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Titel
Justice Behind the Iron Curtain. Nazis on Trial in Communist Poland


Autor(en)
Finder, Gabriel N.; Prusin, Alexander V.
Reihe
German and European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
$ 27.71
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Strafverfahren gegen einheimische „Kollaborateure“, „Spione“ sowie große und kleine Funktionsträger des NS-Besatzungsregimes waren in den ersten Nachkriegsjahren in fast allen ostmitteleuropäischen Nachkriegsstaaten an der Tagesordnung. In der Osteuropa- und Kommunismusforschung wird die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Prozesse oftmals darin gesehen, dass sich in ihnen verschiedene Zielsetzungen der kommunistischen Wiederaufbauprojekte miteinander verknüpfen ließen, namentlich die Befriedigung eines weit verbreiteten Rufs nach kollektiver und individueller Vergeltung „von unten“ und die beabsichtigte sozio-ökonomische Umwälzung „von oben“. Dessen ungeachtet fehlt es aber für viele dieser Länder weiterhin an fundierten Gesamtdarstellungen, die sich mit dem durchaus schwierigen Verhältnis von politisch-ideologischen Steuerungsversuchen und den „eigensinnigen“ Realitäten des Justizbetriebs beschäftigen. Auch haben sich bislang nur wenige Forscher für die Frage interessiert, wie sich das Zusammenspiel von transnationalen Einrichtungen des Völkerstrafrechts (United War Crimes Commission, Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal) und nationalen Kriegsverbrecherpolitiken auf die Vorbereitung und Durchführung einzelner Prozesse ausgewirkt hat.

Mit der Studie von Gabriel N. Finder und Alexander V. Prusin liegt nun eine Arbeit vor, die auf der Grundlage ausgewählter Nachkriegsprozesse gegen nationalsozialistische Haupttäter ein umfassendes und detailreiches Bild der juristischen Aufarbeitung im kommunistisch regierten Polen zeichnet.1 Untersuchungszeitraum sind die Jahre zwischen 1944 und 1959, eine Phase, in der die polnische Justiz nach Meinung der Autoren mit zum Teil erheblicher Energie und großer Härte gegen NS-Tatverdächtige vorgegangen sei.

Als erster Anhaltspunkt für die Hypothese, Polen habe im ostmitteleuropäischen Vergleich zu den Spitzenreitern dieser strafrechtlichen Abrechnung gezählt, dienen zeitgenössische Justizstatistiken. Laut Finder und Prusin könne bislang von einer Gesamtzahl von knapp 17.000 Verurteilungen ausgegangen werden; davon betrafen 12.000 Urteile tatsächliche oder imaginierte polnische „Feinde“ des Regimes, während etwa 5.500 Urteile gegen deutsche oder österreichische Staatsbürger wegen Kriegs- und NS-Verbrechen ergangen seien (S. 4f.). Das auffällig asymmetrische Zahlenverhältnis und die Belastbarkeit des statistischen Materials werden von den Autoren erstaunlicherweise nicht weiter problematisiert.2

Vielmehr geht es ihnen vor allem darum, die genaueren Umstände, Maßstäbe und Verfahrensweisen zu erkunden, die gegenüber der wesentlich kleineren Gruppe „echter“ NS- und Kriegsverbrecher zum Tragen gekommen seien. Entgegen einer oft vorgebrachten Kritik an den rechtlichen Grundlagen und der Integrität der polnischen Nachkriegsverfahren wollen sie zeigen, dass deren juristische und moralische Standards in der Mehrzahl durchaus denen westlicher NS-Prozesse geglichen hätten. Nur ausnahmsweise habe sich die polnische Justiz der Methoden und Muster stalinistischer Schauprozesse bedient (S. 6).

Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Behandlung des Holocaust durch die polnischen Sicherheitsorgane, Staatsanwaltschaften und Gerichte. In Anknüpfung an die zeitgeschichtliche Kontroverse um die Repräsentation des Judenmords in den Nürnberger Prozessen plädieren Finder und Prusin für eine nuanciertere Betrachtung der polnischen Verfahren. Trotz aller Versuche seitens der offiziellen kommunistischen Erinnerungspolitik, die Unterschiede in der Behandlung ethnischer Polen und polnischer Juden einzuebnen, seien die Justizbehörden dieser Linie zumeist nicht gefolgt. Tatsächlich hätten polnische Gerichte dem – damals nicht so bezeichneten – Holocaust nicht nur dadurch Raum gegeben, dass sie auf Beweismittel, Zeugenaussagen und Gutachten jüdischer Experten zurückgriffen. Vielmehr sei, so die Autoren, vielfach der Versuch unternommen worden, die Massenverbrechen an der jüdischen Minderheit Polens selbst in den Mittelpunkt der Verfahren zu stellen (S. 7).

Grundsätzlich besticht die chronologisch gegliederte Untersuchung durch Materialreichtum, hohe Anschaulichkeit und die Genauigkeit, mit der sich die beiden Autoren3 um die Rekonstruktion der behandelten Einzelverfahren bemüht haben. Zudem gelingt es ihnen in beeindruckender Weise, ihr Hauptargument einer zentralen Bedeutung und hohen Sichtbarkeit des Judenmords mit einer Fülle von Quellen empirisch zu untermauern. So arbeiten sie anhand von Fallbeispielen wie dem Verfahren gegen Hans Biebow (1947), den Prozessen gegen Amon Göth (1946) und Rudolf Höss (1947) sowie dem späten Schauprozess gegen Erich Koch (1959) heraus, wie die Shoa in Polen in eine übergreifende nationale Verfolgungserzählung integriert wurde, ohne hinter dieser zu verschwinden. Im Gegensatz zu den sowjetischen Prozessen, in denen das Sonderschicksal der jüdischen Staatsbürger bis zur Unkenntlichkeit verwischt wurde, legten polnische Justizbehörden Wert darauf, sowohl die Erfahrungen als auch die Expertise jüdischer Prozessbeteiligter erkennbar einzubeziehen und zur Überführung der deutschen Angeklagten zu nutzen. In einem eigenen Kapitel charakterisieren Finder und Prusin das „enge Arbeitsverhältnis“ zwischen der Strafjustiz und jüdischen Prozessbeteiligten, das sich im Zuge der Nürnberger Anklageerhebung (an der Polen über die Sowjetunion involviert war) und in nationalen Prozessen herausgebildet habe, als außergewöhnlich und einzigartig, wenn man es im gesamteuropäischen Rahmen betrachtet (S. 212).

Folgt man den wesentlichen Befunden der Untersuchung, agierte die polnische Nachkriegsjustiz im Umgang mit deutschen Besatzungsverbrechen weitgehend frei von politisch-ideologischen Vorgaben. Auch von einer pauschalen Marginalisierung des Holocaust in polnischen Nachkriegsprozessen kann nach Einschätzung der Autoren schwerlich die Rede sein. Angesichts der Tatsache, dass dies mit einer weitreichenden Neubewertung des Gesamttableaus nationaler NS- und Kriegsverbrecherprozesse und mit Aussagen zu deren Stellenwert im internationalen Vergleich verknüpft wird, bleiben jedoch klärungsbedürftige Fragen. So machen Finder und Prusin verschiedentlich darauf aufmerksam, dass sich die relativ offene Thematisierung des Judenmords in den polnischen Gerichtssälen in einem politisch-gesellschaftlichen Umfeld abspielte, das durch das verstärkte Aufkommen antisemitischer Ressentiments und Gewalt gegen Juden gekennzeichnet war (S. 126). Obwohl der Nationale Sicherheitsrat im August 1946 über ein Dekret zur strafrechtlichen Verfolgung antisemitischer Hassverbrechen debattierte, trat dies niemals in Kraft. Auch wenn es zutrifft, dass Vertreter der Strafjustiz populären Vorstellungen einer Opferkonkurrenz zwischen Juden und nicht-jüdischen Polen entgegenzuarbeiten suchten, weiß man aus anderen osteuropäischen Ländern, dass gerade die Prozesse und die sie begleitende Berichterstattung solche judenfeindlichen Stimmungen auslösen oder verstärken konnten. Das verdienstvolle Buch von Finder und Prusin regt daher dazu an, die schon seit Langem geforderte Einbindung der Nachkriegsprozesse in eine gesellschaftspolitische Gesamtgeschichte Ostmitteleuropas voranzutreiben und dabei die Ambiguität der strafrechtlichen Abrechnung im Blick zu behalten.

Anmerkungen:
1 Eine erste konzise Übersicht zu den normativen und strukturellen Grundlagen der verschiedenen strafrechtlichen Kerninstrumente bietet Włodzimierz Borodziej, „Hitleristische Verbrechen“. Die Ahndung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Polen, in: Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 399–437.
2 Ähnlich wie es in Bezug auf die SBZ/DDR der Fall ist, stammen Ermittlungs- und Verurteilungszahlen überwiegend aus zeitgenössischen Statistiken, die die Konsequenz der kommunistischen Machthaber im Umgang mit Besatzungsverbrechen herausstellen sollten.
3 Der Ko-Autor Alexander V. Prusin, ein herausragender Spezialist auf dem Gebiet der osteuropäischen NS-Prozesse, verstarb leider völlig unerwartet im August 2018.

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