J. Bauer u.a. (Hrsg.): Das Wartburgfest von 1817 als europäisches Ereignis

Cover
Titel
Das Wartburgfest von 1817 als europäisches Ereignis.


Herausgeber
Bauer, Joachim; Gerber, Stefan; Spehr, Christopher
Reihe
Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 15
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Jahre um 1815 markieren zweifellos eine Zäsur in der europäischen und deutschen Geschichte. Daran ist zu erinnern angesichts eines allgemein verbreiteten, oft vereinfachenden, Verweises auf die „Sattelzeit“ zwischen 1770 und 1830 (oder auch 1750 und 1850), welche als Metapher, ohne große theoretische Absicht vor Jahren eher spontan formuliert, auf einen langfristigen Strukturwandel verweist. „1815“ markiert demgegenüber eine punktuelle Zäsur, mit dem Wiener Kongress als Ende einer über mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Phase zwischenstaatlicher Kriege in Europa und indiziert eine erneute Bändigung der europäischen Mächterivalität und gewalthaften Mächtekonkurrenz. Dieser Fesselung von Konflikten im zwischenstaatlichen Bereich stand aber eine „Entfesselung“ im Innern zur Seite, besonders in den Ländern des Deutschen Bundes. Mit Entfesselung beschrieb Reinhart Koselleck die Politik der preußischen Reformer, welche den Übergang von der ständischen Feudalordnung zur bürgerlichen Gesellschaft gestalten wollten, jedoch die Folgen ihrer Freisetzung im Ökonomischen, Sozialen und auch Politischen nicht mehr kontrollieren konnten.

Das „Wartburgfest“ symbolisiert diesen Umbruch in den politischen Artikulationsformen wie kein anderes Ereignis. Es steht für zwei fundamentale Veränderungen in der sich nun herausbildenden politischen bürgerlichen Öffentlichkeit. Es war, als Fest, eine nicht von oben, von herrschaftlicher oder kirchlicher Obrigkeit organisierte Veranstaltung, es war ein Fest von unten, „aus der Gesellschaft“ heraus – in diesem Fall dem bildungsbürgerlich-akademischen Teil, der reklamierte, für das Volk bzw. die Nation zu sprechen. In seiner neuen Form der selbst-organisierten Zusammenkunft im öffentlichen Raum, um politische Ziele zu artikulieren und um deren Verbreitung zu werben, war es die „erste Demo in der deutschen Geschichte“1, wie Thomas Nipperdey 1990 prägnant gesagt hat. Die zweite Neuerung war die offene Artikulation politischer Überzeugungen, hier auf innere und äußere Freiheit bezogen, auf Volk und Nation und nicht auf die dynastischen Herrschaftsträger. „Überzeugung“ (heute ist „Gesinnung“ der gebräuchliche Begriff hierfür) unterscheidet sich von Meinung durch ein mehr an Verbindlichkeit und Handlungsanspruch, und vom Wissen durch den Rückgriff auf moralische an Stelle logischer Gewissheit. In diesen beiden Elementen liegt der Ouvertürencharakter des Wartburgfestes für die sich bildende bürgerliche Öffentlichkeit, wie sie Ernst Rudolf Huber knapp skizziert hat und wie sie nach ihm durch Jürgen Habermas popularisiert hat.2 Das Wartburgfest verweist damit paradigmatisch auf die Ambivalenz der gesellschaftlichen Entfesselung im Politischen, mit der Ermöglichung der Selbstorganisation, der öffentlichen Stellungnahme, dem Anspruch an den „Gemeingeist“ (das heutige Bürgerengagement), aber auch der politischen Leidenschaft, der Überschreitung rechtlicher und moralischer Grenzen, legitimiert durch den Verweis auf eine höhere Moral. Der Wartburgteilnehmer Carl Ludwig Sand vollzog 1819 mit dem politischen Attentat auf August von Kotzebue damit den Übertritt von der Überzeugungsethik zur Überzeugungstat und symbolisiert damit ebenfalls einen Übergang in eine Moderne, der ein neuartiges Potential politisch und ideologisch motivierter Gewalt innewohnt.

Der Band – leider ohne eine Interpretationslinien zeichnende oder zusammenfassende Einleitung – bietet eine komprimierte und zugleich differenzierte Darlegung der Rahmenbedingungen des Wartburgfestes. Er konzentriert sich nicht nur auf die Gewalt- und Gesinnungsfragen, die im zweiten Teil im Mittelpunkt stehen, sondern präsentiert im ersten Teil eine differenzierte Übersicht über die Voraussetzungen für und auch die Rezeptionen des Wartburgfestes in den Staaten des Deutschen Bundes und in Europa. Prägnant und breit in die historische Entwicklung der ersten Jahrhunderthälfte einbettend ist dafür der Beitrag von Hans-Werner Hahn, fast eine Ersatzeinleitung. Diese erste Hälfte der Beiträge, acht, analysiert die politischen Aspekte und insbesondere auch die Rezeption bzw. Folgen der Zusammenkunft, in verschiedenen Staaten des Deutschen Bundes sowie in Russland (Franziska Schedewie) und England (Markus Mößlang). Wolfram Siemann skizziert Metternich als (scheiternden) Modernisierer, dessen „aktive konstruktive Reformpolitik“ (S. 13) aber nur begrenzt erfolgreich war. Mit seiner Politik, welche die „Nationalität des Staates“ verhindern wollte, stand er im Widerspruch zur politischen Bewegung, die sich 1817 öffentlich präsentierte. Doch wäre es verkürzend und falsch, Metternich zum alleinigen Gegenspieler zu machen, denn gegen die beginnenden Tendenzen der Nationalisierung regte sich innerhalb aller Staaten des Bundes Widerstand, sogar mehr als im europäischen Ausland. Auch wenn, wie Matthias Stickler zeigt, an den österreichischen Hochschulen Repressionsmaßnahmen gegen die frühburschenschaftlichen Bewegungen – und damit auch gegen intensivierte Kontakte einheimischer Studenten mit denen aus anderen Ländern des Deutschen Bundes – erfolgreich durchgeführt wurden.

