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Titel
Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren


Autor(en)
Birke, Roman
Reihe
Schriftenreihe Menschenrechte im 20. Jahrhundert 5
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Heinemann, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

In ihrem Bestseller „The Population Bomb“ aus dem Jahr 1968 entwarfen die Biologen Paul R. Ehrlich und Irene Ehrlich das Szenario eines ungebremsten Bevölkerungswachstums, welches Demokratie, Wohlfahrt und Sicherheit vor allem der westlichen Welt bedrohe. Neu war weder die Krisendiagnose an sich noch der Aufruf zur Reduktion der globalen Bevölkerung, wohl aber die Forderung der Ehrlichs, dass die USA ihre Nahrungsmittelhilfen für Entwicklungsländer an deren Bereitschaft zur drastischen Bevölkerungsreduktion koppeln sollten. Dem Aufruf zum Einsatz von „Druck, Erpressung und Zwang“ zur Verhinderung der befürchteten globalen Bevölkerungskatastrophe stand, so zeigt uns Roman Birke in seiner luziden Studie, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Versuch einer „menschenrechtlichen Begründung der Geburtenkontrolle“ (S. 9) entgegen. So erklärten 1968 die Vereinten Nationen auf ihrer Menschenrechtskonferenz in Teheran erstmals Familienplanung zu einem Menschenrecht: Eltern hätten das Recht, frei über die Anzahl und die Altersabstände ihrer Kinder zu entscheiden. Knapp 30 Jahre und zahllose Konflikte später hielt die UN Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo erstmals fest, dass auch das Recht auf reproduktive Gesundheit als Menschenrecht anzusehen sei, was wiederum Zugang zu Verhütungsmitteln, Familienplanungsinformationen und adäquater Gesundheitsversorgung beinhalte. Bereits auf den ersten Blick erschließt sich, dass die Bestrebungen zur Einhegung des globalen Bevölkerungswachstums und das Menschenrecht auf reproduktives Entscheiden und reproduktive Gesundheit in einem Spannungsverhältnis standen und weiterhin stehen: Wo endet das Entscheidungsrecht der/des Einzelnen über seine/ihre Familiengröße, ab wann überwiegen die Interessen von Gesellschaften, Nationen und allgemein Kollektiven an der Reduktion von Populationen durch Förderung kleiner Familien?

Dieses Spannungsverhältnis untersucht Roman Birke, der bereits gemeinsam mit Carola Sachse einen inspirierenden Sammelband über „Menschenrechte und Geschlecht“ vorgelegt hat, in seiner Dissertation.1 Seine Ausgangsüberlegung dabei ist, dass seit Gründung der UNO die Forderung nach Geburtenkontrolle zur Reduktion des globalen Bevölkerungswachstums mit der Anerkennung von reproduktiven Rechten als Menschenrecht diskursiv verschränkt wurde – was immer wieder zu Konflikten führte. Demzufolge ist es auch keine simple, lineare Geschichte, die Birke hier für den Zeitraum der 1940er- bis 1990er-Jahre auffächert und für die er die Fallbeispiele USA, Indien, Jugoslawien und Irland näher untersucht. Im Gegenteil, sein diskursanalytischer Zugriff legt Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Akteur:innen, von der UN und ihrem Bevölkerungsprogramm „United Nations Funds for Population Activities“ (UNFPA) über feministische Netzwerke bis hin zu international agierenden NGOs im Feld der Geburtenkontrollpolitik frei. Die jeweils 1952 gegründeten NGOs Population Council (PC) und International Planned Parenthood Federation (IPPF) sind die unerklärten Hauptprotagonisten der Studie. Stellte der PC, welcher primär von der US-amerikanischen Rockefeller-Stiftung finanziert wurde, den Versuch einer national basierten Organisation dar, Verhütungsmittel und -informationen insbesondere in die Länder des globalen Südens zu exportieren, stand seinen Initiativen mit dem IPPF ein von Beginn an international agierendes Netzwerk nationaler Geburtenkontrollorganisationen gegenüber. Dagegen erschien die UN nach erfolgreicher Verklammerung von Geburtenkontrolle und Menschenrechtsdiskurs in den 1960er-Jahren in den Folgejahrzehnten kaum noch als Impulsgeberin. Vielmehr erwiesen sich ihre Konferenzen als Schauplatz erbitterter Konflikte zwischen den unterschiedlichen Fraktionen.

