G.B. Zimmermann: Bürgerliche Geschichtswelten im Nationalsozialismus

Cover
Titel
Bürgerliche Geschichtswelten im Nationalsozialismus. Der Verein für Hamburgische Geschichte zwischen Beharrung und Selbstmobilisierung


Autor(en)
Zimmermann, Gunnar B.
Reihe
Beiträge zur Geschichte Hamburgs 67
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
704 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulf Morgenstern, Arbeitsbereich Globalgeschichte, Universität Hamburg

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Herausbildung selbstkritischen Problembewusstseins, dass die Universitätshistoriker den Paukenschlag einer Historikertagssektion des Jahres 1998 benötigten, um sich nach vereinzelten Studien breit und intensiv mit der Geschichte des eigenen Fachs im Dritten Reich zu beschäftigen und es macht Staunen, dass diese thematische Schwerpunktsetzung bei den Geschichtsvereinen noch einmal zwei Jahrzehnte später erfolgte. Ganz stimmt die Rechnung nicht, denn Gunnar B. Zimmermann hat die Arbeit an seiner monumentalen, 1.300 Seiten umfassenden Dissertation über den Verein für Hamburgische Geschichte (VHG) in den Jahren 1912 bis 1974 bereits 2008 begonnen.1 Der Abschluss des Verfahrens und die hier interessierende Ausklammerung einer 704 Seiten langen Monografie über den VHG im Nationalsozialismus haben noch einmal bis 2019 auf das bisher gründlichste Buch über einen der vielen deutschen Geschichtsvereine und seine „Beharrung und Selbstmobilisierung“ in den Jahren 1933 bis 1945 auf sich warten lassen. Nach der Lektüre darf man sagen: Das Warten hat sich gelohnt. Denn Zimmermann hat nicht nur einzelne Kapitel zusammengebunden, sondern ein in sich rundes Buch komponiert.

In einer problembewussten Einleitung steht das für einen Geschichtsverein und seine Geschichte auf mehreren Ebenen wichtige Reflektieren über „Gedächtnis und Erinnerung“ im Fokus. Zimmermann knüpft mit dem Blick auf die Mitgliederstrukturen an Ergebnisse der Generationenforschung an und widmet sich den Hamburgischen „Akteuren der Geschichtskultur“ (Kapitel 3, S. 81–137). Hier wird deutlich, wie eng die Verbindung von VHG und Stadt- bzw. Staatsarchiv und später auch des Kolonialinstituts und der Universität war. Es ist Stadt- und Bürgertumsgeschichte par excellence, wenn Zimmermann hier seine vorherigen Betrachtungen über das „Hamburgische und hansestädtische Bürgertum als ‚Sonderfall‘“ (S. 71–77) mit den den Verein tragenden Kreisen zusammenfließen lässt.

Derart mit Vorwissen ausgestattet, startet für den Leser im vierten von neun Kapiteln die eigentliche Ereignisgeschichte. Zimmermann setzt nach der Inflation mit der wirtschaftlichen Konsolidierung Deutschlands ein, die auch eine Konsolidierung des seit 1839 bestehenden VHG bedeutete (S. 139). Personell zeichnete sich der Verein durch Kontinuitäten aus, die in dem den großstädtischen Netzwerken hinter dem Verein gewidmeten Kapitel 3 detailliert untersucht werden, die man aber auch am Beispiel eines Funktionärs mit Händen greifen kann: dem von 1912 bis 1937, also in drei Systemen amtierenden Vorsitzenden Hans Nirrnheim (1865–1945). Die Lebensdaten dieses den Zugriff von NS-Institutionen so lange wie möglich unterlaufenden hauptberuflichen Archivars verraten, dass sein Verzicht auf eine Kandidatur bei der Wahl des Vorsitzenden 1937 nicht politisch motiviert war, sondern nur den altersbedingten Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1933 nachholte. Es gehört zu den angenehm zu lesenden Passagen des Buches, Nirrnheim in den Jahren 1933 bis 1937 bürgerliche Tugenden und menschlichen Anstand wahren zu sehen (Kapitel 5, S. 189–302). Wer sich in der Wissenschaftsgeschichte auskennt, weiß, wie selten meist den Generationen vor 1900 entstammende Figuren waren, die sich vorbehaltlos vor jüdischen Kollegen (hier Mitglieder) stellten. Der VHG kann mit Stolz auf einen Vorsitzenden zurückschauen, der an dem Bankier Max M. Warburg als Mitglied festhielt und bis zu den Proskriptionslisten seines Nachfolgers im Jahr 1938 noch 28 jüdische Mitglieder im Verein hielt. Diese Loyalität legte Nirrnheim auch an den Tag, als sein Nachfolger Kurt Detlev Möller, der – gerade 34-jährig – als Vorsitzender einen radikalen Kurswechsel vollzogen hatte, bei Kriegsbeginn eingezogen wurde. Nirrnheim übernahm erneut den Vorsitz und leitete die Geschicke des Vereins bis zu seinem Tod im Juli 1945. Zuvor hatte er erleben müssen, wie die Bibliothek am 2. Und 3. August 1943 Opfer der „Aktion Gomorrha“ wurde.

Möllers Wirken kommt zuvor nicht zu kurz: Sowohl die inhaltliche Neugewichtung (Volksgemeinschaft, „Bücherkunde“ und Sachsen- und Germanenkult), die Expansion durch die Eingliederung des Altonaer Geschichts- und Heimatvereins in Folge des Groß-Hamburg-Gesetzes von 1937 sowie ein eigenes Kapitel über das Jubiläumsjahr 1939 vermitteln in puncto Linientreue ein eindeutiges Bild jenes Mannes, der trotz seines – um eine gegenwärtig viel bemühte juristische Formulierung zu verwenden – erheblichen Vorschubleistens für den Nationalsozialismus 1947 entnazifiziert wurde und im Kreise anderer Vorstände und Mitglieder nahezu unbestritten erneut bzw. noch immer den Vorsitz innehatte.

Im Kölner Klüngel heißen diese Schutz- und Trutzbündnisse „Man kennt sich und man hilft sich“ und ganz ähnlich muss man sich nach Zimmermanns Schilderungen die hanseatische Version des Beschweigens, Vertuschens und Tricksens vorstellen. Dabei wurden langanhaltende Narrative geschaffen, die außerhalb des Leserkreises der Publikationen der Forschungsstelle für Zeitgeschichte bisweilen bis heute durch die Köpfe irren. Möller selbst strickte an der Legende des die Stadt am Kriegsende schonenden Wirkens durch den Gauleiter Kaufmann, die sich nebst anderen zweifelhaften Moritaten zu der allzu gern geglaubten Geschichte eines gemäßigten Nationalsozialismus in Hamburg verdichtete. Es ist Zimmermanns Verdienst, den Konstruktionscharakter der „bürgerlichen Geschichtswelten“ minutiös aus den Quellen herausgearbeitet zu haben, ohne seinerseits in einen aufklärerischen Anklagemodus zu verfallen.

Der Band ist sparsam bebildert und über ein Personenregister gut zu erschließen. Der Titel greift nicht zu weit, denn einen hoffentlich breiten Leserkreis erwartet ein am Hamburger Beispiel exemplifiziertes Stück deutscher Zeitgeschichte aus der Perspektive von Wissenschafts- und Bürgertumsgeschichte.

Anmerkung:
1 Online einsehbar unter https://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2018/9224/pdf/Dissertation.pdf (14.08.2020).

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