Cover
Titel
Exit. Ausstieg und Verweigerung in »offenen« Gesellschaften nach 1945


Herausgeber
Terhoeven, Petra; Weidner, Tobias
Reihe
Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
319 S., 3 Abb.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Templin, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück

Ein Podcast des Südwestrundfunks berichtete im Mai 2020 über die Probleme von „Aussteigern“ in Zeiten der Pandemie: „Überall wird man weggejagt“.1 Die Praxis, auf die sich der Beitrag bezog, zielte auf einen Ausstieg aus der deutschen Leistungsgesellschaft und den Beginn eines angenehmeren Lebens „im Süden“. Dass dieses nun wiederum durch die Pandemie und die Reisebeschränkungen unmöglich gemacht wurde, verweist darauf, dass entsprechende „Ausstiege“ voraussetzungsreich sind und die erhofften „Einstiege“ in neue Lebensrealitäten nicht immer leicht umsetzbar.

Der von Petra Terhoeven und Tobias Weidner herausgegebene Sammelband widmet sich solchen Praxen von „Ausstieg und Verweigerung“ sowie den damit einhergehenden Inszenierungen, Selbst- und Fremdrepräsentationen und medialen Bildern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Terhoeven und Weidner sehen im Typus des Aussteigers eine „zeithistorische Sonde“ (S. 7) und einen „Seismographen für gesellschaftliche Entwicklungen“ (S. 8). Mit Blick auf unterschiedliche Formen von Ausstiegen lasse sich der historische Wandel von Normen, Diskursen und Werten untersuchen und damit verbunden die Frage nach dem Grad an Offenheit „offener“ Gesellschaften und der Akzeptanz nonkonformer Lebensstile und Praxen beantworten. Während diese Ausgangsüberlegungen schlüssig erscheinen, vermag die Ausklammerung „geschlossener Gesellschaften“ mit der Begründung, dass es dort „nur selten Aussteiger“ gegeben habe (S. 9), nicht so recht zu überzeugen, denkt man etwa an jugendliche Szenen in der DDR wie „Blueser“, „Schwarzwohner“ oder Landkommunen, auf die Terhoeven und Weidner in einer Fußnote selbst hinweisen.2

Da die Begriffe Ausstieg und Aussteiger (noch) keine etablierten sozial- oder geschichtswissenschaftlichen Kategorien darstellen, schreiben Terhoeven und Weidner ihrem Band selbst einen explorativen Charakter zu. Herausgekommen ist eine Zusammenstellung von elf Einzelstudien, die das Konzept des Ausstiegs auf anregende Weise diskutieren. Die Beiträge widmen sich ganz unterschiedlichen Phänomenen, von der Kriegsfotografie über die Ehescheidung bis zur Bhagwan-Sekte. Die Erweiterung des Fokus auf Phänomene jenseits der klassischen Drop-outs des linksalternativen Milieus ist einerseits bereichernd, wirft andererseits aber auch Fragen nach der analytischen Schärfe sowie der Ein- und Abgrenzung des Konzepts auf. Terhoeven und Weidner verstehen den Ausstieg als „eine soziale und symbolische Praxis“, „in der sich performative Muster und Narrative [...] verschränkten, die auf einen freiwilligen Bruch mit sozialen Zugehörigkeiten hinauslaufen, aus dem sich wiederum neue Zugehörigkeiten ergeben“ (S. 20; Hervorhebung im Original). Mit dieser weiten Definition dekonstruieren sie zeitgenössische Bilder vom totalen Bruch mit der Gesellschaft zugunsten eines Blicks auf spezifische Praxen des Ausstiegs, die in gesellschaftliche Kontexte eingebettet blieben und neue Bindungen hervorbrachten. Ausstiege seien, so spitzt Weidner diese These zu, immer „temporär und partiell“ (S. 40) sowie eingebunden in ökonomische und mediale Strukturen (S. 57).

Mehrere Beiträge heben in diesem Sinne die Bedeutung von Medialität und Performanz für die Figur des Aussteigers hervor. Insbesondere die Aufsätze von Tobias Weidner und Tilmann Siebeneichner, die sich Kriegsfotografen und Söldnern widmen, betonen das Wechselspiel aus Selbstinszenierung und medialen Konstruktionsprozessen. Kriegsfotografen wie Söldner wurden als Abenteurer porträtiert, was in beiden Fällen durch autobiographische Stilisierungen und Narrative verstärkt wurde. Siebeneichner skizziert in seinem Beitrag zudem die jüngere Entwicklung hin zur Normalisierung des Söldnerwesens in Gestalt des „,seriösen' Militärdienstleisters“ (S. 81).

