Mindestens 800.000 Zivilist/innen wurden zwischen 1914 und 1920 in Internierungslagern auf europäischem Boden festgehalten. Auf zusätzliche 50.000 bis 100.000 lässt sich ihre Zahl im Rest der Welt schätzen. Unter diesen Zivilgefangenen, die ein kriegsführendes Land auf eigenem Gebiet oder in besetzten Territorien festnahm, waren als Feindstaatenangehörige definierte Männer im wehrfähigen Alter, aber auch anderer Altersgruppen, sowie Frauen und Kinder. Haftdauer und Haftbedingungen in den verschiedenen Lagern variierten stark. Durch Deportationen oder um einen Austausch zu erwirken, wurden Gefangene teils über weite Strecken, in einigen Fällen sogar über Kontinente, transportiert. Sowohl in ihrem qualitativen Ausmaß als auch in ihrer globalen Dimension war die Zivilinternierung während des Ersten Weltkriegs präzedenzlos.
Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren verstärkt mit dem Thema und hat die Zivilinternierung neben der Kriegsgefangenschaft inzwischen als eigenständiges Forschungsfeld in der Geschichte des Ersten Weltkriegs etabliert. Zu den produktivsten Historiker/innen auf diesem Gebiet zählt Matthew Stibbe, der mit anderen dazu beiträgt, dass sich in letzter Zeit der analytische Blick von einem nationalstaatlich-orientierten Ansatz hin zu einer neuen Globalgeschichte der Internierung weitet.1 In diesen Trend lässt sich auch sein hier zu besprechendes Buch einordnen, das methodisch Neuland betritt, indem es sich zum Ziel setzt, „comparative and entangled histories“ (S. 293) zu verbinden, um das Phänomen der Zivilinternierung im Kontext größerer Problemkomplexe zu untersuchen. So erforscht Stibbe „what by 1914 had become important transnational and international questions of the rights, obligations and boundaries of citizenship; the legal status of foreigners and non-citizens; state surveillance of ‘suspect’ groups and individuals; the formation of new subjectivities and fresh ways of ‘belonging’ or ‘not belonging’ and the desirability or otherwise of stricter forms of passport and migration controls within a newly emerging, twentieth-century world order” (S. 4). Der Zeitpunkt für eine solche systematisierende Studie ist günstig, denn vorangegangene Arbeiten liefern ihr eine breite empirische Basis.2 Anders als diese Vorläufer analysiert Stibbe weniger die Bedingungen in den Lagern und die Perspektiven der Betroffenen, deren Schicksal, wie er richtig feststellt, bereits umfassend als Erfahrungsgeschichte aufgearbeitet ist. Sein Forschungsinteresse richtet sich vielmehr auf staatliche Entscheidungsträger auf Seiten der kriegsführenden wie neutralen Mächte sowie auf nicht-staatliche Akteur/innen und (internationale) humanitäre Organisationen.
Bereits im zweiten Kapitel „First World War Internment Across the Globe“, das direkt auf die Einleitung folgt, wird die beachtliche geographische Spannbreite der Arbeit deutlich. Von Frankreich, das als erstes Land eine Politik der massenhaften Zivilinternierung sowohl in der Metropole als auch in den Kolonien umsetzte, richtet sich der Panoramablick auf das Britische Empire, Deutschland, die USA und Russland sowie auf von der Forschung bisher kaum beachtete Länder wie Österreich-Ungarn, Bulgarien, Rumänien, das Osmanische Reich, Brasilien und Portugal. Was die einzelnen Fallstudien verbindet, ist eine kritische Einordnung des Konzepts der Staatsangehörigkeit, auf dem die Feindmarkierung und damit auch die Entscheidung, wer zu internieren war, vordergründig basierte. Wie Stibbe überzeugend zeigt, war Staatsangehörigkeit aber nie eine stabile und eindeutige Grundlage staatlichen Handelns, sondern wurde in der Identifizierung von „Feinden“ stets zusammengedacht mit anderen Differenzkriterien und Methoden des „Othering“ basierend auf „race“, „ethnicity“, „gender“ oder „class“, die wiederum in ihrer Wirkungskraft im lokalen, regionalen, nationalen und imperialen Raum unterschiedlich ausgeprägt sein konnten.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit „Internment and War Governance in the First World War“ und macht deutlich, dass es kein „single, globally applicable model for internment“ gab, dass aber die verschiedenen nationalstaatlichen Praktiken der Internierung „would overlap with, and be dependent upon, each other, and that they would have a strong European bias“ (S. 77). Stibbe beobachtet in allen untersuchten Staaten, dass das Regieren im Ausnahmezustand des Krieges stark von Exekutivmaßnahmen geprägt war. Dies ermöglichte nicht nur die Internierung von „Feindstaatenangehörigen“, sondern auch ein verschärftes Vorgehen gegen „unliebsame“ inländische Personengruppen. „[C]ontrol over the urban poor and ‚lower orders‘ were important side goals of the British state, as they were in France [...]“ (S. 96). Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn nutzte das Instrument der Zivilinternierung, um Nationalbewegungen zu bekämpfen (S. 105). Aus der Hafenstadt Trieste deportierten die Habsburger Behörden 1915/16 auch Personen, die als „Prostituierte“, „Arbeitsscheue“ oder „Gewohnheitsverbrecher“ aktenkundig wurden (S. 108). Stibbe gibt hier wichtige Impulse für eine transnationale Geschichte sozialrassistischer Verfolgung. Seine knappe Diskussion des Genozids an den Armenier/innen als extremster Form von Gewalt gegen „Feinde im Inneren“ (S. 112–116) hätte jedoch größere Beachtung und eine stringentere Einbettung in die Argumentation verdient – gerade weil der Fall „stands out as something unique and without parallel in any other part of the world during this period“ (S. 112).
Im vierten Kapitel „Imagining Internment: International Law, Social Order and National Community“ wird das gewaltsame staatliche Vorgehen gegen „äußere“ und „innere Feinde“ während des Krieges im Rahmen verschiedener, sich teils transnational herausbildender Ordnungsvorstellungen weiter analysiert. Vor allem lokale Akteure in Polizei und Fürsorgeinstitutionen, so zeigt Stibbe, verstanden Zivilinternierung als Mittel zur sozialen Kontrolle von Devianz. Auf den höheren Ebenen von Politik, Militär und Diplomatie dachte man dagegen eher in rechtlichen Kategorien bzw. in Rechtfertigungsstrategien, die die Behandlung von Zivilinternierten in reziproke Beziehung setzten mit dem Vorgehen des Kriegsgegners gegen die eigenen Staatsangehörigen. So ließen sich Repressalien, Bestrafungen oder Geiselnahmen als Reaktion auf feindliche Rechtsbrüche erklären. Schließlich etablierten sich in der breiten Öffentlichkeit Erzählungen von Gemeinschaft und Solidarität um nationale Hilfsorganisationen wie die „Volksspende für deutsche Kriegs- und Zivilgefangene“ (S. 167–169).
Wie diese Versuche, das schwere Schicksal der Zivilinternierten und ihrer Familien zu lindern, auf überstaatlicher Ebene umgesetzt wurden, untersucht das fünfte Kapitel „Internment and International Activism: The Search for More Humane Alternatives“. Individuelle Initiativen werden hier genauso betrachtet wie die Aktivitäten internationaler Hilfsorganisationen, zum Beispiel des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes oder der Quäker, sowie Formen neutraler Internierung auf schweizerischem oder niederländischem Boden. Medizingeschichtlich besonders erhellend sind Stibbes Ausführungen zur Verwissenschaftlichung der Internierungserfahrung und ihrer Folgen als „Stacheldrahtkrankheit“ durch den Schweizer Arzt Adolf Lukas Vischer (S. 214–221).
Das sechste Kapitel „(Not) Ending Internment: The Years 1918–20” reiht sich ein in neuere Studien, die die klassische Periodisierung des Weltkriegs hinterfragen und zeigt, dass auch die Zivilinternierung nicht im November 1918 endete.3 In der letzten Kriegsphase kam es zwar verstärkt zu Repatriierungen – ausgehandelt in bilateralen Abkommen –, doch war dieser Prozess bis Ende 1920 nicht abgeschlossen, als die letzten 2.500 Zivilinternierten aus Britisch-Indien nach Europa zurückkehrten (S. 265). In Osteuropa, wo sich Landesgrenzen am stärksten verschoben und neue Konflikte aufbrachen, verloren Staaten mitunter die Kontrolle über ihre Internierungspolitik (S. 243).
Die Beobachtung, dass das Lager als Instrument repressiver Politik den Weltkrieg überlebte, nimmt Stibbe zum Anlass abschließend längere Entwicklungslinien zu ziehen. Anliegen des Autors ist es, im letzten Kapitel “the implications of First World War internment for understanding the world we live in today” (S. 20) herauszuarbeiten und aktuelle Formen der Zivilinternierung zu reflektieren, die sich zum Beispiel im US-amerikanischen Lager Guantanamo Bay, den chinesischen Lagern zur Internierung der uighurischen Minderheit oder den in Europa bestehenden Flüchtlingslagern manifestieren. Da dabei aber die vielfach komplexeren Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen zu den Lagern der 1930er- und 1940er-Jahre im Allgemeinen und zur Zivilinternierung während des Zweiten Weltkriegs im Besonderen fast vollständig ausgeklammert werden, bleibt ein wichtiges Forschungsdesiderat weiter bestehen.
Insgesamt ist es Stibbe mit seinem lesenswerten Buch gelungen, das reiche empirische Detailwissen zur Zivilinternierung 1914–1920 gekonnt in einer auf umfangreichen Archiv- und Literurrecherchen basierenden Studie zu synthetisieren. Seine Arbeit bereitet den Weg für neue konzeptionelle Herangehensweisen an den Untersuchungsgegenstand und macht diesen anschlussfähiger an andere Forschungsfelder und -diskussionen wie die Geschichte der Sozialdisziplinierung oder Studien zu Governance und Krieg.
Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Mahon Murphy, Colonial Captivity during the First World War. Internment and the Fall of the German Empire, 1914–1919, Cambridge 2018; Stefan Manz / Panikos Panayi / Matthew Stibbe, Internment during the First World War. A Mass Global Phenomenon, London u.a. 2019; Stefan Manz / Panikos Panayi, Enemies in the Empire. Civilian Internment in the British Empire during the First World War, Oxford 2020.
2 Einflussreich für die Erfahrungsgeschichte der Internierung ist bis heute John Davidson Ketchum, Ruhleben. A Prison Camp Society, Toronto 1965. Vgl. auch Gerhard Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia, 1914–1920, St. Lucia 1989.
3 Vgl. Omer Bartov / Eric D. Weitz (Hrsg.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013; Robert Gerwarth, The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917–1923, London 2016.