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Titel
Bildung im kaiserzeitlichen Alexandria. 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr.


Autor(en)
Holder, Stefanie
Reihe
Historia-Einzelschriften 253
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
517 S.
Preis
€ 94,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Hartmann, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Alexandreia mit seiner berühmten Bibliothek im Museion ist zweifellos weit über die Grenzen der Altertumswissenschaften als eines der bedeutendsten antiken Bildungszentren bekannt. Die Welt der alexandrinischen Gelehrten im Hellenismus und in der Spätantike ist daher bereits gut erforscht. Die dazwischenliegende Kaiserzeit vom 1. bis zum 3. Jahrhundert n.Chr. stand dagegen bislang im Schatten der Forschung, eine Untersuchung stellte ein Desiderat dar. Dieses Desinteresse resultierte aus dem Umstand, dass sich für das kaiserzeitliche Alexandreia kaum Namen berühmter Sophisten oder Philosophen ausmachen lassen, die hier lehrten; wesentliche Forschungsimpulse gingen in dieser Periode offenbar nicht von der ägyptischen Metropole aus. Mit ihrer Göttingener Dissertation schließt nun Stefanie Holder diese Forschungslücke in herausragender Weise. Zur Erforschung der Bedeutung der paideia in Alexandreia in der Kaiserzeit trägt sie nicht nur die literarischen Zeugnisse über Gelehrte in der Stadt und wichtige literarische Texte zusammen, die in dieser Periode hier entstanden, sie wertet auch alle epigraphischen und papyrologischen Quellen umfänglich aus; insbesondere die Papyri geben eine Fülle an interessanten Informationen zu Lehrern und Gelehrten in Alexandreia und der Chora sowie über den Bildungsbetrieb und den Wissensstand in Ägypten.

In der Einleitung (S. 13–22) steckt Holder den Rahmen der Untersuchung ab und beschreibt den Forschungsstand. Sie konzentriert sich auf den griechischen Bildungsbetrieb; die Bildungskultur der einheimischen Ägypter und der jüdischen Gemeinde sowie die christlichen Schulen und gelehrte Bischöfe werden nicht betrachtet; Philon wird so nur als griechischer Autor in einer hellenischen Umwelt analysiert. Dezidiert möchte sie gegen das Forschungsparadigma argumentierten, das die Kaiserzeit als eine Periode des Niedergangs und Verfalls des Bildungsbetriebs in Alexandreia wertet. Auch eine reichsweit einheitliche Struktur des Bildungsbetriebs, die Marrou vertrat, lehnt sie zu recht ab. Im ersten Kapitel (S. 23–78) klärt Holder den Begriff der griechischen Bildung und grenzt ihn von modernen Bildungskonzepten ab. Dabei wird das in der Kaiserzeit noch nicht fest ausgeformte Konzept der enkyklios paideia (artes liberales) erläutert, die als Voraussetzung für eine philosophische Ausbildung galt. Holder unterscheidet die paideia einer privaten intellektuellen Ausbildung als Rhetor, Sophist oder Philosoph von einer paideia tou eleutheriou, der Ausformung einer ethischen Haltung der politischen Führungsschicht. Sie betont zudem, dass Rhetorik und Philosophie in der Kaiserzeit nicht immer scharf zu trennen seien; auch eine Abgrenzung von ‚Rhetor‘ und ‚Sophist‘ sei schwierig, der Rhetor übernehme tendenziell eher administrative Aufgaben in der Stadt oder der Provinz, der Sophist sei eher im Kontext der Kultur und des Bildungsbetriebs zu verorten.