Für das Verständnis des Wartburgfestes selber als Element einer sich formierenden bürgerlich-nationalen Öffentlichkeit ist die zweite Hälfte der Beiträge zentral. Joachim Bauer präsentiert eine immens materialgesättigte sozialgeschichtliche Analyse der studentischen Teilnehmer, bis hin zu Altersangaben und Kriegserfahrungen. Gelungen die Darlegungen zum protestantischen (Christopher Spehr) bzw. katholischen (Stefan Gerber) Charakter des Festes und den konfessionell sich unterscheidenden Rezeptionen. Die nationalreligiöse Schwärmerei, die auch zum Furor werden konnte, war jedenfalls eine protestantische. In der Tradition der Aufsätze Wolfgang Hardtwigs, die den Mentalitäts- und Verhaltenswandel der Studenten nach 1800 als, bis heute noch nicht ausgeschöpftes, Forschungsproblem beschrieben haben, fragen sechs Beiträge nach Veränderungen im Feld von Öffentlichkeit und Universitäten. Werner Greiling analysiert die mediale Dimension des langfristigen Wirkungserfolgs. Das Ereignis erfuhr eben nicht nur durch die politische und polizeiliche Beobachtung sondern auch durch die mediale Resonanz eine Bedeutungszuschreibung, die es zum „Erinnerungsträger“ unterschiedlichster Besetzungen gemacht hat, damals wie heute. Zu dieser Tradierungsgeschichte gehört auch die gewohnt materialreiche Analyse, die Harald Lönnecker über die burschenschaftliche Literatur zum Wartburgfest vorlegte, präzise auf den Radikalismus und Nationalismus, wie auch den demokratischen Republikanismus und Idealismus der Erlebnisgeneration eingehend und zugleich die Deutungsverschiebungen in späteren Zeiten aufzeigend. Das politische Radikalisierungspotential ist konzise analysiert bei Klaus Ries, der die Verschränkung von Wort und Tat und die Analogien zum modernen Terrorismus luzide herausarbeitet. Die gesellschaftliche Verbreitung derartiger Ideen in der damaligen Zeit belegt die allgemeine Skandalisierung Kotzebues und Stourdzas wegen ihrer Berichte für die russische Regierung bzw. der „russischen“ Forderungen nach einer Begrenzung der universitärer Freiheiten (Anna Ananieva und Rolf Haaser). Liberale und nationale Überzeugungen waren hier untrennbar miteinander verflochten in der öffentlichen Erregung.

Als Fazit dieses, einen breiten und differenzierten Überblick zum Wartburgfest präsentierenden Bandes, kann man folgende Punkte nennen, die mit den Beiträgen des hier vorgestellten Bandes erkennbar werden. Für das „Ereignis“ von 1817 lohnt, erstens, eine ausführlichere Analyse, die mehr auf die Indikatorfunktion dieser neuen Form von bürgerlicher Öffentlichkeit und politischer Gesinnungsbekundung zielen sollte, als auf die noch immer oft und einseitig kritisierte Deutschtümelei. Zweitens wäre sodann die Ambivalenz der Nationsidee3 ernst zu nehmen, sie ließe sich auch am Wartburgfest paradigmatisch zeigen. Freiheit nach außen, gegen die napoleonische Besatzung, Freiheit nach oben, mit einem antidynastischen Potential, und Freiheit des Geistes, hier mit dem Bezug auf die Reformation, waren in unterschiedliche Richtungen offen. Nationale Einheit wie nationale Aggression, gegen andere Nationen oder andere Aggressionen, Freiheit der Überzeugung und Terror unter Verweis auf die Überzeugung waren oft nur zwei Seiten eines Phänomens. Und drittens ist ein vergleichender Blick auf das Hambacher Fest von 1832 überfällig. Man könnte analoge Ambivalenzen entdecken, sicherlich mit anderen Akzentsetzungen, aber beide gehören zusammen zur Frühgeschichte von bürgerlicher Öffentlichkeit und Nationsbildung in Deutschland. Zu lange ist die öffentliche Wahrnehmung auf beide Ereignisse gefangen geblieben in einer naiven Lesart der satirisch-übertreibenden Charakterisierung Heinrich Heines, der polemisch erklärte, auf der Wartburg „krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang“, und in Hambach „jubelte die moderne Zeit ihre Sonnenaufgangslieder und mit der ganzen Menschheit ward Brüderschaft getrunken“.4 Zu entdecken wäre demgegenüber noch immer der Beginn einer ambivalenten und widersprüchlichen Neuzeit, der nach 1815 mit der sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit einsetzte. In diesem Deutungsverständnis war das Wartburgfest nicht nur die erste Demo, sondern auch das erste symbolpolitische Massenevent der politischen Moderne im nichtrevolutionären Deutschland jener Zeit.

Anmerkungen:
1 Thomas Nipperdey, Rede zum Wartburgtreffen, in: Ulrich Zwiener (Hrsg.), Wartburgtreffen 1990. Ein demokratisches Deutschland für Europa, Jena 1990, S. 48–58, hier S. 49.
2 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1957, S. 711–718; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
3 Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994.
4 Heinrich Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: ders., Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hrsg. von Klaus Briegleb, München 1976, Bd. 7, S. 7–148, hier S. 88.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension