Cover
Titel
Pipe Dreams. Water and Empire in Central Asia's Aral Sea Basin


Autor(en)
Peterson, Maya K.
Reihe
Studies in Environment and History
Erschienen
Anzahl Seiten
XXII, 399 S.
Preis
£ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Happel, Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Die sowjetische Gigantomanie führte zum Austrocknen des Aralsees – einst der viertgrößte Binnensee der Erde, ein Meer so groß wie die Schweiz. Maya Petersons Buch analysiert, wie die Pipe Dreams der russischen und sowjetischen Planer mithilfe der einheimischen Bevölkerung zu dieser Katastrophe führten. Gestützt auf neu erschlossenem Archivmaterial leistet sie einen wichtigen Beitrag zu der wachsenden Anzahl an Arbeiten über die russische und sowjetische Umweltgeschichte.1 Ihr Buch erzählt, wie aus Träumen (bittere) Realitäten werden konnten.2

Bewässerung war speziell in Zentralasien keine neue Erfindung der russischen Kolonialherren. Die landfremden Russen waren auf das Wissen der einheimischen Bevölkerungen angewiesen. Neu waren die russischen Baumaterialien und die Einbindung einer großen Anzahl von Experten – Ingenieure, Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer. Doch russische Ingenieure besäßen nicht die erforderlichen Fertigkeiten, meinte Großfürst Nikolai Romanow 1896. Bereits 20 Jahre zuvor hatte der bekannte russische Wissenschaftler Alexander von Middendorf erklärt, russische Ingenieure sollten von denen lernen, die seit Tausenden von Jahren Praxiserfahrung im Kanalbau hätten.

Unwissenheit bestand auch hinsichtlich des Aralsees. Europäische Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts rätselten, warum er existierte, wie seine Küstenlinien aussahen und wie die beiden Zuflüsse Syrdarja und Amudarja verliefen. Eine erste vollständige wissenschaftliche Aufnahme des Sees gelang dem russischen Marineoffizier Aleksei Butakow erst 1848/49. Mit der Geschichte um den späteren Admiral beginnt Petersons Auseinandersetzung mit der Aralsee-Region. Kritisch könnte man hier einwerfen, dass Butakow lediglich eine Fortsetzung zahlreicher zuvor erfolgter russischer Expeditionen darstellte, doch würde dies dem Buch nicht gerecht. Mit der exakten Aufnahme des Sees in der Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten die Forscher Klarheiten darüber, welche Wassermengen die beiden Zuflüsse in den Aral spülten. Diese Menge zu reduzieren und das Wasser mittels Kanäle in die Wüste fallen zu lassen, war ein Bewässerungs-Traum der Kolonialherren. Peterson beschreibt, wie sie die ihnen „kapriziös“ erscheinenden Ströme ordneten (S. 32).

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde ein alter Plan wieder aufgelegt. General Alexander Gluchowskoj warb 1869 für einen Großen Eurasischen Wasserweg, einen gigantischen Kanal, der Europa und Asien über Russland verbunden hätte. Der Amudarja solle „korrigiert“ werden und in das Kaspische Meer münden (S. 39). Entlang des neuen Wegs, so träumte Gluchowskoj, hätte die gesamte Wüste erblühen können.

Über große Dampfschiffe, die vom Kaspischen Meer dem Amudarja hinauf stampften, sinnierte Großfürst Nikolai. Er war fasziniert von der Flussumleitung. In der Region fand man ein altes Flussbett, das Usboi hieß und das als einstiger Lauf des Amudarja die Gelehrten faszinierte. Nikolai glaubte, das Trockenfallen des Usbois habe Asien von Europa abgeschnitten.3 Mit der Wiederherstellung des Flussbetts, der Korrektur der Natur, sollte die erneute Verbindung beider Kontinente gelingen. Doch der Großfürst scheiterte trotz zahlreicher Versuche, die russische Verwaltung für sein Projekt zu gewinnen.