Im zweiten Kapitel betrachtet Holder den Charakter und die Organisation des Museions (S. 79–224) und argumentiert überzeugend gegen die These, das Museion sei in der Kaiserzeit eine Forschungseinrichtung oder ‚Universität‘ gewesen; dieses Kapitel stellt damit zweifellos den wichtigsten Abschnitt der Arbeit dar. In einer detaillierten prosopographischen Analyse aller bezeugten Mitglieder arbeitet Holder heraus, dass das Museion im Palastviertel Bruchion 1 in der Kaiserzeit keine Forschungseinrichtung (wie im Hellenismus) mehr gewesen sei, sondern sich „zum exklusivsten Club der Stadt“ (S. 223) unter kaiserlicher Verwaltung entwickelt habe. Unter den 25 oder 26 Mitgliedern des synhodos des Museions, die Steuerfreiheit genossen und Getreidezuschüsse erhielten, finden sich nur sechs litterati, wobei der Dichter Pankrates, der Redner Dionysios von Milet 2 und der Sophist Polemon von Smyrna diese Mitgliedschaft als Ehrung durch Hadrian verliehen bekamen; diese Gelehrten forschten also nicht in Alexandreia. In der Liste finden sich Dichter, Sophisten und Philosophen, es fehlen aber Vertreter der Grammatik, Mathematik, Physik, Medizin und Mechanik. Die bezeugten 19 oder 20 „nichtwissenschaftlichen“ Mitglieder, darunter auch der bekannte Pankratiast Asklepiades, erhielten diese Ehrenstellung als verdiente Verwaltungsbeamte; einige der Geehrten waren sogar römische Bürger oder Ritter. Festangestellte Forscher lassen sich somit in der Kaiserzeit nicht mehr ausmachen. Wie andere Musenheiligtümer war das Museion in dieser Periode mithin eher eine Zusammenkunft angesehener Angehöriger der provinzialen Oberschicht und verdienter litterati. Hinweise auf Lehrbetrieb am Museion finden sich nicht; die Lehrer in Alexandreia unterrichteten an privaten Schulen. Die kaiserzeitlichen Fachgelehrten und Privatlehrer nutzten aber die große Bibliothek im Museion. Holder kann aufzeigen, dass die in der Forschung oft unterstellten größeren Schäden an der Bibliothek durch den Brand unter Caesar nicht wahrscheinlich sind. Ob der Leiter des Museions, ein vom Kaiser ernannten römischer Ritter mit dem Titel epistates tou Mouseiou (wohl eher ein curator supra Museum Alexandreae als ein procurator), und der Leiter der Bibliothek zwei getrennte Posten waren, bleibe unsicher. Das Ende des Museions und der großen Bibliothek verbindet Holder mit der Zerstörung des Bruchion im Jahr 271 „durch Aurelian“ (S. 137, 208f. u. 222).3 Sie zweifelt daher an der Angabe in der Suda (Θ 205), in der der Mathematiker Theon als letztes Mitglied des Museions Ende des 4. Jahrhunderts erwähnt wird (S. 135–140); meines Erachtens ist es jedoch nicht unwahrscheinlich, dass das Museion auch nach der Zerstörung des Bruchion bis zur Zerstörung des Sarapeions 391/92 und der dortigen Bibliothek weiterexistierte.4

Das kurze dritte Kapitel (S. 225–246) untersucht den „Zugang zu Fächerwissen und dessen soziale Funktion“, also den kaiserzeitlichen Lehrbetrieb in Alexandreia, über den aber nur wenige Informationen vorliegen, so dass Holder weiter ausgreifen muss. So zeigt sie anhand papyrologischer Quellen, dass in der ägyptischen Chora vielfach Bibliotheken mit guten Beständen vorhanden waren und junge Schüler hier eine gediegene Wissensbasis erwerben konnten. Ein junger Rhetoriklehrer habe seine Karriere im allgemeinen in einer Landstadt begonnen, bevor er dann in die Metropole gegangen sei. Da Quellenmaterial für Alexandreia fehlt, erörtert Holder in diesem Abschnitt auch die reichsweiten Privilegien für Lehrer, die sicherlich auch die Lehrer in Alexandreia genossen.

Im vierten Kapitel (S. 247–357) betrachtet Holder das Verhältnis der Bildungsfächer Rhetorik, Philosophie und Grammatik. Anhand der Person des Grammatikers und Rhetors Apion, der vor allem aus der polemischen Schrift des Josephos bekannt ist, zeigt sie auf, dass die Grenze zwischen beiden Fächern nicht scharf zu ziehen ist. Apion war vor allem Grammatiker, seine Gesandtenreisen und seine Reden über Homer für ein breiteres Publikum rücken ihn indes in die Nähe der Zweiten Sophistik. Ausführlich wird dann das Bild der Sophistik und der Rhetorik bei Philon betrachtet, die der jüdische Philosoph nur als Vorstufen zur Erkenntnis einer höheren Wahrheit sieht. Der in Rom mit populärphilosophischen Themen auftretende alexandrinische Redner Aelius Demetrios aus dem Kreis um Favorinus wiederum dient als Fallbeispiel, um die Verwobenheit von Philosophie und Sophistik zu erweisen; inschriftlich geehrt wird der Rhetor nämlich von einer Kooperation alexandrinischer Philosophen. Letztlich lassen sich aber für Alexandreia keine prominenten Sophisten oder Rhetoriklehrer aufzeigen; Philostrat übergeht die Stadt in seinen Sophistenviten weitgehend, die ansonsten hier bezeugten rhetores sind zumeist Anwälte. Auch Auftritte berühmter Sophisten sind in der Stadt kaum belegt: Aelius Aristides besuchte Alexandreia; ob er hier aber auch als Redner auftrat, ist unbekannt. Holder muss daher am Ende des Kapitels festhalten, dass Alexandreia kaum Anteil an der Bewegung der Zweiten Sophistik hatte, einzig Demetrios lässt sich dieser Bewegung zuordnen. Besonderheit des Bildungszentrums sei die große Bedeutung der Fachgrammatik, die als Grundlage aller weiteren Studien galt.

Holder begründet in diesem Kapitel allerdings die Auswahl der besprochenen Gelehrten nicht; auch wird nicht recht deutlich, wie repräsentativ etwa der jüdische Gelehrte Philon für den philosophischen Lehrbetrieb in Alexandreia ist. Es erstaunt zudem, dass die nicht als Museionsmitglieder bezeugten Philosophen und der philosophische Lehrbetrieb in Alexandreia nicht besprochen werden, obwohl doch die Bedeutung der Philosophen im Fazit noch einmal betont wird (S. 449).5 Dass man über sie kaum etwas weiß, kann diese Lücke nicht begründen, da man auch über die meisten anderen von Holder prosopographisch untersuchten Gelehrten und Beamten wenig weiß.

Das fünfte Kapitel (S. 359–448) untersucht die paideia tou eleutheriou: Besprochen werden hier kaiserzeitliche Texte aus Alexandreia, die Aufschlüsse über das Ideal eines Politikers geben; durch diese Texte sei die paideia des politischen Handelns vermittelt worden. Den Acta Alexandrinorum und den Texten des Philon, Dion von Prusa und Appian ist aber letztlich nur gemein, dass sie in Alexandreia entstanden (oder hier vorgetragen wurden) und politische Leitbilder vorstellen. Eine direkte Verbindung zum Lehrbetrieb in Alexandreia oder zur Ausbildung der Angehörigen der lokalen Oberschicht kann hierbei (außer in den Acta Maximi, in der die Gymnasiumsausbildung zur Sprache kommt) meines Erachtens nicht aufgezeigt werden. Die paganen Acta Alexandrinorum, einer auf Papyrus teilweise erhaltenen Sammlung von literarischen Prozessakten, in denen zumeist lokale pagane Politiker aus Alexandreia von ungerechten, leicht beeinflussbaren Kaisern (Claudius und Trajan) wegen ihrer Übergriffe auf die jüdische Gemeinde angeklagt werden, zeigen in der Beschreibung dieser positiven Helden den traditionellen Wertekanon sowie Habitus und Ethos städtischer Magistrate in Alexandreia auf. Sie zeichnen sich durch edle Herkunft, Göttertreue, arete, Selbstbeherrschung und Bildung aus. Die Forderungen nach Selbstverwaltung und der Einrichtung einer Bule für Alexandreia sowie nach Wahrung der Exklusivität des griechischen Bürgerrechts werden deutlich. Philon rechtfertigt die Rechte der jüdischen Gemeinde, betont ihre Loyalität zu Rom und entwirft Moses, Joseph und Abraham als Ideal des politischen Anführers. In seiner Alexandrinischen Rede scheint Dion von Prusa die aufmüpfigen Alexandriner zu kritisieren, betont aber dennoch die Bedeutung der Einrichtung einer städtischen Selbstverwaltung, so sich die (angesehenen) Bürger dieser durch ihre Tugenden als würdig erweisen. Appian zeigt schließlich eher das Ideal einer guten monarchischen Führung für das Reich auf und kritisiert den griechischen Widerstand gegen Rom, der unter dem Deckmantel der Freiheitsliebe auftritt. Der Band schließt mit einem knappen Fazit (S. 449–451), Tabellen zu den Museionsmitgliedern (S. 453–460), einem sehr sorgfältig erstellten Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 461–494) sowie einem detaillierten Personen- und Sachindex (S. 497–517).

