Cover
Titel
Juden in Mecklenburg 1845–1945. Lebenswege und Schicksale. Ein Gedenkbuch. 2 Bde.


Autor(en)
Buddrus, Michael; Fritzlar, Sigrid
Herausgeber
Institut für Zeitgeschichte München-Berlin; Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern
Anzahl Seiten
1.480 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nadine Garling, Stralsund

Namentlich und mit konkretem Ortsbezug an die Opfer der Shoa zu erinnern, ist Ausgangspunkt vielfältiger Erinnerungsprojekte und -zeremonien. Dazu zählen die Verlegungen von Stolpersteinen und die an Gedenktagen im öffentlichen Raum vorgelesenen Namen ermordeter Juden und Jüdinnen oder auch die vor kurzem in einer Kunstaktion mit Kreide auf die Straße aufgemalten Namen deportierter Frankfurter Juden und Jüdinnen. Auch die Toten- und Gedenkbücher für die Opfer der Shoa mit ihren Namensverzeichnissen gehören zu dieser Form der biografischen Erinnerungskultur.

Über 500 solcher Gedenkbücher liegen bisher vor, wobei sich die meisten von ihnen den Ermordeten in einzelnen Städten widmen. Ein besonders umfangreiches Gedenkbuch zu den Juden und Jüdinnen in Mecklenburg haben die Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern und das Institut für Zeitgeschichte München–Berlin herausgegeben. Nach Baden-Württemberg ist dies deutschlandweit erst das zweite Gedenkbuch für ein Flächenbundesland. Das Autorenteam um Michael Buddrus und Sigrid Fritzlar wollte ein Gedenkbuch „der etwas anderen Art“ vorlegen (Bd. 1, S. 14). Die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Mecklenburg wird in einem großformatigen, zweibändigen Werk auf insgesamt 1.480 Seiten dargestellt. Darin beschränken sich die Autoren und Autorinnen nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern betrachten die Jahre zwischen 1845 und 1945.

In ihrer Einleitung begründen Buddrus und Fritzlar die Ausweitung ihres Untersuchungszeitraums damit, dass im Jahr 1845 die Zahl der Juden und Jüdinnen in Mecklenburg, also in den Herzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, mit etwa 4.150 einen Höchststand erreicht hatte. Viele von ihnen waren bereits vor den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten in größere Städte umgezogen.

Der erste Band versteht sich als thematische Einführung und dokumentiert die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Mecklenburg und insbesondere ihre Entrechtung und Ermordung nach 1933. Dabei befassen sich die ersten 150 Seiten der Reihenfolge nach mit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in Mecklenburg, mit Geburtsorten und der Namensgesetzgebung, mit der Erwerbstätigkeit und im Besonderen mit jüdischen Medizinern, Juristen, Studenten und Soldaten, mit Mischehen, Kindern und Kindersterblichkeit, mit jüdischen Schulen und „Ostjuden“. Es folgt ein Kapitel zur Struktur der jüdischen Landesgemeinden, bevor die Autoren und Autorinnen die jüdischen Gemeinden und Wohnorte mit der Zahl jüdischer Einwohner und Einwohnerinnen, der Nennung von Institutionen und den Namen der Vorstandsmitglieder einzeln erfassen. Damit werden wichtige Aspekte der Geschichte der mecklenburgischen jüdischen Gemeinden von ihrer Gründung bis zur Auflösung, ihre Synagogen und Friedhöfe beschrieben.

Den Hauptteil des ersten Bandes aber bilden die antijüdischen Maßnahmen im nationalsozialistisch geprägten Mecklenburg, die stets in Beziehung zu deutschlandweiten Entwicklungen und Zahlen gesetzt werden. Die „Judenkartei“ in Mecklenburg, die Novemberpogrome von 1938, Deportationen, Auswanderung, Zwangsarbeit, Opfer der NS-Euthanasiemorde, Selbsttötungen und Überleben im Untergrund sowie die Haft-, Sterbe- und Todesorte von Juden und Jüdinnen aus Mecklenburg bilden einzelne Kapitel.

Der zweite Band dokumentiert alphabetisch geordnet die Namen, Geburtsdaten, Geburtsorte, Wohnorte, Berufe und Informationen zu Migration, Emigration und Deportationswegen sowie die Todesdaten und Todesorte der jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen Mecklenburgs. Erfasst wurden diejenigen Juden und Jüdinnen, die zwischen 1845 und 1945 geboren wurden, die in dieser Zeit zumindest phasenweise in Mecklenburg lebten und „die Juden aus eigener Herkunft und aus eigenem Bekenntnis waren, sowie Personen, die von den Nationalsozialisten als Juden bezeichnet“ wurden (Bd. 2, S. 2). Insgesamt handelt es sich um 7.213 Personen. Die Kurzbiografien sind mit fast 1.200 Fotografien wie Porträts, Abbildungen von Grabsteinen und Dokumenten versehen worden.

