I. Langelüddecke: Alter Adel – neues Land?

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Titel
Alter Adel – neues Land?. Die Erben der Gutsbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg


Autor(en)
Langelüddecke, Ines
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uta Bretschneider, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

In den Jahren 1945 bis 1948 veränderte die Bodenreform die ländlichen Sozial- und Besitzverhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone grundlegend. Gutsbesitzerfamilien mit mehr als 100 Hektar Land sowie tatsächliche wie vermeintliche Unterstützer des NS-Regimes und Kriegsverbrecher wurden im Zuge der Bodenreform entschädigungslos enteignet. Über 3,2 Millionen Hektar Land und etwa 14.000 Betriebe waren von den Umverteilungen betroffen. Die Bodenreform wurde als „demokratisch“ apostrophiert, als Abschluss der Bauernbefreiung inszeniert und diente neben ideologischen Zielsetzungen unter anderem auch der Hilfe zur Selbsthilfe in der unmittelbaren Nachkriegsnot. Denn unter den mehr als 500.000 Landempfängerinnen und -empfängern fanden sich sowohl landarme Bauernfamilien, vormalige Landarbeiterinnen und -arbeiter, als auch Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs. 210.000 Neubauernstellen mit je fünf bis zehn Hektar Land entstanden. Und obschon die Bodenreformwirtschaften nur längstens von 1945 bis zum Abschluss der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft 1960 bestanden, ist diese Phase dennoch bis heute relevant für die Geschichte der ostdeutschen Dörfer.

Ines Langelüddecke geht in ihrer 2020 veröffentlichten Dissertation einem besonderen Aspekt dieser jüngeren Vergangenheit nach: Sie beleuchtet drei brandenburgische Dörfer, vormalige Gutsdörfer, in die die Nachfahren der einstigen Gutsbesitzerfamilien nach 1990 zurückkehrten.

Mit dem Ende der DDR hofften viele enteignete Familien, dass die Ergebnisse der Bodenreform rückgängig gemacht würden, doch der Einigungsvertrag bestätigte die Enteignungen im Jahr 1990. Dennoch kehrten einige Familien zurück an die Orte ihrer Vorfahren, erwarben neues oder altes Land, bezogen Gutsgebäude oder bauten neu. Für Brandenburg nennt Langelüddecke die Zahl von 30 bis 40 Familien. Exemplarisch greift die Autorin drei Orte und drei Familien heraus, die sie anonymisiert und mit Pseudonymen versieht: im Ort Siebeneichen die Familie von Sierstedt, in Bandenow die Familie von Hohenstein und in Kuritz die Familie von Watenburg. Langelüddecke legt ihren Fokus auf die Rückkehr und die Beziehungen zwischen Adligen und Dorfbevölkerung. Ihr besonderes Interesse gilt dabei den Architekturen sowie den „Narrative[n] über den Raum“ (S. 15), wobei die drei Ortsbeispiele drei unterschiedliche Modi des Umgangs mit lokaler Gutsherrschaftsgeschichte widerspiegeln.

Zentral ist für Ines Langelüddecke die Annahme, „dass sich im Reden über den Raum zwischen Dorf und Gut Beziehungsverhältnisse und Interessen sowie Erwartungen und Erfahrungen niederschlagen“ (S. 15). Dieser Zugang verbindet in innovativer Form Raum- und Erinnerungstheorie. Die der Studie zugrundeliegenden Quellen sind 21 Oral-History-Interviews aus den Jahren 2010/11. Befragt wurden Landwirte, Handwerker, Pfarrer, Bürgermeister, Rentner, Angestellte – insgesamt vierzehn Dorfbewohnerinnen und -bewohner sowie sieben Adlige. Hinzu kommen Überlieferungen in lokalen Archiven zu Bandenow und Kuritz sowie ein umfangreicher Bestand zur Familie Sierstedt (Siebeneichen) im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam.

