichte“ (S. 31) der Departementalarchive Bas-Rhins und Haut-Rhins, des französischen Archives nationales sowie des Archives diplomatiqes und des Generallandesarchivs in Karlsruhe.

In Kapitel 2 (S. 35–82) wird zunächst die Entstehung einer Tabakforschung, die als „rheinisch“ kategorisiert werden kann, um das Jahr 1800 herum beschrieben. Dabei wird schnell klar, dass der Anbau eigener Tabak als „Surrogate“ für den Fall dienen sollten, dass die Einfuhr von Tabak aus den Kolonien unmöglich wurde, sei es durch die napoleonische Kontinentalsperre oder Dekolonisierungsprozesse in den entsprechenden Anbaugebieten (S. 36). Van Wickeren zeigt dahingehend auch, dass im Zuge dieser Entwicklungen im Rheinland „weniger nationale Landschaften der Tabakforschung als vielmehr regionale Räume des Austauschs entstanden, deren Aufkommen eng mit den politisch-staatlichen und wirtschaftlichen Transformationen innerhalb der napoleonischen Einflusssphäre verbunden waren“ (S. 38). Bei der Etablierung dieser regionalen Tabakforschung spielte unter anderem die Mobilität von Experten, etwa die von Johann Nepomuk Schwerz, eine Rolle. Schwerz war nach seiner Tätigkeit als Leiter der staatlichen Baumschule in Koblenz 1812 nach Straßburg übergesiedelt, um dort als Inspecteur de la culture du tabac einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der Tabakforschung auszuüben (S. 38–42). Dabei wurden die Netzwerke und die in ihnen sichtbare Mobilität von Experten auch von persönlichen Beziehungen, also von „Patronage und Freundschaft, zwei bis zur Untrennbarkeit verflochtene[n] Modi individueller Beziehungen zwischen Verwaltern und Fachleuten“ (S. 43), bedingt. Die sich etablierenden Netzwerke tauschten sich schließlich auch auf informeller Ebene aus (S. 64–73), so dass sich „im Elsass wie in anderen Rheingebieten […] im frühen 19. Jahrhundert eine von den zentralstaatlichen Maßnahmen des Empire recht unbehelligte Forschungskultur um den Tabak herausbilden [konnte]“ (S. 82).

Diese basierte dahingehend auf einer intensiveren Beschäftigung mit den Naturwissenschaften sowie der Einbindung praktischen Wissens, denen sich van Wickeren im folgenden Kapitel (S. 83–118) eingehender widmet. Es wird gezeigt, dass sich nicht nur der Handel, sondern gleichermaßen Wissensbestände und Begrifflichkeiten globalisierten (S. 92) und dass, gerade im Bereich Tabak, eine zunehmende Diversifizierung von Sorten und Bezeichnungen zu beobachten war. Für die Forscher im Rheinland war die Beschäftigung mit der Kulturpflanze Tabak so wichtig, da es galt „Tabaksorten ausfindig zu machen, die zugleich krankheitsresistent und für die Produktion von Rauch- sowie Schnupftabak geschmacklich geeignet waren.“ (S. 97) Wie die Trias aus „Weltmarkt, Wissenschaft und Revolution“ schließlich die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert bestimmte, wird ebenfalls in den Blick genommen (S. 119–154). Das vierte Kapitel „plädiert [daher] dafür, die Dynamik des regionalen Austauschs von Tabakwissen vor dem Hintergrund der badischen Zigarrenindustrie und der grenzregionalen Handelsnetze von Rohtabak zu verstehen“ (S. 121), wobei Veränderungen im Konsumverhalten der Raucherinnen und Raucher – die Zigarre wurde populärer und „befand sich in den Jahren um 1850 in vielen Teilen Europas und der atlantischen Welt auf dem Höhepunkt ihrer Statussymbolik für das Bürgertum“ (ebd.) – einen Anteil an der Neuausrichtung von Forschungsfragen hatten und damit den Zusammenhang zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Wissenschaftsgeschichte deutlich unterstreichen. Während in Baden, wo seit den 1830er-Jahren die Zigarrenherstellung florierte, vor allem mit Blick auf Deckblätter experimentiert wurde, importierte man Rohtabake aus dem Elsass, aber auch den USA, die im Herstellungsprozess der später exportierten badischen Zigarren verarbeitet wurden. Es ist demnach der „globale Erwartungs- und Erfahrungshorizont“ des 19. Jahrhunderts (S. 132), der die Entwicklung der rheinischen Tabakforschung auf der lokalen Ebene bestimmte, stimuliert von der „in Baden dynamisierte[n] Zigarrenproduktion“ (S. 154).