Maya Peterson bilanziert zurecht, dass das Wasser der Schlüssel zu den russischen Visionen einer glorreichen Zukunft der Region war, dass das Wasser der Erkundung, der Eroberung und der Kontrolle Turkestans diente. Mit dem erdachten Eurasischen Wasserweg hätte Russland sein internationales Prestige steigern und eine alte Handelsroute etablieren können.

Großfürst Nikolai hatte ein Leben voller Skandale hinter sich, als ihn sein Großvater Alexander II. als verrückt erklären und nach Zentralasien schicken ließ. Dort angekommen, interessierte er sich nicht nur für den Eurasischen Wasserweg, sondern auch für die einheimischen Sagen und Bräuche. Von der Vorstellung, Wüsten zum Leben zu erwecken, war er besessen. Gelobt wurde dabei sein Einsatz um Gleichberechtigung: Am Kanal arbeitende Einheimische und Slawen sowie Männer und Frauen erhielten den gleichen Lohn. Zwar irritierte der Großfürst die örtliche Verwaltung. Doch die lokale Bevölkerung, die sich von ihm abhängig fühlte, schätze ihn, wie eine Kommission resümierte: „the natives find the His Highness’s behavior natural, because their khans always acted that way“ (S. 123).

War Großfürst Nikolai noch überzeugt, Turkestan könne aus sich selbst heraus entwickelt werden, sahen dies die St. Petersburger Landesherren ganz anders. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts schritten sie zur Russifizierung der riesigen Kolonie durch Ansiedlungskampagnen slawischer Siedlerfamilien. Landwirtschaftsminister Alexander Kriwoschein äußerte sich vehement, den „leeren“ Raum für die russischen Bauernschaften zu nutzen. Auch hier drehte sich alles um das Wasser. Ackerflächen mussten geschaffen werden, wenn ihnen Wasser durch Kanäle zugeführt werden konnte. Der Minister träumte von einem „Neuen Turkestan“. Doch auch Kriwoscheins Vorstellungen zerplatzten.

Im Siebenstromland (Semireč’e) sahen zarische Politiker die Möglichkeit gegeben, ein „Land aus Brot und Honig“ zu erbauen (S. 164). Ab 1908 wurde der Bezirk speziell für slawische Kolonisten geöffnet. Sie siedelten sich auf „freiem“ Land an – Land, das seit Jahrhunderten von Nomadenverbänden bewirtschaftet wurde. Die Nomaden, die aus der Perspektive des europäischen Staats sesshaft werden mussten, wichen den Siedlern zunächst aus. Die Zeichen der Zeit standen jedoch auf Konflikt. Die Geschichte um die sich verschärfende Lage im Siebenstromland bis zum großen Aufstand in der Steppe 1916 ist in den letzten Jahren mehrfach aufgegriffen worden.4 Peterson liefert partiell eine ergänzende Sichtweise, indem sie sich auf einzelne Wasserbaumaßnahmen konzentriert, die vor allem nach der Niederschlagung des Aufstands in Angriff genommen wurden.

Mit der Machtübernahme der Bolschewiki 1917 begann für Zentralasien eine neue Zeitrechnung. Zunächst ein Austragungsort des Bürgerkriegs, dann 1921 eine Hungerregion, traten die Revolutionäre an, die Landschaften mittels ihrer Wasserbauphantasien völlig umzugestalten. Davon handeln Petersons fünftes und sechstes Kapitel. Die sowjetischen Ingenieure wollten die Natur nach ihren Ideen verändern. Nichts schien unmöglich, sondern alles schien nötig zu sein. Peterson folgt dem amerikanischen Ingenieur Willard Livermore Gorton, der sich 1930 in der Sowjetunion vertraglich verpflichtet hatte, beim Wasserbau in Turkestan zu helfen. Ausländer wie er sollten den ersten Fünfjahresplan zum Erfolg führen. Eingesetzt am Waksch-Fluss, zweifelte Gorton an der Durchführbarkeit; es fehlte an allem, besonders an technischem Gerät. Er verstand die Position seiner sowjetischen Kollegen nicht, die im Rahmen der Stoßarbeiten mit anderen Unions-Baustellen konkurrierten und auf Menschenkraft setzten. Als Ingenieure gaben sie dem Amerikaner hinter vorgehaltener Hand Recht; als Parteigenossen wiesen sie auf die Stärke des sowjetischen Kollektivs hin, alles zur Not händisch erledigen zu können.