Holders Arbeit zeugt von ihrer profunden Kenntnis der literarischen und dokumentarischen Überlieferung, die in hervorragender Weise analysiert wird. Auch die Forschungen zu allen besprochenen Aspekten werden überaus umfänglich ausgewertet. Insbesondere die Kapitel zum Museion und zu den Bildungsfächern stellen einen wertvollen Forschungsbeitrag dar. Aber auch das negative Ergebnis zur Zweiten Sophistik in Alexandreia, dass letztlich die bisherige Forschungsmeinung nur bestätigt, ist ein wichtiger Fortschritt, da es Resultat einer sehr tiefgehenden Analyse aller Zeugnisse ist. Der überaus sorgfältig erstellte wissenschaftliche Apparat erschließt übersichtlich Quellen und Forschung.6 Übersetzungen längerer in Griechisch oder Latein zitierter Quellenpassagen hätten indes die Zugänglichkeit sicher erhöht.

Holders herausragende Monographie schließt nicht nur eine Forschungslücke, sie wird neben den anderen großen Arbeiten zur Bildungsmetropole Alexandreia die Grundlage für die weitere Beschäftigung mit dieser Thematik bilden. Sie kann damit allen Forschern zum antiken Bildungswesen uneingeschränkt empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Die genaue Lage des Museions ist unsicher, wie Holder betont (S. 208–211). Zur Diskussion um die Lage vgl. auch folgende nicht beachtete Studien: Cécile Orru, Ein Raub der Flammen? Die königliche Bibliothek von Alexandria, in: Wolfram Hoepfner (Hrsg.), Antike Bibliotheken, Mainz am Rhein 2002, S. 31–38; Ada Caruso, Ipotesi di ragionamento sulla localizzazione del Mouseion di Alessandria, in: Archeologia Classica 62 (2011), S. 77–126 (wohl westlich des Kūm ad-Dikka beim Sema); Theodoros Mavrojannis, A study on the monumental center of ancient Alexandria: the identification of the Ptolemaic Mouseion and the urban transformation in Late antiquity, in: Klio 100 (2018), 242–287 (beim Tychaion).
2 Zu Dionysios (S. 107) fehlt der Eintrag aus der (sonst benutzten) Arbeit von Bernadette Puech, Orateurs et sophistes grecs dans les inscriptions d’époque impériale, Paris 2002, S. 229–232, Nr. 98–99.
3 Das Viertel Bruchion wurde eher 270 während der Eroberung der Stadt durch die Truppen Zenobias zerstört, vgl. Udo Hartmann, Das palmyrenische Teilreich, Stuttgart 2001, S. 289–293. Gewinnbringend wäre sicher die Berücksichtigung der wichtigen Studie zu den antiken Museia von Ada Caruso, Mouseia. Tipologie, contesti, significati culturali di un’istituzione sacra (VII–I sec. a.C.), Roma 2016 (zum Museion in Alexandreia S. 65–71 u. 280–297) gewesen.
4 Vgl. Udo Hartmann, Der spätantike Philosoph, Bonn 2018, S. 486 u. 603–611.
5 Bezeugt sind außerhalb des Museions etwa der Aristoteles-Biograph und Mythograph Ptolemaios Chennos, die Platoniker Thrasyllos und Ammonios Sakkas oder der Peripatetiker Heliodoros, den Longinos erwähnt (ap. Porphyr. v. Plot. 20, 35–36). Auch der Geograph, Mathematiker und Philosoph Claudius Ptolemaios wäre sicher eine Betrachtung wert gewesen. Zumindest im frühen 3. Jahrhundert muss es in Alexandreia eine größere Zahl an Philosophielehrern gegeben haben: Caracalla verbot die syssitia der alexandrinischen Peripatetiker (Cass. Dio 77,7,3), und Plotin besuchte mehrere Lehrer, bevor er zum Platoniker Ammonios kam (Porphyr. v. Plot. 3,6–15).
6 Fehler muss man sehr lange suchen: S. 45, Anm. 121 fehlt in der Zitation des Damaskios die Seitenangabe (also: p. 2, Z. 1–7 Zintzen). Unmöglich ist die Datierung S. 341: „Falernus ist durch ein Epigramm auf dem Memnon-Koloss bekannt, den er zwischen 205 n. Chr. und der Restaurierung der Statue unter Commodus besuchte.“

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