B. Krondorfer u.a. (Hrsg.): The Holocaust and Masculinities

Titel
The Holocaust and Masculinities. Critical Inquiries into the Presence and Absence of Men


Herausgeber
Krondorfer, Björn; Creangă, Ovidiu
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
$ 32,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Springmann, Didaktik der Geschichte, Freie Universität Berlin

In der Holocaustforschung hat sich schon lange die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht etabliert, um nicht nur Erfahrungen von Überlebenden des Holocaust zu untersuchen, sondern auch zu fragen, wie und in welcher Weise Geschlecht für das Handeln von Täter:innen konstitutiv war.1 Da die Kategorie Gender immer wieder methodisch und theoretisch neu vermessen wurde, liegen hier inzwischen sehr viele konzeptionelle Vorschläge vor, die weit über eine simple oder auch additive Miteinbeziehung von Frauen in die Forschung hinausgehen. Die Politikwissenschaftlerin Lily Nellans plädierte neulich sogar dafür, dieses Forschungsprogramm zu erweitern und in die Genocide Studies Überlegungen aus der Queer Theory miteinzubeziehen.2 Das Konzept der Heteronormativität würde gerade in Genoziden (und das gilt auch für den Holocaust) in besonderer Weise virulent werden.

Der 2020 erschienene Sammelband „The Holocaust and Masculinities“ steht in einer langen Reihe von Studien, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Fragestellungen von Geschlecht, Sexualität und Holocaust auseinandergesetzt haben. Was kann ein solcher Sammelband also Neues zur bereits bestehenden Forschung beitragen oder wie gar neue Perspektiven eröffnen? Der erste Satz des Sammelbandes lautet: „Masculinities are everywhere in history, but rarely does scholarship investigate critically the experiences of men as gendered beings in relation to the Holocaust.” (S. 1) So richtig er ist, ist er dennoch analytisch zu eng, indem er Männlichkeit mit Männern zusammendenkt und damit Gefahr läuft, essentialistisch zu werden. Ausgeblendet wird, dass Männlichkeit als Konzept durchaus auch für andere Geschlechter zu einem Orientierungspunkt wurde. Diese Reflektion vollzieht der Sammelband, das sei bereits hier gesagt, nicht. In den elf Beiträgen geraten ausschließlich Männer mit ihren Positionen und Handlungsmöglichkeiten in den Blick, seien es Opfer, Täter oder Mitläufer. Queere Erfahrungen oder Erfahrungen von Frauen, die sich am Konzept der Maskulinität orientiert haben, fehlen. Aufgegriffen werden in den Beiträgen des Bandes vor allem subjektive Aneignungen und Erfahrungen in Überlebensberichten oder medialen Berichterstattungen. Abgerundet wird der Band durch einen gehaltvollen Epilog von Thomas Kühne. Der Sammelband ist in zwei Teilen aufgebaut: „Genocide“ und „Aftermath“. Der Herausgeber Björn Krondorfer gibt in seiner Einführung einen ausgezeichneten Überblick über den Stand der Forschung zu Holocaust und Gender.

Wie Subjekte ver- bzw. entgeschlechtlicht wurden, thematisiert Robert Sommer in seinem Beitrag “Masculinity and Death, De- and Resexualization in Nazi Concentration Camps”. Er nimmt dabei die Feststellung von Michel Foucault als Ausgangspunkt, dass die moderne Geschichte von Gefängnisinstitutionen eine Geschichte der Unterdrückung des menschlichen Körpers sei; entsprechend sei das Verbot von Sexualität wichtig für eine Geschichte von Inhaftierung. Obwohl Sexualität in den Lagern streng verboten war, existierte sie in unterschiedlichen Begehrensformen, sowohl als konsensuelle Sexualität als auch bis hin zur sexuellen Sklaverei und Vergewaltigung. Sex haben konnte auch ein Symbol für männliche Macht sein. Lisa Pine konzentriert sich in ihrem Beitrag auf “The Experiences and Behavior of Male Holocaust Victims at Auschwitz”. Dabei würde sich in den Berichten der Erfahrungen männlicher Überlebender immer wieder das Ideal eines unabhängigen und autonomen Subjekts finden. Dennoch würden Männer in ihren Erfahrungsberichten Formen von Sozialität, wie Freundschaften oder eine enge Vater-Sohn-Beziehung, als wichtig für das Überleben in den Lagern beschreiben.

Wie dieses Selbstverständnis eines autonomen Subjekts Narrative prägt, untersucht Monika Rice in ihrem Artikel „Higher Reasons for Sending People to Death? Male Narrativity and Moral Dilemmas in Memoirs and Diaries of Jewish Doctors”. Einerseits seien die Häftlingsärzt:innen für das Retten von Leben verantwortlich gewesen, andererseits mussten sie aber auch bei Selektionen aktiv mitwirken und damit entscheiden, wer leben darf oder wer sterben muss. Auf diesen Befund aufbauend und mit Philippe Lejeunes „Autobiographischem Pakt“ als theoretischer Grundlage, kommt sie zum Ergebnis, dass Männer auch hier vor allem an das Ideal des autonomen und unabhängigen Mannes anknüpften und in ihren Autobiographien immer wieder die Hoffnung stark machten, mit ihrem Tun die Welt zu verbessern (S. 124). Damit würden sie in ihren Egodokumenten, so Monika Rice, die moralischen Herausforderungen thematisieren, deren Last sie zu tragen hätten. Den Gegenpol des männlichen autonomen Subjekts nehmen sicherlich die sogenannten Muselmänner in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ein. Michael Becker und Dennis Bock argumentieren in ihrem Beitrag, „Muselmänner in Nazi Concentration Camps. Thinking Masculinity at the Extremes”, dass diese eine zentrale Rolle für die Herstellung der sozialen Ordnung in den Lagern eingenommen hätten, nämlich als sichtbares Beispiel dafür, wo der Abgrund liegt. Überlebensstrategien zielten, so die beiden Autoren weiter, nicht nur darauf, eine Menschlichkeit zu bewahren, sondern auf die Wahrung einer männlichen Identität (S. 141).

Dass aber auch das autonome männliche Subjekt ein Bonding benötigt, zeigt Edward B. Westermann in seinem Artikel “Tests of Manhood. Alcohol, Sexual Violence, and Killing in the Holocaust”.3 Er interessiert sich für das Zusammenspiel von Gewalt und Alkohol und wie durch Trinkrituale eine Vergemeinschaftung (Bonding) hergestellt wird. Dabei legt er den Fokus auf sexuelle Belästigung und Vergewaltigungen. Sein Resümee, dass das nationalsozialistische Ideal der Hypermaskulinität die Voraussetzung für einen Krieg geschaffen habe, in dem Alkohol, sexuelle Gewalt und Töten zügellos waren, ist genauso wenig überraschend wie die Bemerkung, zahlreiche Frauen mussten für diese zügellose Männlichkeit einen hohen Preis bezahlen (S. 163).

Wie katholische Priesteranwärter den Vernichtungskrieg bewerteten oder beschrieben, untersucht Lauren Faulkner Rossi. Für ihren Beitrag „Catholic Seminarians and Vernichtungskrieg – How Nationalism, Religion, and Masculinity Mattered“ nutzt Rossi eine ausgesprochen interessante Quellengrundlage, nämlich die Korrespondenzen der Seminaristen des katholischen Priesterseminars in Freising (Bayern) mit ihrem Seminarleiter Johann Westermayr (S. 174). Die Themen, die in diesen Briefen auftauchen, sind unter anderem der Glaube als eine Quelle für Stärke und Überzeugung, die Bedingungen an der Ostfront sowie das Verständnis vom Bolschewismus und dem Vernichtungskrieg. Die Autorin konstatiert, dass in den Briefen eine Abwesenheit des Völkermordes, der Grausamkeiten gegenüber jüdischen Menschen, Zivilist:innen oder Kriegsgefangenen auffällt. Ob das aber damit zu tun hat, „that they were mostly immune to the insidious racial aspects of Nazi ideology” (S. 193), ist zweifelhaft. Könnte nicht auch das Gegenteil im Sinne der hohen integrativen Kraft des Nationalsozialismus stimmen? Hier würde sich eine genauere Analyse der Briefe und deren narrativen Strukturen lohnen.

Spätestens hier vermisst die Leserin einen Metatext, einen Kommentar, der die einzelnen Aufsätze in Beziehung zueinander setzt. Denn den zweiten Teil des Sammelbandes, „Aftermath“, eröffnet Benedikt Brunner mit Überlegungen zu „Contested Manhood. Autobiographical Reflections of German Protestant Theologians after World War II”. Auf der Grundlage von 13 Autobiographien von Theologen, die zwischen 1959 und 1977 veröffentlicht wurden, interessiert er sich für die Themen der Selbstrepräsentation und Selbstentschuldigung (self-exculpation). Dabei geht er drei Fragen nach: erstens der Beziehung zwischen Religion und Geschlecht in diesen Texten, zweitens deren Einordnung in den hegemonialen Diskurs und drittens dem Verschwiegenen, den Leerstellen in diesen Texten. Brunner stellt fest, dass in diesen Autobiographien die Aushandlung von Geschlechterwissen und Geschlechterbeziehungen als reguliert, verordnet und überwacht aufscheinen. Topoi von Kameradschaft, Mut und Tapferkeit seien allgegenwärtig. Wie Religion und Theologie Konzepte von Geschlecht, respektive Männlichkeit beeinflusst haben, bedarf – und das zeigen beide Artikel – tatsächlich weiterer Forschungen.