Im ersten Kapitel skizziert die Autorin das Setting der Rückkehr. In den folgenden fünf Kapiteln widmet sie sich den Räumen der früheren Gutsanlagen: den Gutshäusern (Schlössern), Kirchen, den Friedhöfen, den Feldern und Wäldern sowie den Parks: Wir lernen die drei Orte und ihre Adelsfamilien über diese Sphären des vormaligen Gutsbetriebes kennen. Mit den Konfliktlinien um Parknutzungen und Familienbegräbnisse. Mit den Fehlstellen im Dorf, die durch den Abriss des Gutsgebäudes in Siebeneichen bis heute präsent sind. Mit aktueller landwirtschaftlicher oder anderer unternehmerischer Tätigkeit der zurückgekehrten Adligen. Ein anschließender, dem Schlusskapitel vorgelagerter Abschnitt ist dem „Ungesagten“ und Verschwiegenen gewidmet.

Dorf und Adel erscheinen im Buch als zwei separate „Erzählgemeinschaften“ im Sinne Albrecht Lehmanns.1 Das Erzählen ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein eines gemeinsamen Erfahrungsraums bis 1945, durch 45 Jahre der Abwesenheit und der jeweiligen Sozialisation in Bundesrepublik (Adel) und DDR (Menschen in den Dörfern) sowie durch einen Neubeginn nach der Friedlichen Revolution, der aber keinesfalls einer „Stunde Null“ gleichkam. Alt und Neu – das Begriffspaar, das sich auch im Titel des Buches findet – sind die zentralen Pole, zwischen denen Ines Langelüddecke ihre Erinnerungsgeschichte dreier brandenburgischer Dörfer entfaltet. Die Zitate der Interviewpartnerinnen und -partner lassen die Umbrüche, die Fehlstellen, die Konflikte und Chancen plastisch werden.

„Alter Adel – Neues Land?“ ist ein Buch über Mentalitäten und Heimaten, Wandel und Beharren. Den Räumen der ehemaligen Gutshöfe kommt im Erzählen der Interviewten eine zentrale Rolle zu: Die Erinnerungen lagern sich an sie an und zugleich sind sie selbst Gegenstand des Erinnerns. Ines Langelüddecke ist es gelungen, eine Erinnerungsgeschichte der Bodenreformenteignung und des Wiedereinlebens im Dorf zu verfassen. Ihr Buch ist nicht nur ein Beitrag zur Zeitgeschichte ländlicher Räume Ostdeutschlands, sondern ganz explizit auch eine Studie zur Transformationsphase im dörflichen Setting – einem bis heute wenig erforschten Themenfeld. „Jedes Dorf für sich ist ein Sonderfall der deutsch-deutschen Wiedervereinigungsgeschichte. Auf lokaler Ebene sind sich in diesen Dörfern seit 1990 Ostdeutsche und Westdeutsche begegnet und haben sich in komplexen Aushandlungsprozessen mit der Neuordnung des dörflichen Raumes auseinandergesetzt.“ (S. 27)

Auch wenn die klar gegliederte Mikrostudie keinen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erhebt, so lassen sich viele Befunde doch auf andere Dörfer im Osten Deutschlands übertragen. Die Arbeit bietet dadurch Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungen. Eine Erfahrungsgeschichte der jüngeren Generation der zurückgekehrten Adelsfamilien stellt beispielsweise ein Desiderat dar. Die Interviewten im Band sind zwischen 1922 und 1973 geboren, für den Blick auf das Erzählen zwischen den Generationen wären Gespräche mit jüngeren Familienmitgliedern sicher interessant.

Ein Wermutstropfen ist – der Anonymisierung geschuldet –, dass der Band bis auf drei Lageskizzen gänzlich ohne Bildmaterial auskommen muss, was gerade in den architekturbezogenen Kapiteln äußerst bedauerlich ist. Insgesamt ist das Buch ein Stück Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte, das mit dem spezifischen akteurinnen- und akteurszentrierten Blick die Zeitebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie der Transformationszeit gekonnt verknüpft. Auf weitere solcher Mikrostudien ist zu hoffen, werden doch die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR immer weniger.

Anmerkung:
1 Albrecht Lehmann, Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin 2007, S. 49.

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