J. Bauer / G. Müller: Des Maurers Wandeln

Titel
"Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben". Ffreimaurerei und Politik im klassischen Weimar


Autor(en)
Bauer, Joachim; Müller, Gerhard
Reihe
Zeitschrift des Vereins fuer Thueringische Geschichte, Beiheft 32
Erschienen
Rudolstadt u.a. 2000: Hain Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 12,70
Dr. Holger Zaunstöck, Institut fuer Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In seinen 1999 vorgelegten beiden Buechern - 'Das Goethe Tabu' und 'Unterirdische Gaenge' - vertritt der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson die These, dass das Interesse von Goethe und Carl August an den arkanen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts im wesentlichen durch obrigkeitsstaatliche Ueberwachungsintentionen motiviert gewesen, ihre Position mithin als geheimbundfeindlich einzustufen sei. Diese Auslegung deckt sich nicht mit den auf langjaehrigen Archivstudien basierenden Forschungsergebnissen der beiden Jenaer Historiker Joachim Bauer und Gerhard Mueller. Die Niederschrift ihrer hier anzuzeigenden kleinen Monographie ueber Freimaurerei, Aufklaerung und Politik im klassischen Weimar ist deshalb durch das Erscheinen der Wilsonschen Buecher (mit)ausgeloest worden. (13 f.; 143) Die Gegenthese, die die Autoren entwickeln, besagt, dass in der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts Staatspolitik oft ohne ein Eingebundensein in die europaweiten Verzweigungen der Freimaurerei nicht zu machen gewesen ist: "Man wuerde aber diese Motivationslage wesentlich verkennen, wenn man dieses zweifellos in starkem Masse staatlich-politische Interesse an der Freimaurerei auf die Ueberwachung einer etwaigen systemoppositionellen Subversion einengen wollte." (22)

Nicht zu Unrecht konstatieren Bauer und Mueller, dass die bisherige Kritik an Wilsons - ueber die Wissenschaft hinaus viel beachteten - Arbeiten "im Kern keine wissenschaftliche", die Empoerung der Kritiker in den Feuilletons "merkwuerdig hilflos" war (15 f.). Mit ihrer Studie legen die beiden Geschichtswissenschaftler jetzt einen ersten quellenfundierten Gegenentwurf dazu vor. Die Ergebnisse der Studie von Bauer und Mueller sind weniger aufsehenerregend und auch keineswegs aehnlich medienwirksam, sondern ausgewogen, im historischen Kontext verwurzelt. Die Autoren richten ihre Argumentation ganz auf die Widerlegung von Wilsons These aus - gleichwohl handelt es sich nicht um eine Widerlegungsschrift im eigentlichen Sinn. Denn im Mittelpunkt steht der Aufbau einer eigenen Argumentation, die in allen Stufen Wilsons Analyse und Auslegungen im Blick hat. So hat der Leser zeitgleich die Moeglichkeit, der Dramaturgie von Bauer und Mueller zu folgen und ebenso in die Wilsonschen Ueberlegungen (kritisch) eingefuehrt zu werden.

Die Verfasser konstatieren zu Beginn, dass Daniel Wilson in den 'Unterirdischen Gaengen' "die Quellen allein daraufhin [befragt], ob sie sich als Indizien fuer die Beweisfuehrung des 'Ueberwachungs'-Motivs eignen" (19). Folglich ist die Kritik von Bauer und Mueller an dieser Methode fundamental: Wilson missachte Grundprinzipien geschichtswissenschaftlicher Arbeit, es fehle in seinen Buechern "das Verstaendnis der jeweiligen historischen Situation in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexitaet sowie die Beachtung des aktuellen Forschungsstandes" (16 f.). Eben dies machen sich Bauer und Mueller zur Maxime ihrer eigenen Forschung: "Insbesondere sind jene Perspektiven freizulegen, die zeigen, dass die Motivationen fuer das freimaurerische Engagement bei Goethe und Carl August anders, vor allem aber erheblich komplexer und vielschichtiger war, als Wilsons 'Ueberwachungs'-These suggeriert" (20).

Fuer das Verstehen arkangesellschaftlicher Aktivitaeten im 18. Jahrhundert ist es unverzichtbar, die Gemengelage aus individuellen, politischen und literarisch-philosophischen Motiven und Interessen zu entflechten. Nur so ist eine dem Gegenstand angemessene Deutungstiefe zu erreichen. Bauer und Mueller versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden, indem sie die Weimarer Situation in den freimaurerischen bzw. staatlich-politischen Gesamtkontext stellen. (zum Beispiel 123) Nach einer Einfuehrung in den Forschungsstand ("Goethe und die Geheimbuende. Zur Kontroverse um Goethes Freimaurertum") folgt in zwei Kapiteln die Darstellung der 'Strikten Observanz' - das beherrschende freimaurerische System der Zeit wird hier erstmals ausfuehrlich im Kontext der politischen Fuehrungsschichten des Reiches gesehen - und die Beschreibung der Weimarer Logengeschichte von 1764 bis 1808. Im vierten, letzten Abschnitt der Studie gehen die Autoren dann dezidiert auf die Motive des Dichters und des Herzogs ein ("Einstieg in die ,unterirdischen Gaenge"). Abgerundet wird das Buch durch einen Quellenanhang, der wesentliche Dokumente fuer die analysierten Vorgaenge enthaelt (siehe dazu 89).