Ausgangspunkt der sehr breit angelegten Forschungen waren die Bestände im Landeshauptarchiv in Schwerin und im Landesarchiv in Greifswald sowie die Residentenliste im Bundesarchiv, relevante Akten im Finanzministerium und im Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen. Darüber hinaus durchforsteten die Autoren und Autorinnen auch über 255 Standesämter, mehr als 210 Landes-, Staats-, Regional-, Kreis-, Stadt-, Verwaltungs-, Kirchen- und Amtsarchive, Bestände in einigen Gedenkstätten und Museen und werteten zahlreiche Internetplattformen und Datenbanken aus. Die Rechercheergebnisse flossen in eine zentrale Datenbank ein, die für jede einzelne Person über 50 Datenfelder vorsah. Aus dieser Datenbank wurde der Text des zweiten Bandes in Form von weitgehend formalisierten Kurzbiographien generiert, die längst nicht alle erfassten Daten enthalten. Einerseits aus Gründen der Gleichwertigkeit der Biographien, andererseits auch zum Schutz von Persönlichkeitsrechten wurden viele Angaben aus der Datenbank nicht in den gedruckten Text übernommen.1

Das Gedenkbuch ist in vierjähriger Forschungsarbeit entstanden und arbeitet detailliert zahlreiche Aspekte des jüdischen Lebens in Mecklenburg auf, wie die Herkunft und Bildung der Menschen, die Sozial- und Berufsstrukturen oder Migrationen und Auswanderungen. Die Erzählung persönlicher Schicksale wird durch zahlreiche statistische Auswertungen und Tabellen ergänzt. Informationen zum Forschungsstand und zu genutzten Quellen, ein ausführlicher Fußnotenapparat und ein Ortsregister können weitere regionalgeschichtliche Studien, lokale Erinnerungsprojekte und genealogische Arbeiten anregen. Anhand der Wohnorte werden auch Migrationsbewegungen dokumentiert und im Ortsregister erfasst, wodurch das Gedenkbuch auch für personenbezogene Forschungen außerhalb von Mecklenburg relevant ist, wenn es beispielsweise um die aus oder nach Stettin, Stralsund, Lübeck, Hamburg oder Berlin zugezogenen Juden und Jüdinnen geht.

Zweifelsohne ist den Autoren und Autorinnen mit dem Mecklenburger Gedenkbuch eine sehr verdienstvolle, quellendichte und detailreiche Arbeit gelungen. An vielen Stellen geht jedoch die Detailgenauigkeit auf Kosten der Lesbarkeit – vor allem wenn als Zielgruppe Schüler und Schülerinnen und an Regionalgeschichte Interessierte anvisiert werden. Eine hohe Dichte an Zahlen, Paragraphen und Abkürzungen unterbricht oftmals den Lesefluss. Außerdem überrascht die Übernahme von Terminologien aus der NS-Rassenpolitik ohne besondere Kenntlichmachung, wenn auch die Autoren und Autorinnen in ihrer Einleitung ihre Vorgehensweise unter anderem mit sprachökonomischen und drucktechnischen Gründen erklären. Folgender Satz aus dem Kapitel zur Zwangsarbeit soll hier stellvertretend stehen: „Für eine Verwendung bzw. eine Behandlung der jüdischen Mischlinge war jedoch immer noch keine klare Konzeption vorhanden.“ (Bd. 1, S. 501) An solchen Stellen wären Anführungszeichen und eine weniger technokratische Ausdrucksweise zum Schicksal der jüdischen Menschen wünschenswert gewesen.

Besonders zahlenorientiert und wenig anschaulich und empathisch formuliert ist das Kapitel zu den Novemberpogromen, das zerstörte Synagogen und Geschäfte sowie die Inhaftierungen von jüdischen Männern und Frauen behandelt. So nehmen die Informationen zu den Zerstörungen der mecklenburgischen Synagogen nur eine Dreiviertelseite ein, während die statistische Darstellung der Verhaftungen von 180 Personen allein zehn Seiten umfasst und mit einer „ambivalenten Bilanz“ endet, was die Emigration der verhafteten Juden und Jüdinnen aus Mecklenburg betrifft (Bd. 1, S. 368).

Überhaupt scheint es den Autoren und Autorinnen zentral zu sein, Bilanzen zu ziehen, Zahlen zu nennen und diese statistisch auszuwerten. Ein sensiblerer Sprachgebrauch, der die Personen nicht als Fälle oder Objekte in Zahlen, sondern als handelnde Subjekte begreift, deren Schicksal nicht mit den Begriffen einer erfolgreichen oder erfolglosen Emigration erfasst werden kann, wäre hier gerade in Anbetracht der Gesamtkonzeption des Buches wichtig gewesen.

Ein Bereich, in dem die statistische Erfassung von Daten besonders sinnvoll gelungen ist, ist der Abschnitt zur sogenannten „Judenkartei“, in dem die Autoren und Autorinnen bisher unbekannte Quellen verdichten und Täter vor Ort benennen, womit sie nachweisen können, wie Nationalsozialisten auf regionaler Ebene Datenmaterial zusammentrugen, das dann als Grundlage für die systematische Verfolgung und Deportation von Juden und Jüdinnen diente.

Trotz der kritischen Anmerkungen ist das Gedenkbuch für die mecklenburgischen Juden und Jüdinnen ein wichtiger Beitrag zur jüdischen Geschichtsschreibung in Mecklenburg-Vorpommern, wobei für das heutige Vorpommern eine eigene Untersuchung noch aussteht. Wünschenswert wäre ebenfalls eine Online-Version des Gedenkbuches, wie es beispielsweise vom Bundesarchiv oder vom NS-Dokumentationszentrum in Köln vorliegt. Das würde auch die Suchmöglichkeiten und Recherchen für Nutzer und Nutzerinnen zum Beispiel bei ortsbezogenen Studien deutlich erleichtern und wäre aufgrund der bereits erstellten zentralen Personendatenbank sicher gut zu realisieren.

Anmerkung:
1 Auch wenn die Datenbank nur archivintern genutzt werden kann, werden Interessierte ausdrücklich dazu ermuntert, Anfragen zu weiteren personenbezogenen Angaben an die Autoren und Autorinnen zu richten, per Mail u.a. an buddrus@ifz-muenchen.de, S.Fritzlar@lakd-mv.de oder an kontakt@geschichtswerkstatt-rostock.de.

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