Trotz dieser Betonung von Selbst- und Fremdbildern verstehen Weidner und Terhoeven Ausstiege nicht nur als diskursive Konstrukte, sondern sehen in ihnen praktische Akte eines freiwillig vollzogenen Bruches. Die Beiträge von Britta-Marie Schenk und Annelie Ramsbrock diskutieren den Aspekt der Freiwilligkeit mit Bezug auf Obdachlose und Strafgefangene als gesellschaftlichen „Randgruppen“, deren „Ausstiege“ man zunächst kaum als selbstgewählt ansehen dürfte. Schenk reflektiert entsprechende Zwänge im Kontext von Obdachlosigkeit, richtet den Blick aber auf eigensinnige Praxen und das Streben nach Selbstbestimmung, das unterschiedliche Gruppen Wohnungsloser im 19. und 20. Jahrhundert ausgezeichnet habe. Ramsbrocks Ansatz, den gesellschaftlichen Umgang mit Inhaftierung als einen „verordneten Ausstieg“ (S. 115) zu untersuchen und an diesem Beispiel das klassische Liberalisierungsparadigma zu diskutieren, steht dagegen deutlich im Widerspruch zur Definition der Herausgeberin und des Herausgebers. Beide Beiträge verweisen aber darauf, dass klare Grenzziehungen zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht immer möglich sind. Für Migrationshistoriker/innen liegt hier die Parallele zur Debatte um „freiwillige“ und „Zwangsmigration“ auf der Hand. Die Flucht vor politischer Verfolgung etwa kann die Wahl einer Exit-Option im Sinne Albert O. Hirschmans und damit in gewisser Hinsicht einen „freiwilligen“ Ausstieg aus einem Konflikt darstellen, wäre aber ohne die Reflexion politischer Zwänge kaum verständlich.

Deutlich freiwilligen Charakter hatten dagegen Praxen der Konsumverweigerung bzw. des „alternativen Konsums“, die seit den 1960er-Jahren vor allem im linksalternativen Milieu populär wurden. Während Alexander Sedlmaier die Haltung der radikalen Linken zu Konsum betrachtet und Ausstieg vor allem als „Etikett“ fasst (S. 207), das in den 1980er-Jahren verstärkte Verbreitung gefunden habe, untersucht Benjamin Möckel sowohl konsumkritische Diskurse als auch alternative Konsumpraktiken. Dabei weist er darauf hin, dass es in der Konsumkritik ein langlebiges Deutungsmuster von Konsum als Ausstieg und Flucht vor der Realität gebe. Paradoxerweise habe die Konsumkritik den Ausstieg aus einer „Konsumgesellschaft“ propagiert, die sie gleichzeitig als hermetisches System gedeutet habe. Alternative Konsumpraktiken seien als „situative Distanzierungen“ (S. 230) zu verstehen, die ungeachtet der Propagierung eines fundamentalen Ausstiegs als „Sehnsuchtsort“ (S. 234) neue Lebens- und Konsumstile beförderten.

„Ausstiege aus dem Ausstieg“ sind im Band wiederholt Thema, etwa in den Beiträgen von Benno Gammerl (zur Landlesbenbewegung um 1980) und Maik Tändler (zur Bhagwan-Bewegung) – im ersten Fall als Ausstieg aus gemischtgeschlechtlichen Strukturen des alternativen Milieus, im zweiten oftmals als Ausstieg aus den Strukturen marxistisch-leninistischer Organisationen. Gammerl beginnt seinen Beitrag mit der Frage, „inwiefern ein Ausstieg aus einer nicht-hegemonialen Position heraus überhaupt möglich ist“ (S. 239), womit er eine neue Perspektive im Band aufmacht. Da Homosexuelle unfreiwillig gesellschaftliche Außenseiter seien, sei zu fragen, inwiefern sie überhaupt das Privileg besäßen, eine anerkannte gesellschaftliche Position zu verlassen. Nichtdestotrotz zeigt Gammerl, wie die „Landlesben“ mit ihrer Flucht aus der Stadt einerseits Teil einer zeitgenössischen Ausstiegsbewegung vieler Linksalternativer waren, damit andererseits aber auch eine Gegenbewegung zur klassischen „Landflucht“ (S. 245) vieler Schwulen und Lesben bildeten. Tändler leitet seinen Beitrag zur Bhagwan-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre mit autobiographischen Verarbeitungen durch Angehörige der „zweiten Generation“ ein, die ihren „Ausstieg aus dem Ausstieg der Eltern“ (S. 263) medienwirksam präsentierten. Nach einem Überblick zum Hintergrund und zur Ausbreitung der Gruppe, den Verbindungslinien zum therapeutischen Boom nach „1968“ und der öffentlichen Wahrnehmung als „Jugendsekte“ (S. 281) verweist Tändler auf den Charakter des „Bhagwan-Unternehmens“ als global agierender, finanzstarker Organisation. Damit zeigt er, wie sich der spirituelle Ausstieg vieler Linksalternativer „als eines jener zahlreichen avantgardistischen Experimentierfelder des ,unternehmerischen Selbst'“ entpuppte (S. 287) und damit den Einstieg nicht nur in neue Lebensstilpraktiken, sondern auch in neue Geschäftsmodelle darstellte.