Im Jahre 1948, 100 Jahre nach Butakows Reise, gab Stalin seinen Großen Plan von der Umgestaltung der Natur bekannt. Der Amudarja solle jetzt endlich seine wahre Bestimmung erhalten: nicht für den Transport von Waren, sondern einzig als Bewässerungskanal der Felder – „bring the unruly river to flow where the people wanted it to flow“ (S. 322f.). Doch erst nach Stalin wurden gewaltige Wassermassen des Flusses abgeschöpft und in den neu erbauten Karakum-Kanal in Richtung des Kaspischen Meeres umgeleitet. Ziel war es, die Baumwollwirtschaft in Turkmenistan zum Erblühen zu bringen. Hier brachte das Wasser Segen. Andernorts begann die Katastrophe: Der Aralsee trocknete aus. Im Verschwinden des Sees resultieren alle Träume von einem Bewässerungszeitalter.

„Pipe Dreams“ ist ein originelles Buch. Alle Kapitel sind in sich geschlossene Erzählungen über einen alten Menschheitstraum: Die Wüsten zu Paradiesgärten zu machen. Maya Peterson ist nicht die erste, die über die zentralasiatische Wasserpolitik geschrieben hat.5 Ihr gelingt jedoch eine Forschungssynthese, gestützt auf äußerst umfangreiche Archivarbeiten mit zahlreichen unbekannten Sichtweisen vor allem aus den regionalen Archiven Zentralasiens. Das Buch erfüllt hiermit alle Erwartungen – eine kluge, gut geschriebene, niemals langweilig werdende Studie voller kleinster Details und Geschichten über (gescheiterte) Träume und über das Zusammenwirken von Mensch, Wasser und Natur.

Anmerkungen:
1 Stephen Brain, Song of the Forest. Russian Forestry and Stalinist Environmentalism, 1905–1953, Pittsburgh (Pa.) 2011; Andy Bruno, The Nature of Soviet Power. An Arctic Eenvironmental History, Cambridge 2016; David Moon, The Plough that Broke the Steppes. Agriculture and Environment on Russia’s Grasslands, 1700–1914, Oxford 2013.
2 Maya Peterson pflichtet Ian Tyrell zu, Irrigation sei nicht nur eine Geschichte über „drains, pumps, pipes, and dams, but about dreams“. Vgl. Ian Tyrell, True Gardens of the Gods. Californian-Australian Environmental Reform, 1860-1930, Berkeley (Calif.) 1999, S. 103.
3 Im 19. Jahrhundert waren europäische Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen in die sogenannte Oxus-Frage involviert. Geographen, Orientalisten, Historiker, Ökonomen, Militärwissenschaftler, Altphilologen aus Deutschland, Russland, Frankreich, England verfassten im Streit um den alten Lauf des Amudarja, griechisch Oxus, dutzende eigenständige Monographien. Im Rahmen meines durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG – (426152242) geförderten Heisenberg-Projekts erarbeite ich das Thema der „Oxus-Frage. Der Amudarja und die europäischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts“ in einem umfangreichen Artikel.
4 Alexander Morrison / Cloé Drieu u.a. (Hrsg.), The Central Asian Revolt of 1916. A Collapsing Empire in the Age of War and Revolution, Manchester 2020; Jörn Happel, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010.
5 Julia Obertreis, Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991, Göttingen 2017; Christian Teichmann, Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920–1950, Hamburg 2016.

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