Birkes Kernerkenntnis ist aufschlussreich: Es waren weder Menschenrechtsorganisationen noch Frauenbewegungen, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Familienplanung als Menschenrecht durchsetzten. Die entscheidende Vorarbeit leisteten Demographen und Entwicklungspolitiker der 1940er- und 1950er-Jahre, denen das Menschenrechtsargument nur als Mittel zum Zweck der Einhegung des globalen Bevölkerungswachstums diente (S. 277). Dabei identifiziert Birke insgesamt vier Entwicklungsphasen des Diskurses um Geburtenkontrolle als Menschenrecht: Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Mitte der 1960er-Jahre hätte der Bezug auf Menschenrechte den Verfechtern der Geburtenkontrolle erlaubt, sich mit ihrem Anliegen in eine „liberale Nachkriegsordnung“ einzuschreiben. Warum genau diese Ordnung inmitten des Kalten Krieges, boomender Bevölkerungskontrollprogramme und weitgehender Kontinuität eugenischer Argumentationsmuster „liberal“ war, erklärt er hingegen nicht. Die zweite Phase, von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er-Jahre, sieht Birke hingegen als Zeit zwischen Durchbruch (Anerkennung von Geburtenkontrolle als Menschenrecht durch die UN auf der Menschenrechtskonferenz von Teheran 1968) und Krise (Widerspruch zwischen individuellen Entscheidungsrechten und Ansprüchen globaler Planung). Wesentlich ist hier seine Erkenntnis, dass innerhalb der UN nicht Vertreter:innen westlicher Nationen mit Repräsentant:innen des globalen Südens stritten – letztere begrüßten Familienplanung mehrheitlich als Element gesellschaftlicher Modernisierung. Vielmehr kritisierten Vertrer:innen der Familienplanungsinstitutionen selbst, ein Menschenrecht auf reproduktives Entscheiden unterlaufe die globale Planung von Kampagnen zur Bevölkerungsreduktion. In Phase drei ab Mitte der 1970er-Jahre überdachten Vertreter:innen der Geburtenkontrollbewegung die propagierten Methoden zur Reduktion der globalen Bevölkerung – und rückten statt der Verteilung von Kontrazeptiva und der Propagierung von Sterilisationsprogrammen auch die Veränderung gesellschaftlicher Werte in den Vordergrund: kleinere Familien sollten als wünschenswert erscheinen. Interessant ist hier, dass Birke nun neben den nationalen Frauenbewegungen und deren transnationalen Netzwerken eine neue Akteursgruppe beschreibt. Vor allem Völkerrechtler:innen hätten Frauenrechte und Menschenrechte verschränkt – immer vor dem Hintergrund der angestrebten Begrenzung des globalen Bevölkerungswachstums. Die vierte Phase schließlich war in den 1980er- und 1990er-Jahren gekennzeichnet von Professionalisierung und zugleich Polarisierung der Debatten, wobei Birke erstaunliche Allianzen aufzeigt. So lehnten sowohl radikale Feministinnen als auch religiöse Konservative internationale Familienplanungsprogramme aus unterschiedlichen Gründen als invasiv ab, wohingegen Völkerrechtler:innen und Geburtenkontroll-Aktivist:innen verstärkt auf supranationale Institutionen und Rechteerklärungen wie die Antidiskriminierungsresolution CEDAW („Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women“, 1979) verwiesen, um nationalstaatliche Politiken für Familien und Frauen zu verändern.

