Cover
Titel
Die Thronfolger. Macht und Zukunft der Monarchie im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Müller, Frank Lorenz
Erschienen
München 2019: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Weiß, Institut für Bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Monarchiegeschichte hat in den letzten Jahren einen erfreulichen Aufschwung genommen, nicht zuletzt durch biographische Studien – beides war in der deutschen Wissenschaft lange verpönt. Anstöße dazu gingen besonders aus dem angelsächsischen Raum aus, und hier ordnet sich der an der schottischen Universität St. Andrews wirkende deutsche Historiker Frank Lorenz Müller ein. In einer großangelegten vergleichenden Studie erarbeitet er eine Kollektivbiographie der europäischen Thronfolger im langen 19. Jahrhundert. Der Untersuchungszeitraum wird markiert durch die Hinrichtung König Ludwigs XVI. von Frankreich 1793 und den Untergang der mitteleuropäischen Monarchien 1918. Müller nähert sich seinem Thema in fünf groß angelegten Kapiteln, in denen er die Bedeutung und Entwicklung der Thronfolger im Vergleich vorführt, zugleich aber nach dem Modernisierungspotential der Monarchie als Staatsform fragt. Es ist kein auf Vollständigkeit ausgerichtetes Werk beabsichtigt, aber die zentralen Entwicklungslinien werden an aussagekräftigen Beispielen vorgeführt.

Im Abschnitt „Unterpfand einer gesegneten Zukunft“ befasst Müller sich mit den ab der Geburt an die Thronfolger herangetragenen Erwartungen und Verpflichtungen, bildeten sie doch die Garantie für die Fortsetzung der Monarchie. Zu den Strategien zur Überwindung der Legitimationskrise nach der Französischen Revolution gehörten der bewusste Einsatz der Presse und die Inszenierung in der Öffentlichkeit. Eine grundlegende Voraussetzung bildete die Konstitutionalisierung der europäischen Monarchien mit Ausnahme des Zarenreichs. Diese schrittweise Liberalisierung galt freilich nicht für die innerfamiliären Verhältnisse der Dynastien, beanspruchte doch der Monarch eine schier absolutistische Herrschaft über die Mitglieder seines Hauses. Dies verschärfte oft die typischen Konflikte zwischen den Regenten und ihren Thronfolgern. Auch die Welt der sie umgebenden Höfe und ihrer Akteure werden an Beispielen aus ganz Europa vorgestellt.

Im Anschluss wendet sich Müller den Prinzen und ihren Familien zu, wobei es oft zu Diskrepanzen zwischen den Erwartungen der Öffentlichkeit an ein glückliches Familienleben und den tatsächlichen Verhältnissen kam. Nur selten wurden Skandale so publik wie 1902 der Ausbruch der sächsischen Kronprinzessin Luise von Österreich-Toskana, die ihren Mann und die Kinder verließ. Dem späteren König von Sachsen gelang es, diesen Schicksalsschlag durch die öffentliche liebevolle Zuwendung zu seinen Kindern zu wenden. Ein Modernisierungsfaktor für die Staatsform rührte aus dem häufigen Generationenkonflikt, bemühten sich viele Thronfolger doch um liberale Reformvorstellungen. Besonders am Beispiel Kronprinz Friedrich Wilhelms von Preußen, des 99-Tage-Kaisers Friedrich III., wird dies vorgeführt. Auch Albert Edward Prinz of Wales wurde von seiner Mutter Königin Viktoria von politischer Verantwortung ferngehalten, deren strengen, am Vorbild ihres Gatten orientierten Erwartungen er nicht entsprach. Müller betont, welche Disziplin und teilweise Selbstverleugnung das öffentlich inszenierte Eheglück und Familienleben den Beteiligten häufig abverlangte.

Der Erziehung und Ausbildung der Thronfolger ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie erforderte dann doch mehr, als den Namen richtig zu schreiben, eine Zeitung zu lesen und auf ein Pferd zu steigen, wie es Umberto I. von Italien seinem Sohn als Mindestanforderung eingeschärft haben soll. Als gemeinsames Merkmal ist im Laufe des 19. Jahrhunderts der Wandel vom Privatunterricht zum Besuch öffentlicher Schulen und ein zumindest kurzes Universitätsstudium nachweisbar. In Preußen mussten die Prinzen ein Kadettenkorps durchlaufen, auch in Großbritannien war die militärische Ausbildung wichtig. Müller untersucht die Denkschriften zur Fürstenerziehung, in die immer stärker bürgerliche Vorstellungen über den Bildungskanon eindrangen. Gleichzeitig sollten die Thronerben aber ihre künftigen Bürger übertreffen, was eine Herausforderung darstellte. Der Universitätsbesuch wird am Beispiel der Kronprinzen von Bayern, Sachsen und Württemberg vorgeführt. Freilich wurde das akademische Studium begleitet von einer militärischen Ausbildung. Auf die Erziehung des ersten italienischen Thronfolgers Viktor Emanuel verwendete besonders die Mutter große Mühe, schon die in Neapel arrangierte Geburt sollte den Süden an die neue Dynastie binden, der Knabe erhielt eine anspruchsvolle, auch literarische Ausbildung sowie eine Einführung in die übrigen Wissenschaften. Im Gegensatz dazu überforderten Königin Viktoria und Prinz Albert ihren Thronfolger Prinz Bertie. Dabei war die Erziehung spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, die durch zahlreiche Presseartikel und Photographien begleitet wurde.