Nach der zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung nonkonformer Praxen fragen die Beiträge von Monika Wienfort (zu Ehescheidungen), Lena Elisa Freitag (zu Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst) sowie Yvonne Robel (zum Nichtstun). Wienfort zählt die Scheidung zu den „temporären und situativen Ausstiege[n] großer Minderheiten“ (S. 134). Mit Blick auf entsprechende Gerichtsverhandlungen sei sie weniger als radikaler Bruch denn als Aushandlungsprozess zu fassen. Im Unterschied zu den Motiven von Abenteuer und Sehnsucht, bei denen Ausstieg als Verwirklichung eines Lebenstraums erscheine, seien im Fall von Scheidungen Motive der Enttäuschung und des Schlussstriches dominant. Den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der Kriegsdienstverweigerung analysiert Freitag in ihrem Beitrag für Westdeutschland und Österreich in den 1950er- bis 1980er-Jahren. Die Selbstwahrnehmung der Verweigerer schwankte zwischen einem bewussten Ausstieg aus der Wehrpflicht und einer unfreiwillig erfahrenen Degradierung zu Außenseitern. So wie Wienfort eine Zunahme gesellschaftlicher Akzeptanz und damit eine Normalisierung der Scheidung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatiert, betont Freitag die Aufwertung des alternativ abzuleistenden Zivildienstes. In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich dieser zu einer „tragenden Säule im [...] Sozialsystem“ (S. 171f.), was auch Auswirkungen auf gesellschaftliche Männlichkeitsbilder hatte. Vergleichbaren Verschiebungen geht Robel mit Blick auf mediale Deutungen des „Nichtstuns“ seit den 1960er-Jahren nach. Dabei konstatiert sie einen Wandel vom Motiv der passiven Abweichung (exemplarisch mit Blick auf die „Gammler“) hin zum Typus des kreativen Müßiggängers, dessen temporärer Ausstieg der Regeneration, aber auch der Arbeit an der eigenen Selbstverwirklichung diene.

Solche Beobachtungen legen die These nahe, dass spezifische Formen des Ausstiegs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Teil neuer Subjektivierungsweisen nicht nur zunehmende gesellschaftliche Anerkennung erlangten, sondern auch zu medial vermittelten Leitbildern aufstiegen. Petra Terhoeven und Tobias Weidner deuten dies in der Einleitung an. Letztlich vermisst man aber eine Synthese, die die Frage nach dem Status vielfältiger „Ausstiege“ für den gesellschaftlichen Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beantwortet und damit jenseits einer formalen Definition auch eine inhaltliche Klammer für die zum Teil disparaten Fallbeispiele bietet. Das tut dem positiven Eindruck des Bandes aber keinen Abbruch, verweist es doch auf dessen explorativen Charakter, der neben profunden Fallstudien auch spannende konzeptionelle Anregungen bietet. So ließe sich der Begriff des Ausstiegs auf weitere Felder anwenden – beispielsweise den Bereich der Arbeitswelten, denkt man etwa an die in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Pflexit“ diskutierte Flucht vieler Beschäftigter aus Pflegeberufen und mögliche historische Parallelen. Auch die Frage nach den Geschlechterdimensionen von Ausstiegen, die im Band nur an einzelnen Stellen explizit thematisiert wird, bietet reichlich Stoff für künftige Forschungen.

Anmerkungen:
1 Maren Huber / Andreas Böhnisch, Weltenbummler in Corona-Zeiten. Überall wird man weggejagt, 28.05.2020, https://www.swr.de/swraktuell/radio/weltenbummler-in-corona-zeiten-ueberall-wird-man-weggejagt-100.html (05.01.2021).
2 Vgl. neben der dort genannten Literatur z.B. auch Rebecca Menzel, „Muddling through“. Die Provinz als systemspezifischer Möglichkeitsraum alternativer Lebensmodelle in der Bundesrepublik und der DDR nach ,1968', in: Lu Seegers (Hrsg.), 1968. Gesellschaftliche Auswirkungen auf dem Lande, Göttingen 2020, S. 283–308; Udo Grashoff, Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011.