Das alles ist in der Gesamtschau sehr überzeugend, wenngleich die Darstellung bisweilen trocken ausfällt – was der Tatsache geschuldet sein mag, dass Birke sich im Wesentlichen auf die Konferenzprotokolle, Memoranden und Druckschriften von PC, IPPF und UN stützt und weniger auf die Auswertung von Nachlässen oder Korrespondenzen der verantwortlichen Akteur:innen. Auch stellen sich einige weiterführende Fragen, was aber vor allem auf die hohe Anschlussfähigkeit von Birkes Untersuchung verweist: So fragt sich beispielsweise, warum der prägende Einfluss der USA in der Debatte um Geburtenkontrolle als Menschenrecht zumindest bis Mitte der 1960er-Jahre nicht thematisiert wird. Nicht nur war der PC eine amerikanische Gründung, auch der IPPF wäre ohne die Geburtenkontrollaktivistin Margaret Sanger nicht zustande gekommen. Die Gründerin der Planned Parenthood Federation of America (PPFA) war auch erste Präsidentin der IPPF (zusammen mit der indischen Politikerin Lady Rama Rau) und steuerte diese durch die ersten Gründungsjahre bis 1959. Auch bleiben die vielen personellen und inhaltlichen Verflechtungen zwischen PPFA (keinesfalls nur die „US-amerikanische Zweigstelle des IPPF“, S. 139) und PC unterbelichtet. So war beispielsweise eine der zentralen Figuren auf den frühen Konferenzen des PC, der Biologe William Vogt, zugleich National Director der PPFA. Auch die PPFA führte in den 1960er-Jahren intensive Debatten um qualitative Bevölkerungssteuerung in den USA, die wiederum auf den globalen Diskurs rückwirkten.2 Andere für die Debatte um globale Überbevölkerung zentrale Akteur:innen wie das Population Reference Bureau oder auch die Grass-Root-Organisation Zero Population Growth werden allenfalls knapp erwähnt. Auch fehlt angesichts von rassistischen und eugenischen Tendenzen innerhalb der Geburtenkontrollbewegung gelegentlich die nötige Präzision: Während Margaret Sanger lediglich als „Eugenikerin“ (S. 21) bezeichnet wird (womit ihr gesamtes feministisches Engagement unbeachtet bleibt)3, rutscht der Ultrarassist Theodore Lothrop Stoddard, der bereits 1920 vor „The Rising Tide of Color against White World Supremacy“ warnte und sich einer breiten Anhängerschaft unter deutschen Nationalsozialisten erfreute, lediglich als „Harvard-Historiker“ durch (S. 47). Ebenso wäre es interessant, mehr über die materiellen Grundlagen der Debatten um Familienplanung und Geburtenkontrolle – und damit auch des Menschenrechtsdiskurses – zu erfahren: Wann und für wen war Wissen über Geburtenkontrolle oder Verhütungsmittel überhaupt verfügbar? Wie determinierten die Markteinführung der Pille ab 1960 und der Intrauterinspirale in den 1970ern die Diskussionen über Geburtenkontrolle? Wann und wem gegenüber wurden welche invasiven Methoden oder langfristigen Verhütungsmittel angewandt und mit welchen Nebeneffekten? Ein stärkerer Fokus auf diese materielle Grundlage der Debatten um Geburtenkontrolle und Menschenrechte könnte deren Entwicklungen, ihren rassistischen Bias und auch die Agency der Betroffenen besser freilegen. Damit müssen dann auch die Frauenbewegungen in den Ländern des globalen Nordens wie Südens mehr in den Blick treten wie auch die Forderungen von Minderheiten nach reproduktiven Rechten. Ein zentrales Desiderat formuliert der Autor bereits selbst, nämlich die Einbeziehung der Erfahrungswelten der Menschen, Familien, Paare und Individuen, die UN, Einzelstaaten, PC und IPPF mit ihren Initiativen zu erreichen suchten (S. 290). Doch dies wäre, hier ist Birke uneingeschränkt zuzustimmen, Stoff für zahlreiche weitere Forschungsarbeiten.

Kurz: Birke legt eine wichtige Studie vor und ergänzt die boomende Forschung zum Komplex der Menschenrechte der letzten Jahrzehnte um einen zentralen Aspekt, die konfliktreiche Verhandlung individueller reproduktiver Entscheidungsrechte und kollektiver Verantwortung. Dass in der Diskussion um Geburtenkontrolle als Menschenrecht sicher geglaubte Bruchlinien zwischen Frauenbewegung und Bevölkerungsplanern, Ländern des Westens und des globalen Südens, demokratischen und kommunistischen Nationen bei näherem Hinsehen weniger deutlich ausfallen, ist eine der überraschendsten Erkenntnisse der Untersuchung, die weitere Forschungen inspirieren wird.

Anmerkungen:
1 Roman Birke / Carola Sachse (Hrsg.), Menschenrechte und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Historische Studien (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, hrsg. von Carola Sachse und Edgar Wolfrum, 12), Göttingen 2018.
2 Zur PPFA vgl. Claudia Roesch, Children by Choice. Family Decisions and Value Change in the Campaigns of the American Planned Parenthood Federation (1942–1973), in: Ann-Kathrin Gebries / Theresia Theuke / Isabel Heinemann (Hrsg.), Children by Choice? Changing Values, Reproduction, and Family Planning in the 20thCentury, Berlin 2018, S. 58–76.
3 Zu Sanger als Feministin (und Eugenikerin) vgl. die noch immer valide Arbeit von Ellen Chesler, Woman of Valor. Margaret Sanger and the Birth Control Movement in America, New York 2007 (Erstausgabe 1992), und meinen Beitrag: Isabel Heinemann, Margaret Sanger und die Geburt der Geburtenkontrolle, in: Jörg Später / Thomas Zimmerer (Hrsg.), Lebensläufe im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 77–96.

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