Originell ist der Beitrag von Carson Phillips, “Post-Holocaust Conceptualizations of Masculinity in Austria”. Der Autor widmet sich der Frage, wie “Austrian masculinity defined itself as separate” (S. 222). Ein Problem bei diesem Versuch der Abgrenzung von „Germanness“ lag darin, dass ein Drittel der österreichischen Männer registrierte Nationalsozialisten gewesen waren. Und dennoch manifestierte sich laut Phillips eine spezifische österreichische Männlichkeit, in der die Mittäter- oder auch Komplizenschaft mit dem Nationalsozialismus verschwiegen werden musste. Phillips macht vier paradigmatische Typen aus: den kultivierten Gentleman, den Burschenschaftler, den Fußballspieler und den Erinnerungsaktivisten. Es gelingt ihm zu zeigen, wie jeder dieser Stereotype geprägt ist von der österreichischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Dass das Leben jüdischer Menschen in der Nachkriegszeit vom Holocaust überschattet wurde, wissen wir sowohl aus vielen Erinnerungsberichten als auch Forschungen. Einen eigenen Akzent setzt hier Patrick Farges. In seinem Artikel “Multiple Masculinities among German Jewish Refugees. A Transnational Comparison between Canada and Palestine/Israel“ legt Patrick Farges seinen Fokus auf multiple Maskulinitäten und betont die Prozesse und Relationen innerhalb derer Männlichkeit überhaupt erst hergestellt wurde. Kanada hieß die deutsch-sprechenden jüdischen Flüchtlinge nicht willkommen, bezeichnete sie als „non-preferred immigrants“ und/oder als „enemy aliens“. Eine Immigration nach Palästina wiederum hieß, sich mit dem zionistischen Projekt auseinanderzusetzen (S. 261). Beides hatte Auswirkungen darauf, wie Maskulinität verhandelt wurde. An diese multiplen Männlichkeiten knüpft Sarah Imhoff mit ihrem Beitrag “Redemptive Masculinity: American Images of Jewish Men from the Holocaust to the Six-Day War” insofern an, als sie zeigt, wie in den USA das Bild des jüdischen Mannes medial hergestellt wurde.

Insgesamt fällt auf, dass Konzepte der Geschlechtergeschichte oft nicht bekannt sind. Das ist schade, weil so manliness als Forschungsgegenstand trivialisiert, die Relation mit Kategorien wie race oder Religion oder auch Sexualität zu wenig in die Untersuchungen miteinbezogen werden. Auf den Vorschlag von Krondorfer, den Holocaust durch eine „male-gendered lens“ (S. 18) zu analysieren, antwortet Thomas Kühne in seinem Epilog, dass Männlichkeit als Konzept nicht nur Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen definieren würde, sondern auch Hierarchien unter Männern. Dazu, so möchte ich erweitern, gehört die Berücksichtigung der Kategorien race, Religion oder auch Sexualität. Kühne betont weiter, dass weder die Hypermaskulinität der Täter (und manchmal auch der Täterinnen), noch die Entmännlichung der Opfer, die Unterstützung der Mitläufer:innen noch Männerbünde ohne Frauen existiert hätten, auch dann nicht, wenn Frauen explizit ausgeschlossen wurden. Es lohnt sich also darüber nachzudenken, ob und wie Heteronormativität und Geschlechterbinarität als Voraussetzung und Zentrum für die nationalsozialistische Ideologie stärker in Analysen miteinbezogen werden können. Diese Monita zeigen aber, wie anregend dieser Band ist. Er liefert nicht nur einen guten Überblick zu den Maskulinitäten im Holocaust, sondern wirft auch Perspektiven für weitere Forschungen auf.

Anmerkungen:
1 Gisela Bock (Hrsg.), Genozid und Geschlecht, Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, Frankfurt am Main 2007; Dalia Ofer / Lenore J. Weitzman (Hrsg.), Women in the Holocaust, New Haven 1998; Zoe Waxman, Women in the Holocaust. A Feminist History, Oxford 2017; Christopher Dillon, Dachau and the SS. A Schooling in Violence, Oxford 2015; Themenheft: Masculinity and the Third Reich. Central European History 51/3 (2018); Stephen Haynes, Ordinary Masculinity. Gender Analysis and Holocaust Scholarship, in: Amy E. Randall (Hrsg.), Genocide and Gender in the Twentieth Century. A Comparative Survey, London 2015, S. 15–188.
2 Lily Nellans, A Queer(er) Genocide Studies, in: Genocide Studies and Prevention. An International Journal 14 (2020), S. 48–68.
3 Edward B. Westermann, Drunk on Genocide. Alkohol and Mass Murder in Nazi Germany, Ithaca 2021.

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