Wir koennen an dieser Stelle nicht dem Fuer und Wider der Fuelle einzelner Aspekte folgen, um die hier zum Teil vehement vorgetragene Kritik an Wilson zu reflektieren. Der methodische Ansatz von Bauer und Mueller, die Verflechtungen zwischen dem 'Unterirdischen' und dem 'Oberirdischen' in der Zeit des Ancien regime zu untersuchen (vgl. 21-23; 31; 40 ff. u. insb. die Kapitel 3 u. 4), ueberzeugt jedoch uneingeschraenkt. Bauer und Mueller zeichnen eindringlich nach, dass um 1780 die grosse Politik sich in massiver Weise der Arkanwelt bedient hat: Ein beeindruckendes Beispiel dafuer ist die Koinzidenz der freimaurerischen und politischen Karriere Goethes in dieser Zeit (insb. 101 ff.).

Die Verknuepfung der Aktivitaeten in der freimaurerischen Welt mit den Vorgaengen der 'sichtbaren' Politik ist ein innovativer Ansatz, der fuer das Verstaendnis der spaetaufklaererischen Gesellschaftsgeschichte gewinnbringend sein wird. Ausserdem gelingt es Bauer und Mueller, einen Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Aufklaerungsjahrhunderts zu liefern. Denn sie lesen das europaweit verzweigte und vernetzte Organisationsgeflecht der Freimaurer als ein modernes Kommunikationssystem, dessen sich die politischen Handlungstraeger bedienten (21f.; 31; 51 f.; 96; 101 f.; 121). Auf die Partizipation an derartigen Netzwerkstrukturen konnten auch Carl August und Goethe - zumal aus Sicht ihres Kleinstaates (zum Beispiel 104-107) - nicht verzichten: "In einer deutschen Freimaurerloge der 1770er und 1780er Jahre rezipiert zu sein, zumal in der zum gesellschaftlichen Establishment gehoerenden 'Strikten Observanz', wirkte wie ein Kreditiv, das - zumal in Verbindung mit dem Adelstitel - verschlossene Tueren zu oeffnen und vielfaeltige Kontakte zu schliessen vermochte. In einer partikularen Staatenwelt, wie sie das Alte Reich darstellte, waren derartige 'private' Kommunikationsnetzwerke besonders fuer die kleinen Reichsstaende eine politische Lebensfrage, denn sie konnten ein umfangreiches diplomatisches Korps schlicht nicht finanzieren" (102).

Die Autoren schliessen ihre Studie mit dem vorlaeufigen Ende der Freimaurerei in Sachsen-Weimar (1782). Grund hierfuer ist, dass sowohl Goethe als auch Carl August zwischen "Arkanum und Konspiration" - zwischen Loge und Geheimbund - unterschieden haetten. Bauer und Mueller weisen die "Konstruktionen" Wilsons in bezug auf die Freimaurerei zurueck - "weit ernster zu nehmen" seien aber seine Argumente fuer eine Ueberwachungsthese hinsichtlich des Illuminatenordens (121 f.), dessen Ausbreitung sich in den achtziger Jahren organisationsgeschichtlich im Herzogtum anschloss. Und nicht nur der Konspirationsverdacht - so Bauer und Mueller - gegenueber den tatsaechlich im Verborgenen arbeitenden Buenden liess den beiden Weimarern die Arkanwelt aus ihrer Sicht zunehmend dubios erscheinen, sondern ebenfalls die esoterisch-okkultistischen Stroemungen in der Freimaurerei (9; 21 f.; 47-50; 66; 121). Hinsichtlich dieser beiden Bereiche ist eine Annaeherung der Positonen von Wilson und Bauer/Mueller durchaus erkennbar. (112 f.; 121)

Das Scheitern der Reformbemuehungen um die 'Strikte Observanz' 1782 hatte auf Goethe und Carl August "zweifellos traumatisierend gewirkt", weshalb sie sich in den folgenden Jahren dann ganz auf die Befoerderung des Aufklaerungsdiskurses "im oeffentlichen Bereich" konzentriert haben. Und dies auch deshalb, weil "sich die Kraefteverhaeltnisse im Geheimbundbereich weiter drastisch zu ungunsten der Aufklaerer verschoben" (123 f.). - "Je mehr 'Aufklaerung' und 'Oeffentlichkeit' sich in den achtziger Jahren von der Arkanwelt emanzipierten, desto schaerfer distanzierten sich auch Goethe und Carl August von ihr." (23) Dieser Ausblick ueber das Jahr 1782 hinaus ist jedoch letztlich nicht ueberzeugend, denn er wirft zwangslaeufig Fragen auf: Warum ist die Partizipation am europaeischen Freimaurernetzwerk nach 1782 fuer die Weimarer Politiker nicht mehr von Interesse? Wurden die maurerischen Kommunikationswege nur temporaer genutzt? Und stimmt es wirklich, dass seit Mitte der achtziger Jahre die Aufklaerer in der Arkanwelt im Rueckzug begriffen waren, weil in Preussen die beiden Gold- und Rosenkreuzer Woellner und Bischoffwerder (und auch der 'Kreuzbruder' Haugwitz) hohe politische Aemter erlangten?

Diese Ueberlegungen aber vermindern den Wert der Studie nicht, sondern eroeffnen zusaetzliche Perspektiven. Mit dem gut lesbaren und ansprechend illustrierten Buch von Joachim Bauer und Gerhard Mueller liegt eine Studie vor, die nicht nur eine wissenschaftliche Debatte um die Thesen von W. Daniel Wilson eroeffnet, sondern die gleichzeitig ueber den Raum Weimar-Jena hinaus fuer die gesellschaftsgeschichtliche Erforschung der Spaetaufklaerung anregend ist.

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