Die bürgerliche Gesellschaft dieser Zeit erwartete von ihren Monarchen Arbeit, Bildung und Leistung. Entsprechend dieser Entwicklung ist ein Kapitel der Rolle der Thronfolger in Politik, Medien und Öffentlichkeit gewidmet. Als Beispiel wählt Müller zunächst den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der hohes Ansehen in der nationalliberalen Presse genoss, während sein Vater ihn von politischen Entscheidungen fernhielt. Auch andere Kronprinzen bemühten sich in der Öffentlichkeit um die Anerkennung, die ihnen vom Familienoberhaupt häufig vorenthalten wurde, wie etwa Kronprinz Rudolf von Österreich. Die Inszenierung eines glücklichen Familienlebens bildete ein Element der Medienpolitik. Der bayerische Thronfolger Prinz Ludwig engagierte sich dagegen in der Politik und wurde in der Öffentlichkeit als Vertreter der bayerischen Autonomie wahrgenommen. Er näherte sich der Mehrheitspartei des bayerischen Zentrums an, was einen Schritt auf dem Weg zur Parlamentarisierung bedeutete. Die ebenfalls öffentlich demonstrierte Wohltätigkeit half ein Kapital an „sanfter Macht“ aufzubauen. Gleichzeitig lag die politische Bedeutung der Thronfolger in der Zukunftssicherung des Systems durch behutsame Reformen.

Das letzte Kapitel ist unter der originellen Überschrift „Vom ‚Tschingdada‘ zum Weltkrieg“ der Militarisierung der Monarchien bis 1914 vorbehalten. Besonders in Preußen, aber auch in den anderen europäischen Staaten fand gegen Ende des langen 19. Jahrhunderts eine immer intensivere Militarisierung statt, die von manchen Monarchen wie Kaiser Wilhelm II. nach Kräften vorangetrieben wurde. Freilich ging dies mit einer zunehmenden Professionalisierung des Militärwesens einher, die eine faktische Führung durch fürstliche Befehlshaber zumindest erschwerte, wenn nicht ausschloss. Diese Diskrepanz sollte zum Untergang der mitteleuropäischen Kaiserreiche beitragen. Müller zeigt dies am Beispiel des preußisch-deutschen Kronprinzen Wilhelm, der aus dynastischen Gründen in die Position eines Armeeoberbefehlshabers geschoben wurde, ohne dafür im Mindesten qualifiziert zu sein. Sein auch während des Weltkrieges unverändert unbekümmertes öffentliches Auftreten und die Neigung zu einem exzessiven Privatleben trugen nachhaltig zum Schwinden des Ansehens der preußischen Monarchie bei. Auch ein pflichtbewusster Oberbefehlshaber wie Kronprinz Rupprecht von Bayern, der für seine Position qualifiziert war und sich hoher Beliebtheit erfreuen durfte, konnte dem nicht nachhaltig entgegensteuern. Sein Vater König Ludwig III. von Bayern wurde wie die übrigen Bundesfürsten und der Kaiser von Österreich von den Revolutionen am Ende des Weltkrieges beiseitegeschoben. Zu Recht weist Müller am Ende seiner Darstellung auf die Ironie hin, dass die monarchische Propaganda den Krieg als besondere Domäne der Fürsten gefeiert habe, während eben die Niederlage in diesem Krieg die Kronen hinwegfegte (S. 383).

Gestützt auf eigene Archivarbeiten, gedruckte Editionen, die Auswertung zahlreicher Presseorgane und einen souveränen Überblick über die reiche Literatur erarbeitet Müller eine meisterhafte Darstellung der Entwicklung und Veränderungen der Positionen der europäischen Thronfolger, wobei er die individuellen Besonderheiten nicht vergisst. Der Blick auf alle Kronprinzen und einige Kronprinzessinnen vermag erstaunliche Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen. Der Verfasser fragt aber auch nach der Macht und Zukunft der Monarchie als Staatsform. Im 19. Jahrhundert sei es der Monarchie über alle sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche hinweg gelungen, sich gleichzeitig als Bewahrer von Tradition und Impulsgeber für Reformen zu inszenieren. Dadurch konnte die Staatsform stabilisiert werden, wobei den Thronfolgern als Hoffnungsträgern eine zentrale Rolle zukam, Müller spricht von „Europas royaler Spätblüte“ (S. 14). Gerade darauf aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst dieses Bandes. Müller betont, dass der Untergang der mitteleuropäischen Monarchien 1918 nicht zwangsläufig war, hatte diese Staatsform nicht zuletzt durch ihre Thronfolger im langen 19. Jahrhundert ihre Anpassungsfähigkeit und Reformierbarkeit angesichts veränderter Zeitumstände bewiesen. Noch 1918 waren gerade viele Sozialdemokraten Anhänger eines reformierten Volkskönigtums. Der Band wird durch ein ausführliches Personenregister erschlossen und durch aussagekräftige Abbildungen illustriert. Es ist ein intelligentes Buch, es ist ein gut lesbares Buch und es ist ein Buch mit Anregungen zu weiteren Forschungen – es ist vor allem auch ein Buch, das die Notwendigkeit und den Nutzen der Monarchieforschung aufzeigt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension