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Titel
Die Medien der Börse. Eine Wissensgeschichte der Berliner Börse von 1860 bis 1933


Autor(en)
Richter, Katrin
Reihe
Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie 42
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Weininger, SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Eberhard Karls Universität Tübingen; Christoph Dominik Blum, SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Eberhard Karls Universität Tübingen

Katrin Richter legt mit Die Medien der Börse. Eine Wissensgeschichte der Berliner Börse von 1860 bis 1933 ihre Dissertation an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin vor. Sie verfolgt darin das Ziel, die Geschichte der Berliner Börse von 1860 bis 1933 aus kulturwissenschaftlicher und medienhistorischer Sicht zu erzählen (S. 7). Hierfür zieht sie eine Vielzahl von Quellen aus verschiedenen Gattungen heran und illustriert den Text mit 201 Abbildungen. Mit ihrer Untersuchung reiht sich Richter in das weite Feld wissensgeschichtlicher Untersuchungen der letzten Jahre ein. Auch der Finanzplatz Berlin war seit den 2000er-Jahren Untersuchungsgegenstand zweier größerer Arbeiten – dem Sammelband Hans Pohls aus dem Jahr 20021 und der Monographie Annett Ullrichs von 2005.2 Richter wagt sich nun an die Synthese aus wissens- und börsengeschichtlicher Forschung, was ihre Untersuchung spannend und vielversprechend macht.

Ihre Analyse gliedert Richter in fünf Teile, dazu ein Vorwort und einen Epilog sowie ein Resümee und einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten des Themas. Die fünf Hauptkapitel sind chronologisch angeordnet, in den Unterkapiteln widmet sie sich bestimmten Aspekten, wie unter anderem Raum, Medien und technischen Innovationen. Die zeitliche Grenzziehung erfolgte nach „baulichen und medieninnovativen Zäsuren“ (S. 16). Jedem Kapitel gehen eine etwa halbseitige Einführung und Zusammenfassung voran, die die Analyse des Kapitels kurz und prägnant auf den Punkt bringen.

Methodisch folgt sie, das führt Richter aus, einem medienhistorischen und kulturwissenschaftlichen Argumentationsweg. Sie betont aber auch ihren interdisziplinären Ansatz, indem sie Konjunkturforschung, politische Ökonomie, Wirtschafts- und Technikgeschichte sowie Rechtswissenschaften heranzieht (S. 17).

Das erste Kapitel (S. 9–18) beschäftigt sich mit der „Wiederentdeckung der Berliner Börse“ und dient als Einleitung, in der recht knapp auf den Forschungsstand sowie Forschungsfragen und Methodik eingegangen wird. Richter stellt die Bedeutung der Berliner Börse sowohl als Symbol der Bismarck‘schen Wirtschaftspolitik, als auch als Ort der technischen Innovationen heraus. Die vier Forschungsfragen der Arbeit richten sich erstens an die Mediengeschichte, zweitens an die Rolle von Störungen und Problemen von neuen Medien und den räumlichen Gegebenheiten sowie drittens an deren Auswirkungen auf gesetzgebende Verfahren und Handelstechniken und viertens an die Bedeutung börsenrelevanter technischer und kommunikativer Innovationen für die Herausbildung des deutschen Nationalstaats (S. 15).

Faszinierend ist sodann das zweite Kapitel „Ein Gebäude ersteht (1863)“ (S. 19–98), in dem Richter die Grundsteinlegung, Finanzierungsstrategie, Bauphase und Eröffnung der Berliner Börse anhand von visuellen Quellen wie Gemälden, Karikaturen und Bauzeichnungen analysiert. Die gründliche Analyse von Karikaturen in der Berliner Börsenzeitung (S. 89–91) würde sich in der akademischen Lehre durchaus als Beispiel für Studierende zum Umgang mit visuellen Quellen anbieten. Zudem wird dadurch die Bedeutung von Printmedien für die Berliner Börse deutlich gemacht. Anhand von zeitgenössischen Zeichnungen und Berichten über die Feiern zur Grundsteinlegung (1860) sowie zur Eröffnung des Gebäudes (1863) kann Richter darüber hinaus überzeugend darlegen, wie die Börse zu einem „Ausdruck für die Nationale Idee“ wurde (S. 69).

Im dritten Kapitel „Zeit der höchsten Prioritäten (1884)“ (S. 99–174) untersucht Richter anhand von zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen Fragestellungen zum Verhältnis von Staatsschuld und Steuerpolitik. Bismarcks Politik und Gesetzesänderungen führten zu Problemen und Unsicherheiten an der Börse, die Kaufmannschaft bemühte sich daher um eine größere Selbstverwaltung der Börse sowie um Standardisierungen bei der Berichterstattung über ihre Angelegenheiten. Diese Entwicklungen schufen neue Informationskanäle und eine neue Medienöffentlichkeit. Wie auch im vorangegangenen Kapitel zeigt Richter hier einige interessante Ideen auf, so wie die Ansätze einer Netzwerkanalyse, die die Verflechtung von Akteuren aus Wirtschaft und Finanzwesen und der Regierung deutlich macht (S. 108).

Den rechtlichen Aspekten und Reformen widmet sich das vierte Kapitel „Alles wird Gesetz (1912)“ (S. 175–240). Ein besonderer Stellenwert kommt dem Börsengesetz von 1896/1908 zu sowie der Börsen-Enquete-Kommission, die 1892 ins Leben gerufen wurde. Richter zeigt die Reformbestrebungen in der wilhelminischen Epoche auf und zeichnet nach, wie die Berliner Börse sich von einer europäischen zu einer internationalen Transitzone wandelte, wozu vor allem Verbesserungen im Telegrafenverkehr maßgeblich beitrugen. Richter wirft den Blick nicht nur auf die Ausweitung der wirtschaftlichen Vernetzung, sondern behandelt außerdem die kolonialen Bestrebungen der Deutschen im damaligen Süd-West-Afrika und den Völkermord an den Herero und Nama. Ihre Engführung auf rein wirtschaftliche Interessen – nämlich die der Berliner Börse, Kolonialanleihen anbieten zu können – vereinfacht jedoch die komplexen Sachverhalte (S. 197).

Das abschließende Kapitel „Die Börse tickt (1922)“ (S. 241–300) beschäftigt sich mit den Veränderungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Neben den politischen Neuerungen hatten technische Modernisierungen – wie die Ausstattung mit elektrischem Licht, einem elektrischen Kursanzeiger und einem Tickerdienst – langfristige Auswirkungen. Eine weitere Innovation lag in der Entwicklung von Finanzmodellen, die eine Modellierung der Zukunft ermöglichten und „in die Mathematisierung der ökonomischen Theorie mündete[n]“ (S. 287). Sehr knapp werden die Entwicklungen an der Börse in Folge der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschildert. Richter geht zwar auf den Ausschluss jüdischer Börsianer sowie die „Verdeutschung“ des Börsenvokabulars ein (S. 299), versäumt jedoch die tiefergehende Analyse ihrer visuellen Quellen und nutzt antisemitische Karikaturen lediglich zur Illustration.

Ein kurzer Epilog geht auf die Zerstörung der Berliner Börse durch einen Bombenangriff im Jahr 1944 ein. In Resümee und Ausblick stellt Richter abschließend die Frage: „Welche Mediengeschichte erzählt die Berliner Börse?“ Als Antwort auf diese spannende Frage liefert sie dann allerdings nur die etwas unbefriedigende Antwort: „Die Berliner Börse ist nicht denkbar ohne Medien.“ (S. 307) Im Ausblick verweist Richter schließlich auf Aspekte, die ihr Buch nicht leisten konnte, die jedoch für die weitere Forschung interessant sind, wobei sie vor allem auf die Rolle von Frauen an der Börse eingeht (S. 308f.).

Ohne Zweifel ist es bei einer wissensgeschichtlichen Untersuchung der Berliner Börse wohl unvermeidbar, dass der Untersuchungsgegenstand sehr weit gefasst werden muss. Richter versucht dem gerecht zu werden, indem sie sich mit einer beeindruckenden Anzahl verschiedener Aspekte auseinandersetzt. Dies zieht allerdings nach sich, dass die Analyse einiger wichtiger Themen etwas zu kurz kommt. Viele gute Analyseansätze geraten durch ausführliche anekdotische Erzählungen in den Hintergrund, was auch dazu führt, dass der rote Faden mitunter verloren geht. So beschreibt Richter zwar ausführlich die Räume der Börse, verpasst aber die Chance, hier methodisch klar auf die Bedeutung der Raumsoziologie einzugehen. Ähnlich ist es auch mit der Masse an Bildern, deren häufig rein illustrativer Einsatz die gute Quellenarbeit zu Beginn des Buches abschwächt.

Versucht man diese Arbeit zu bewerten, so fällt das Urteil zwiespältig aus. Auf der einen Seite stehen gelungene Analysen des üppigen Bildmaterials. Auf der anderen Seite mangelnde theoretische Reflexion und Deskriptivität. So erstaunt es ob des Titels der Arbeit sowie der Betonung des medienhistorischen Ansatzes in der Einleitung, dass eine Definition sowohl von Wissensgeschichte als auch von Medium unterbleibt. Das Fehlen von Definition und (theoretischer) inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Analysekategorien „Medien“ und „Wissen“ zieht sich folglich durch weite Teile des Buchs, was auch die stellenweise unscharfe und wenig tiefgreifende Analyse erklärt.

Katrin Richters Buch skizziert neben ihrem umfangreichen Wissen über die Berliner Börse gute Grundideen. Eine Wissens- und Mediengeschichte der Börse ist eine wichtige Untersuchungsperspektive, die es so bisher nicht gab. Man muss Richter ihre vielseitige Quellenauswahl hoch anrechnen, die viele neue Perspektiven auf die Geschichte der Börse erlaubt. Leider wird der methodische Rahmen der Informationsmenge nicht immer gerecht. Das Buch könnte viel leisten, löst aber das Versprechen leider nur in Teilen ein. Positiv festzuhalten ist aber die Erweiterung des Quellenbestandes, die Richter vornimmt. Diese bietet zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungen.

Anmerkungen:
1 Hans Pohl (Hrsg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002.
2 Annett Ullrich, Finanzplatz Berlin. Entstehung und Entwicklung. Eine theoriengeleitete historisch-empirische Analyse, Sternenfels 2005.

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