Kapitel 5 (S. 155–198) widmet sich im Anschluss daran den Zusammenhängen zwischen regionalen Landwirtschaftsgesellschaften und -vereinen auf der einen Seite und entstehenden zentralstaatlichen Verwaltungsbehörden auf der anderen, wie diese sich mit Blick auf nationale Kubanisierungsversuche des französischen Tabakmonopols seit 1850 zeigen. Die kubanische Zigarre war, unter anderem durch erfolgreiche Präsentation auf den Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Statussymbol geworden (S. 156) und die Pariser Tabakverwaltung versuchte deshalb, auch durch Ausnutzung von Wissens- und Forschungsaustausch mit kubanischen sowie atlantischen Experten (S. 186–198), den „Aufbau einer Produktion von Luxuszigarren in Frankreich“ (S. 159) zu forcieren. Neben der Schaffung neuer Produktionsstätten in Städten wie Bordeaux, Marseilles, Toulouse oder Straßburg (S. 166) folgten „Empfehlungen und verbindlichen Verordnungen von landwirtschaftlichem Wissen, mit dem die Tabakregionen Frankreichs an die Erfordernisse einer an der Produktion von Kubazigarren ausgerichteten Tabakwirtschaft herangeführt werden sollten“ (S. 167). Das Konsumverhalten bestimmte schließlich eine nationale Neuausrichtung, die sich durch die Nutzung von Wissen aus regionalen, aber auch globalen Zusammenhängen bzw. Netzwerken auszeichnete (S. 186). Dass in diesen gleichfalls transnationale Experten, wie „Konsuln, Agrarwissenschaftler und Auswanderer“ (S. 201) eine Rolle für den erfolgreichen Wissenstransfer und die damit einhergehenden Aneignungspraktiken spielten, belegt Kapitel 6 der Arbeit (S. 199–233), bevor darauf eingegangen wird, warum Nationalisierungs- und Abschottungsversuche der Pariser Tabakingenieure schlussendlich dafür sorgten, dass eine partizipative Tabakforschung in Frankreich gescheitert war (S. 235–265).

Van Wickerens Untersuchung macht damit insgesamt deutlich: „Das Rheinland und, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, der Oberrhein, waren für die Genese einer modernen Tabakforschung zentral, ohne dass europaüberschreitende Kontexte und Verbindungen ausgeblendet werden dürfen“ (S. 268). Dahingehend spielten sowohl regionale als auch transatlantische Netzwerke und Wissensräume eine entscheidende Rolle, so dass van Wickerens zugespitzter These durchaus zugestimmt werden kann: „Die Atlantisierung der deutsch-französischen Tabakforschung zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin war eingebettet in ältere, sich wandelnde Prozesse der Regionalisierung von Wissensproduktion und einer letztlich wenig intensiven, in Frankreich sogar scheiternden Nationalisierung der Tabakreform“ (S. 269f.). Kritisch kann hier lediglich angemerkt werden, dass eine intensivere Betrachtung der transatlantischen Wechselwirkungen, die im vorliegenden Buch zwar nicht ausgelassen, aber doch mit Blick auf den Gesamtumfang etwas kurz gerät (S. 186–198), van Wickerens These noch stärker untermauert hätte. Darüber hinaus fällt eine Häufung von Flüchtigkeitsfehlern im letzten Drittel des Buches auf (S. 204, 215, 219, 225, 226, 228, 231, 233, 251, 264), allerdings sind diese beiden Punkte zu verzeihen. Besonders, da van Wickerens Studie in hervorragender Weise zeigt, wie eine lokalhistorische Analyse in einen transnationalen Zusammenhang eingebettet werden kann und damit nicht nur ein Desideratum der transregionalen Geschichte mit Blick auf die rheinische Tabakforschung des 19. Jahrhunderts erfüllt, sondern gleichfalls ein exzellentes Beispiel einer globalhistorischen Landesgeschichte liefert.

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